Themen / Bioethik / Selbstbestimmtes Sterben

Grenzen der Inten­siv­me­dizin

16. Dezember 1978

Joachim Schara

aus: vorgänge 36 (Heft 6/1978), S. 65-73

Technische Errun­gen­schaften ermöglichen Sterbens­ver­län­ge­rung

Die moderne Medizin wird im Grenzbereich des Sterbens zunehmend bestimmt von technischen Möglichkeiten, Leben, auch in seiner äußersten Bedrohung infolge ausgefallener lebenswichtiger Körperfunktionen, zu erhalten. Technische Errungenschaften sind wertfrei. Sie ermöglichen eine Lebensverlängerung auch dann, wenn diese, bezogen auf die unbehandelbare Grundkrankheit, einer Sterbensverlängerung gleichkommt. In der Sterbensverlängerung wird aber der todgeweihte Mensch um sein Recht auf den eigenen Tod gebracht und in seiner menschlichen Würde verletzt.

Moderne Inten­siv­me­dizin

Diese Entwicklung zeigt sich besonders deutlich in der modernen Intensiv- Medizin. Intensivmedizin umfasst Behandlung, Überwachung und Pflege von Patienten, bei denen die für das Leben notwendigen sogenannten vitalen – oder elementaren – Funktionen von Atmung, Kreislauf, Homöostase (das ist Aufrechterhalten einer optimalen Zusammensetzung der Körperflüssigkeiten) – und Stoffwechsel lebensgefährlich bedroht oder gestört sind, mit dem Ziel, diese Funktionen zu erhalten, wiederherzustellen oder zu ersetzen, um Zeit für die Behandlung des Grundleidens zu gewinnen.
Die Techniken, mit denen der Intensivmediziner zum Wohle seines Patienten arbeitet, sind zum großen Teile invasiv, dh sie dringen in den Körper des Patienten ein, sie versehren ihn. Im allgemeinen sind sie desto invasiver, je wirksamer sie sind. Das gilt nicht nur für Behandlungstechniken sondern auch für Überwachungstechniken.

Intensiv Techniken

Intensivtechniken sind: die künstliche maschinelle Beatmung, die Überwachung von Atmung, Kreislauf, Temperatur, Säure -Basen- Haus halt und Stoffwechsel, der Einsatz sogenannter technischer Medikamente (das sind Medikamente, die nur durch hohen technischen Einsatz herzustellen sind, also teure Medikamente), die Hämo- und Peritonealdialyse, Massivtransfusionen und Austauschtransfusionen, die Extrakorporale Oxygenation mit Membranoxygenatoren (dh. die Beladung des Blutes mit Sauerstoff außerhalb des Körpers), die assistierte Zirkulation mit in die Hauptschlagader, die Aorta, eingesetzten Ballonpumpen, das temporäre künstliche Herz und schließlich die Herz-Lungen-Wiederbelebung, deren Technik jedem Autofahrer und erst recht jedem Arzt geläufig sind oder doch sein sollten.

Sterbens­ver­län­ge­rung oft mit Qualen verbunden

Der Einsatz dieser eingreifenden therapeutischen und diagnostischen Möglichkeiten hat es mitsichtgebracht, dass viele Patienten, die noch vor fünfzehn Jahren aufgrund ihrer Erkrankung oder ihres Unfalls, infolge des Ausfalls lebensnotwendiger Körperfunktionen dem sicheren Tod geweiht waren, heute überleben und neu weiterleben können. Er hat es aber auch mitsichtgebracht, dass viele Patienten, deren Lebensuhr nach alten Maßstäben abgelaufen war, am Weiterleben, richtiger: am Sterben, gehindert werden können. Dabei bringt der Einsatz so vieler Techniken, die ständige Manipulation an und mit dem Patienten es mit sich, dass nicht nur die Lebensverlängerung, sondern auch die Sterbensverlängerung häufig mit Qualen verbunden sind.

Inten­siv­the­rapie auch ein psycho­lo­gi­sches Problem

Ich muss hier aber darauf aufmerksam machen, dass sich das Gefühl, Intensivtherapie bedeute Qual für den Patienten, im wesentlichen nur dem Zuschauer stellt, besonders dem Angehörigen und dem, der so wenig krank ist, dass er Intensivtherapie im Grunde nicht braucht. Der wahrhaft Kranke hat auch bei der Intensivtherapie nur das Gefühl, dass ihm geholfen wird, und die Patienten in extremer Bedrohung und die Sterbenden sind ohnehin meist ohne Bewusstsein. Die Ansicht von der Intensivtherapie ist nicht zuletzt auch ein psychologisches Problem.

Die Faszination des technisch Machbaren

Das Auswuchern der Technik, bei der der Patient, der Mensch, von Schläuchen, Drähten, Überwachungs- und Beatmungsgeräten schier erdrückt wird, unter denen er zum Teil gar nicht mehr zu sehen, im übertragenen Sinne gar nicht mehr als Mensch wahrzunehmen ist, führt nur zu leicht dazu, dass sich auch das Patient – Arzt – Verhältnis bei solcher Therapie spürbar verändert, dass auch der Arzt immer mehr der Faszination des technisch Machbaren verfällt, und der Patient als ein patiens, als ein Leidender, vor der Aufgabe, sein Leben mit allen Mitteln zu erhalten, nicht mehr gesehen wird. Der Einsatz so vieler lebensverlängernder Techniken führt nur zu häufig zu einer Degradierung des Patienten zum Fall, zur Nummer, ja zur Aufgabe, an der sich der Therapeut als „Könner” bestätigen kann. So sinnvoll der Einsatz der medizinischen Techniken bei Patienten ist, die dadurch dem Weiterleben in Gesundheit zurückgegeben werden, so fragwürdig wird dieser Einsatz dort, wo eine Lebensverlängerung nicht mehr möglich und vielleicht auch dort, wo nur noch eine quantitative und keine qualitative Lebensverlängerung mehr möglich ist.

Leben erhalten oder Leiden mindern?

Betrifft dieser Einsatz aller Mittel, diese Auffassung, das heute technisch Machbare auch in jedem Falle anzuwenden, einen ohnehin todgeweihter Patienten, so muss diese Einstellung am ärztlichen Auftrag (wie er in de Berufsordnung für die deutschen Ärzte niedergelegt ist) nämlich: neben den Aufgaben Leben zu erhalten, Gesundheit zu schützen und wiederherzustellen, auch Leiden zu mindern, vorbeigehen. Ist nämlich Leben nicht zu erhalten, Gesundheit nicht wiederherzustellen, so ist die höchste Aufgabe des Arztes, das Leiden zu mindern.
Natürlich liegt die Schwierigkeit darin, zu wissen, wann Leben nicht mehr zu erhalten ist. Angesichts der Tatsache, dass Erfahrung im Biologischen nur Erfahrungen statistischer Gesetzmäßigkeiten sind, die für den Einzelfall sehr wenig aussagen, wird die Entscheidung, wann das Gebot, Leiden zu mildern, vorrangig ist vor dem, das Leben zu erhalten, zur größten Problematik der Intensivtherapie.

Behandlung um jeden Preis entwürdigt den Patienten

Die Behandlung um jeden Preis, der gedankenlose Einsatz aller technischer Mittel, hindert den Patienten am Sterben und zwar auch dann, wenn das Sterben vom Sterbenden her nicht als simples organisches Verlöschen, sondern im positiven, existentiellen Sinne als Abschluss eines erfüllten Lebens zu sehen ist. So nimmt eine falsch verstandene Intensivtherapie dem Patienten das Recht auf seinen Tod und entwürdigt seine Persönlichkeit.
Aus der hier aufgezeigten Problematik wird klar, dass die populäre Ansicht, der Arzt müsse in erster Linie alles tun, um Leben zu erhalten, und das hieße für den Intensivtherapeuten: alle seine technischen Möglichkeiten einsetzen bis zum Eintritt des Hirntodes, so nicht gelten kann.

Drei Forderungen

Es ergeben sich drei Forderungen: Drei Forderungen

  1. Das Handeln des Arztes wird bisher vor allem geprägt von der Ehrfurcht vor dem Leben. Aber die Ehrfurcht vor dem Leben muss durch die Ehrfurcht vor dem Sterben ergänzt werden.
  2. Daher ist auch das heute weithin akzeptierte Recht auf menschenwürdiges Leben durch ein Recht auf menschenwürdiges Sterben zu ergänzen.
  3. Darüber hinaus müssen wir Ärzte Überlegungen anstellen, was wir von dem, was heute medizinisch-technisch machbar ist, auch humanitär-ärztlich, also menschlich, noch verantworten können.

Ökonomische Grenzen der Inten­siv­me­dizin noch nicht erreicht

Noch sind die ökonomischen Grenzen der Intensivmedizin nicht erreicht. Die Intensivtherapie allein beeinflusst die Kostenexplosion in der Medizin nur minimal. Nur 3 bis 5 % aller Krankenhausbetten sind Intensivbetten, sodass selbst die übrigens nur selten erreichten Pflegekostensätze von 1000 bis 1500 DM pro Tag für Intensivpatienten in unseren Gesamtaufwendungen für Gesundheit nur wenig zu Buche schlagen. Das Übel der Kostenexplosion liegt auf dem Weg, den die Medizin heute zur technischen Perfektionierung eingeschlagen hat und dem Weg der Verbraucher hin zur Verteilungsgesellschaft. Eine Nutzen-Kosten-Analyse der Intensivtherapie würde sehr wahrscheinlich einen Überschuss an Nutzen ergeben, ähnlich wie in der Notfallmedizin jeder der besonders kostenintensiven Rettungshubschrauber pro Jahr das zehnfache seines Aufwandes durch Rettung von Menschenleben und Abwendung von Invalidität wieder einspielt. Es ist auch kein Zweifel, dass die Vorhalt-Kosten für die Intensivmedizin rechtens sind und dass die Intensivmedizin notwendig ist für alle die, die ein Weiterleben in völliger Gesundheit erreichen können.

Probleme der Behand­lungs­aus­wahl

Zur Problematik der ökonomischen Grenzen gehören die Fragen der Behandlungsauswahl bei Patienten, für die, aus welchen Gründen auch immer, ausreichende Behandlungsmöglichkeiten nicht zur Verfügung stehen. Bekannt, aber nie in breiter Öffentlichkeit diskutiert wurde das Problem in Zusammenhang mit der Einführung der künstlichen Niere, als wegen anfangs fehlender Dialyseplätze nur einem Bruchteil der Patienten, die behandelbar waren, damit das Leben gerettet werden konnte.

Ist Leben gleich Leben?

Für die Intensivtherapie Beatmung hat kürzlich R. Zimmermann aus juristischer Sicht ein fiktives Beispiel diskutiert: Auf eine Intensivstation, auf der mit dem einzigen zur Verfügung stehenden Beatmungsgerät ein 70-jähriger Patient beatmet wird, kommt eine 30-jährige Mutter von mehreren Kindern, die ebenfalls zur Erhaltung ihres Lebens beatmet werden muss. Die Mutter, so Zimmermann, dürfe dann nicht auf kosten des bereits behandelten alten Mannes behandelt werden, weil Leben und Leben als prinzipiell gleichrangige und absolut höchstwertige Rechtsgüter nicht rechtfertigend gegeneinander abgewogen werden können.

Abwägung des Erfolgs notwendig

Hier werden wir Ärzte widersprechen müssen. Leben ist nur prinzipiell gleich Leben. Für den praktischen Therapeuten geht in die Behandlungsüberlegung immer der mögliche Behandlungserfolg wertend mit ein. Jede Therapie wird abgewogen in ihrem möglichen Erfolg gegenüber ihren möglichen Nachteilen und Risiken. Jedoch nicht der Wert eines Kranken kann Maßstab sein, denn da liegt immer Gleichwertigkeit vor, sondern dessen Restitutionsfähigkeit, dessen Heilungsaussicht.

Auswahl nach Überlebens- und Heilungs­chancen

Überdeutlich wird der Selektionsvorgang, der vom Arzt ständig verlangt wird, allerdings nur dann, wenn mehrere Kranke gleichzeitig zur Versorgung anstehen, die vorhandenen Mittel aber nicht zur Versorgung aller ausreichen, z.B. im Katastrophen all. Hier erlaubt auch der Jurist dem Arzt die Auswahl nach Überlebens- bzw. Heilungschancen. Der schon behandelte alte Mann und die junge zur Behandlung anstehende Mutter sind aber nicht anders zu bewerten, eben weil die Wertung in jedem Fall nie die Gleichwertigkeit von Leben und Leben oder Person und Person infragestellt, sondern nur die Wahrscheinlichkeit des größeren Behandlungserfolges betrifft.

Die biolo­gi­schen Grenzen

Aus diesen Überlegungen wird deutlich, dass die Grenzen der Intensiv Medizin ganz wesentlich von biologischen Gegebenheiten bestimmt wer den. Die Grenzen betreffen die Behandlungsfähigkeit. Unserer Therapie sind nicht so sehr technische Grenzen gesetzt, sondern der kranke Organismus setzt sie uns. Es sind biologische Grenzen.

Biolo­gi­sches Alter vorrangig vor dem zeitlichen Alter

Die Grenzen der Behandlungsfähigkeit werden vor allem gesetzt durch das Alter. Die Restitutionskraft des Organismus nimmt mit zunehmendem Alter sehr schnell ab. Da der Alterungsprozess aber individuell verschieden schnell abläuft, wenn auch in relativ engen zeitlichen Grenzen, ist biologisches Alter vorrangig vor dem zeitlichen. Diesem Alterungsprozess sind alle Organsysteme in gleicher Weise unterworfen, nicht nur dasjenige, das – etwa aufgrund seines Alters akut erkrankt ist und die Behandlung überhaupt erst erforderlich macht.

Die nicht direkt betroffenen Organ­sys­teme

Natürlich ist Alter für sich kein Grund für die Bewertung der Behandlungsfähigkeit, aber es geht im Zusammenhang mit anderen Faktoren in die Bewertung ein. Von denen ist der nächstwichtigste Faktor die Beschaffenheit der Organsysteme, die nicht unmittelbar von der Krankheit betroffen sind, insbesondere die Organsysteme von Kreislauf und Atmung. Das ausgefallene Organsystem Lunge, z.B. die chronische respiratorische Insuffizienz im Endzustand, führt für sich trotz aller Intensivtherapie, trotz langdauernder, teurer und eventuell qualvoller Beatmung unaufhaltsam zum Tode. Eine allgemeine hochgradige Arteriosklerose beschränkt die Lebenserwartung in Zusammenhang mit einer anderen Krankheit entschieden. Vor allem aber bestimmen auch Art und Schwere der Grundkrankheit, also die eigentlich zur Behandlung anstehende Krankheit, die Grenzen der Behandlungsfähigkeit.

Juristische Grenzen

Der Tod begrenzt jede Behandlung. Als ausreichende Todesgewissheit gilt heute schon der Nachweis des irreversiblen Ausfalls des Gesamthirns, also der „Partialtod” des Gehirns. Auf den „Totaltod”, das Sistieren sämtlicher Lebensvorgänge, braucht nicht mehr gewartet zu werden. Dies ist wichtig für alle beatmeten Patienten insbesondere nach schwerem Schädel-Hirn-Trauma und nach schwerer intracranieller Blutung aus anderer Ursache.

Einwil­li­gung des Patienten unerläss­lich

Die Behandlung des Arztes ist auch in der Intensivmedizin an die Patienten zur Behandlung gebunden. Versagt der Patient seine
Einwilligung, so erfüllt jeder Eingriff den Tatbestand der Körperverletzung. Einwilligung wie auch Versagen der Einwilligung muss aus freiem Willen erfolgen. Aber B. Sporken hat in anderem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass Zustimmung noch keine freie Entscheidung sei. Man kann immer nur insoweit zustimmen, wie einem Entscheidungsgründe bekannt sind. Im Zusammenhang mit Fragen, deren Antwort Leben oder Tod bedeuten, müssen wir entschieden strengere Anforderungen an unsere Patienten-Aufklärung legen.

Mangelhafte Patien­ten­-Auf­klä­rung

Unsere jetzt noch weit verbreiteten Praktiken, bei denen man Patienten lediglich sagt, was man mit ihm vorhabe, nicht aber die Gründe für die Behandlungsentscheidung offen legt, mit der Aufforderung, der Patient möge ruhig fragen, wenn er noch Fragen habe, sind unwürdig. Was soll ein Patient denn fragen, der von den Schwierigkeiten des Entscheidungsprozesses im Abwägen der Behandlungsmöglichkeiten angesichts der Vielzahl entscheidungsbeeinflussender Gegebenheiten nichts weiß. Gegebenheiten wie: der Grad der Notwendigkeit und Dringlichkeit der ärztlichen Hilfe, das Ausmaß und die Dauer der Wirksamkeit der infragegestellten Behandlungsmethode und etwaige negative Nebenwirkungen davon, aber auch sein Zustand, körperlich und geistig, sein Alter, auch die Größe des Aufwandes im Vergleich zum Nutzen, sein Wunsch, der Wunsch seiner Angehörigen, seine soziale Situation (in welches Leben wird er denn entlassen und wie wird er dahinein entlassen, falls er geheilt wird), welche Hilfen, sein Leben zu leben, bleiben ihm mit und welche ohne Behandlung.

Frühere Willens­er­klä­rungen des Patienten für den Arzt nicht bindend

Der Wille des urteilsfähigen Patienten, der über die Erkrankung, deren Behandlung, die damit verbundenen Erfolgsaussichten und Risiken aufgeklärt worden ist, bindet den Arzt. Andererseits wird aber immer wieder darauf hingewiesen, dass es nahezu unmöglich sei festzustellen, ob einer Eingriffsverweigerung ein freier und verantwortlicher Wille zugrunde liege. Ein vorabgefasster Wille (in gesunden Tagen im Vollbesitz der geistigen Kräfte abgefasst), also eine frühere Willenserklärung in juristisch noch so einwandfreier Form, die bei einem bewusstlosen Patienten gefunden wird, bindet den Arzt jedoch nicht. Früher getroffene Entscheidungen sind deshalb nicht rechtskräftig, weil sie jederzeit widerrufen werden können.

Der gegen­wär­tige mutmaßliche Wille des Patienten ist entschei­dend

Entscheidend ist dann der gegenwärtige mutmaßliche Wille, der nur aufgrund einer sorgfältigen Abwägung aller Umstände des Falles gefunden werden kann. Soweit müsste stets danach gefragt werden, ob der Patient die Erklärung im gegenwärtigen Augenblick vernünftigerweise widerrufen würde oder nicht. Die frühere Willenserklärung kann aber als wesentlicher Anhaltspunkt für die Annahme einer mutmaßlichen Einwilligung dienen. Auch Angehörige können den mutmaßlichen Willen des Patienten erläutern. Sie können dem Arzt jedoch sein Handeln nicht vorschreiben.

Die Rolle der Angehörigen

Genauso wie der Arzt den Patienten nicht behandeln kann, solange er ihn nicht zur Behandlung übergeben worden ist, können Angehörige den Arzt die Behandlungsmöglichkeit nehmen dadurch, dass sie den Patienten aus dessen Behandlungsumkreis entfernen und den Patienten aus den Krankenhaus, aus der Intensivstation, beispielsweise wieder Nachhaus und in die Obhut des Hausarztes verbringen.
Es muss hierbei jedoch bedacht werden, dass bei Notfällen – und jeder Intensivpatient stellt insofern einen Notfall dar – jeder, auch der Nichtarzt, nach § 333 c StGB zur allgemeinen Hilfeleistung verpflichtet ist und sich bei vorsätzlichem Unterlassen der Hilfeleistung strafbar macht. Hierbei ist unerheblich, ob das pflichtgemäße Verhalten den Hilfsbedürftigen hätte retten können. Aber ebenso wie der Arzt beim bewusstlosen Patienten in seiner Geschäftsführung ohne Auftrag zuallererst einmal Hilfe zum Leben leisten muss, darf – so meine ich – der Angehörige, in seiner gewiss kenntnisreicheren Bewertung des Patientenwunsches Hilfe im Sterben leisten, indem er den Angehörigen dem sich zur Lebensverlängerung verpflichtet vermeidenden Arzt entzieht.

Ethische Grenzen

Dem griechischen Arzt war es verboten, Patienten mit infauster Prognose zu behandeln. Heutige Berufsordnungen, so auch noch die soeben in Kraft getretene Berufsordnung für die nordrheinischen Ärzte fordern vom Arzt das Leben zu erhalten, die Gesundheit zu schützen und wiederherzustellen, sowie Leiden zu lindern.

Ehrfurcht vor dem Sterben

Unser überkommenes Sittengesetz wird noch immer bestimmt von der Ehrfurcht vor dem Leben. Der Tübinger Moraltheologe Auer hat an anderem Ort gesagt, dass eine ethische Norm dann sinnvoll ist, wenn sie geeignet erscheint, menschliche Freiheit und Würde zu entfalten. Ich meine, die Ehrfurcht vor dem Leben alleine genügt dafür nicht. Es muss die Ehrfurcht vor dem Sterben dazukommen.

Lebens­ver­län­ge­rung kann die Menschen­würde verletzen

Wenn es in den Forderungen der ethischen Norm um die Menschlichkeit geht, so kann damit nicht das Mitleid gemeint sein, sondern die Forderung, unser Handeln auszurichten auf die Ehrfurcht vor der Persönlichkeit des Menschen, auf seine Würde. „Die Menschenwürde ist dann verletzt, wenn einem schwer leidenden Patienten gegen seinen Willen durch Anwendung medizinischer Mittel eine Pflicht zum Leben aufgezwungen wird. Sie ist es aber auch dann, wenn ein Mensch, der zu keiner Willensäußerung mehr fähig ist, zum Objekt medizinischer Möglichkeiten herabgewürdigt wird. Diese Betrachtungsweise – so schreibt Frau Trube-Becker – zwingt zu dem Schluss, dass in solchen Fällen eine Lebensverlängerung nicht geboten sein kann, selbst wenn diese von den Angehörigen des Sterbenden verlangt wird.

Das Gesamtwohl des Patienten als Maßstab für den Arzt

Die Erhaltung des Lebens um jeden Preis, kann nicht höchstes Ziel ärztlicher Behandlung sein. Leben hat nicht nur Bedeutung in seiner Quantität, sondern auch in seiner Qualität. Sein Wert kann nur im Zusammenhang mit anderen existentiellen Werten und Bedürfnissen des Menschen, mit seiner Freiheit, mit seiner Würde, seiner Selbstverwirklichung, gesehen werden. Leben kann auch nicht gesehen werden ohne die ihm seinsmäßig immanente Endlichkeit. Unsere Therapie hat sich immer am Gesamtwohl des Patienten zu orientieren.

Praktische Grenzen

Wie H. Menzel kürzlich an einer Reihe eindrucksvoller Kasuistiken aus der Intensivtherapie gezeigt hat, liegen die Grenzen des noch Erreichbaren und nicht mehr zu Erreichenden in der Intensivtherapie so eng beieinander, dass sie in vielen Fällen nur retrospektiv erkannt werden können. Jeder Patient stellt ein Einzelschicksal dar, für den im nachhinein nur der effektive Ausgang Bedeutung hat, nicht die statistische Wahrscheinlichkeit des Ausgangs.

Inten­siv­the­rapie als Resti­tu­ti­ons­hilfe

Es ist unstreitig, dass immer dann alle uns zur Verfügung stehenden Therapiemöglichkeiten eingesetzt werden müssen, solange noch Ungewissheit über den Ausgang der Krankheit besteht. Der bewusstlos in die Intensivstation eingelieferte Patient muss sofort behandelt werden, dies mit allen Möglichkeiten der technischen Medizin. Bei der Mehrheit unserer Intensivpatienten lässt sich erst durch den Behandlungsversuch klären, ob bei ausgefallenen Vitalfunktionen der kranke Organismus zu einer Restitution der Funktionen in der Lage ist. Intensivtherapie ist also nur zu sehen als Hilfe für den Organismus, seine Organfunktionen zu restituieren. Ist diese Restitution nicht mehr möglich, was sich meist schon innerhalb kurzer Behandlungszeiten zeigt, so ist Intensivtherapie nicht nur nicht geboten, sondern nicht mehr erlaubt.

Normthe­rapie und Maximal­the­rapie

So muss sich die Therapie auf unseren Intensivstationen als Stufentherapie darstellen, in deren Mittelpunkt die Normtherapie steht, um vitale Funktionen zu erhalten. Das ist die Therapie, die auch auf jeder Allgemeinstation angewandt würde. Sind die vitalen Funktionen durch nur norm-therapeutische Bemühungen nicht zu erhalten, so werden die besonders eingreifenden und aufwendigen therapeutischen Möglichkeiten der Maximaltherapie eingesetzt, sofern sie (möglicherweise auch durch zeitweiligen Ersatz vitaler Funktionen) zu einer Wiederherstellung der Eigenfunktion führen können.

Die Minimal­the­rapie

Ist die Möglichkeit der Wiederherstellung der vitalen Funktionen von vornherein nicht gegeben, beispielsweise bei einem aufgrund einer Krebskrankheit moribunden Patienten, so ist auch die Anwendung maximaltherapeutischer Möglichkeiten nicht angezeigt. Im Gegenteil, sind bei einem solchen Patienten auch normtherapeutische Maßnahmen nicht aus-reichend, die vitalen Funktionen zu erhalten, so scheint mir aus humanitären Erwägungen die Rückstufung der Therapie auf die Minimaltherapie, die sogenannte humanitäre Therapie, notwendig. Sie soll nur noch Schmerzen lindern, Durst und eventuelle Atemnot nehmen. Eine Höherstufung bzw. Rückstufung der therapeutischen Bemühungen ist nur abhängig zu machen von dem Erfolg, mit dem der Organismus auf die angewandte Therapiestufe antwortet, also inwieweit er seine Restitutionskraft zeigt. Die Entscheidung, welche Therapiestufe angewandt werden muss, kann dabei nicht dem jungen Assistenzarzt, kann sicherlich nicht den Pflegekräften überlassen bleiben, sie muss von einem Gremium erfahrener Ärzte, die jeden Einzelfall als Individualfall überdenken, getroffen werden.

Absoluter Vorrang der Schmerz­lin­de­rung

Ist der Arzt nicht mehr fähig, den Tod abzuwenden, so muss er das Leiden des Patienten lindern und ihm helfen. Der Arzt ist aus seiner
Garantenpflicht heraus, seinem Patienten die bestmögliche Hilfe angedeihen zu lassen, auch verpflichtet, ihm dann auch das Sterben zu erleichtern. Nach höchstrichterlicher Rechtssprechung hat dabei die Schmerzlinderung absoluten Vorrang vor allen anderen Formen der Sterbehilfe. Sie ist selbst dann erforderlich, wenn sie mit einem lebensverkürzenden Risiko verbunden ist. „Da es in unserer Rechtsordnung bisher weder ein Recht auf den Tod noch auf Tötungshilfe gibt, kommt dem Sterbenlassen durch Verzicht bzw. Abbau von lebensverlängernden Maßnahmen um so größere Bedeutung zu, besonders dann, wenn diese lebensverlängernden Maßnahmen mit Qualen verbunden sind” (A. Eser).

Für den Todkranken da sein

Dem Todkranken helfen bedeutet aber auch, ihn nicht allein lassen, und gerade hier sind wir Intensivtherapieärzte und sind insbesondere die Intensivstationen überfordert. Auf diesen Stationen ist häufig weder Zeit für den Mitmenschen noch, wegen oft unsinniger oder doch zu strenger Hygiene-Vorschriften, Besuchsmöglichkeit für Angehörige und Freunde oder auch für den Pfarrer gegeben. Dem Todkranken helfen bedeutet aber vor allem, für ihn da sein, bei ihm sein. Aus vielen Berichten schwer-kranker Intensivbehandelter wissen wir, dass die bloße Anwesenheit von jemandem, der ihm in gesunden Tagen nahegestanden hat, genügt, um ihm Ruhe und Mut zu geben und die Angst zu nehmen in seiner Krankheit.

Wer dies bedenkt, muss zu der Überzeugung kommen, dass die Minimaltherapie im Grunde keine Therapie für die Intensivstation ist, ja nicht einmal für die Allgemeinstation, und wir alle wären, wenn wir sterben müssen, besser dran, wenn wir, wie unsere Großeltern, im Kreis der Familie sterben dürften. Doch die Zeiten sind nicht mehr danach.

nach oben