Beitragsbild Alternativen zur repressiven Kriminalpolitik
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Alter­na­tiven zur repressiven Krimi­nal­po­litik

30. August 2020
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Gegen die Krimi­nal­po­litik mit der Angst

Verlagsbeilage der Humanistischen Union in der tageszeitung (taz) vom September 1998 (Redaktion: Roland Otte)

 

von Helga Cremer-Schäfer

Alternativen zur Strafrechtspolitik werden oft einfach als jene Varianten des „Kampfes gegen das Verbrechen“ präsentiert, die „früher“ beginnen oder „sanfte Kontrolle“ und Sozialarbeit einsetzen. Um zu wirklichen Alternativen zu gelangen, müßte jedoch grundsätzlicher angesetzt werden. Ein erster Schritt wäre, das Vokabular von „Kriminalität“ durch eine konkretere Sprache des Nachdenkens über soziale Konflikte und Schadensereignisse zu ersetzen.

Konflikte, Schadensereignisse und andere schwierige Situationen sind Nebenfolgen der normalen Funktionsweise von Institutionen, die die vorherrschende Arbeits- und Lebensweise abstützen. So sichert z.B. die „private Familie“ soziale Reproduktion und Intimität. Als ein partiarchales Herrschaftsverhältnis kann sie auch zum Ort für gewalttätige Übergriffe auf Frauen und Kinder werden. Ereignisse, die als Kriminalität angezeigt werden, stehen in einem engen Zusammenhang mit den Institutionen des privaten Eigentums (und seiner öffentlichen Sicherung) und des Marktes. Fehlende Möglichkeiten, etwa über den Arbeitsmarkt am gesellschaftlichen Reichtum teilzuhaben, schaffen soziale Ausschließungen und verschärfen Konflikte. Zu den Folgen gehören bizarre Überlebensstrategien, Rücksichtslosigkeit und Kampf, illegale Ökonomien und Konflikte um die Nutzung sozialer Räume. Diese Konflikte erfordern eine zivile Regulierung, können aber nicht durch Kriminalpolitik aus der Welt geschafft werden. Eine alternative Kriminalpolitik kann jedoch die Grenzen kriminalisierender und strafender staatlicher Interventionen benennen und Konflikte durch Entkriminalisierung, Konfliktregulierung und eine situationsbezogene Prävention bearbeiten.

Chancen für Entkri­mi­na­li­sie­rung

… werden vertan, wenn Politiker und Politikerinnen sich in kriegerischer Pose als „Verbrechensbekämpfer“ oder wenigstens „kompetente Sicherheitspolitikerinnen“ übertreffen wollen. Um so notwendiger ist es, an einen liberalen Konsens zu erinnern. Danach gehört zur Rechtsstaatlichkeit, das Strafrecht und die staatliche Bestrafung und das Einsperren von Menschen kontinuierlich zurückzunehmen. Vorschläge für Entkriminalisierungen, sei es über „Geringfügigkeitsklauseln“, sei es durch Streichung von Tatbeständen (wie das „Schwarzfahren“ als Form der Leistungserschleichung, der Besitz und Erwerb von Drogen zum Eigenkonsum) sind überhaupt nicht neu. Sie werden ignoriert, wie viele Experten und Kommissionen sich auch damit beschäftigt haben mögen.

Konfliktregulierung

… wird als „Täter-Opfer-Ausgleich“ bald standardmäßig zum neuen Weg der Kriminalpolitik erklärt. Aber zu oft ist damit nur gemeint: Täter müssen zur Verantwortung ge- und erzogen werden. Eine Klärung, was Konfliktregulierung darüber hinaus meint, ist also notwendig. Aus Forschungen über die Motive von Anzeigeerstattern wurde deutlich, daß in Konflikten weniger die strafende Reaktion des Staates gefragt ist, sondern Schadenskompensation, die Vermittlung in einem Konflikt und soziale Unterstützung, um die Situation des Opferwerdens zu bewältigen. Diesem Bedürfnis kann durch die Interventionstypen „Mediation“, „Schlichtung“ und „Wiedergutmachung“ entsprochen werden, für die es zahlreiche Modelle und Einrichtungen gibt. Zu einer echten Alternative können sie aber nur werden, wenn sie noch vor einem Strafurteil mit den Beteiligten einer Situation überprüfen, ob es eine Möglichkeit gibt, in diesem Verhältnis „sozialen Frieden“ wiederherzustellen. Eine Voraussetzung ist zudem, daß Situationen geschaffen werden, in denen Regeln von „Fairneß“ gelten und daß für alle beteiligten Parteien materielle und soziale Ressourcen mobilisiert und organisiert werden, mittels derer sie selbst die Situation regulieren können.

Prävention

… gehört als „Kriminalprävention“ zur Sicherheits-Rhetorik, mit der Populisten andere Populisten überholen wollen. Und doch: Präventive Kriminalpolitik ist kein „Präventivschlag“ gegen das Verbrechen und ebensowenig eine „sozialpolitische Offensive“ der Bekämpfung von sozialen Problemen, die als „Ursachen der Kriminalität“ gelten.

Kriminalitätsereignisse entstehen im Zusammenhang mit Konflikten um gesellschaftliche Teilhabe und die partielle oder gänzliche Verweigerung des Zuganges zum Arbeitsmarkt, zu sozialstaatlichen Leistungen der Qualifikation und der sozialen Sicherung. Situationsbezogene Prävention beginnt mit der Analyse sozialer Konflikte und versucht, mit beteiligten Personen und Gruppen auf einer konkreten, d.h. lokalen Ebene Strategien zu entdecken, diese Konflikte zu regulieren. Auf der Ebene kommunaler Politik fehlen jedoch typischerweise die Voraussetzungen einer solchen problembezogenen (weil „ressortübergreifenden“) Politik. Manche Präventionsinitiativen („Präventionsräte“) arbeiten daran, diese Lücke zu schließen. Nicht wenige kopieren aber staatliche Überwachungs- und Kontrollstrategien.

In einem Verständnis von präventiver Kriminalpolitik, das an sozialen Konflikten ansetzt, lassen sich auch Kriminalitätsfurcht und Klagen über „bedrohliche Kriminalität“ besser verstehen. Sie sind z.B. Mitteilungen über Unsicherheiten, die für Bürgerinnen und Bürger in und durch Situationen der Anonymität in öffentlichen Räumen entstehen. Man kann sie auch als Meldungen von Belastungen durch ein vernachlässigtes, „unordentliches“ Wohnumfeld interpretieren oder als Ausdruck von Diskriminierungen, die eine gesellschaftliche Gruppe erfährt und wenigstens durch „Sicherheit vor Kriminalität“ kompensiert haben will.

Wir brauchen ein „kriminalpolitisches Programm, dessen Ziel es wäre, immer weniger Handlungen als Kriminalität zu interpretieren“ (Nils Christie, in Heft 2/98 der Neuen Kriminalpolitik). Mit Entkriminalisierung, Konfliktregulierung und einer präventiven, soziale Konflikte vermittelnden Kriminalpolitik verfügen wir schon lange über pragmatische Strategien, uns diesem Ziel anzunähern.

Prof. Dr. Helga Cremer-Schäfer lehrt Sozialpädagogik an der Universität Frankfurt. Sie ist Redakteurin der Zeitschrift „Neue Kriminalpolitik“ sowie Beiratsmitglied des „Kriminologischen Journals“.

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