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Reform des Sexual­straf­rechts

18. April 2016

Sven Lüders

in: vorgänge Nr. 213 (Heft 1/2016), S. 163-165.

Das Bundeskabinett hat am 16. März eine neuerliche Erweiterung des Sexualstrafrechts beschlossen. Der Gesetzentwurf sieht vor allem eine Erweiterung des Straftatbestands in § 179 Abs. 1 StGB („Sexueller Missbrauch widerstandsunfähiger Personen“) vor.

Der Bundesjustizminister begründet den Entwurf mit einer mutmaßlichen Schutzlücke im deutschen Strafrecht: Der Tatbestand der sexuellen Nötigung bzw. Vergewaltigung setze in der derzeit geltenden Fassung (§ 177 StGB) voraus, dass das Opfer „mit Gewalt oder gleichwertigen Nötigungsmitteln (=Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben oder Ausnutzung einer schutzlosen Lage)“ zu den sexuellen Handlungen genötigt werde. Der entgegenstehende Wille des Opfers (der sich in Widerstandshandlungen äußert) muss von Seiten des Täters sichtbar gebrochen werden. Eine Vergewaltigung von Personen, die keinen erkennbaren Widerstand leisten, sei nach der bisher geltenden Fassung des § 179 Abs. 1 nur strafbar, wenn die Widerstandsfähigkeit des Opfers aufgrund geistiger/körperlicher Beeinträchtigungen (Krankheiten oder Bewusstseinsstörung) eingeschränkt ist, so die Begründung des Gesetzentwurfs.

Mit der Reform werden Forderungen nach einer Erweiterung des Straftatbestandes der Vergewaltigung umgesetzt, die schon länger von Frauenrechtsorganisationen erhoben werden. Sie begründen ihre Forderungen damit, dass für die Strafbarkeit der Vergewaltigung nicht der Widerstand der Opfer ausschlaggebend sein dürfe, sondern einzig und allein die Ablehnung des Sexualkontakts durch die Betroffenen („Nein heißt Nein“). Die Notwendigkeit einer Erweiterung des deutschen Strafrechts ergebe sich auch aus Artikel 36 des Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt vom 11. Mai 2011 („Istanbul-Konvention“), die alle Unterzeichnerstaaten dazu auffordert, jede nicht einverständliche sexuelle Handlung unter Strafe zu stellen.

Mit dem jetzt von der Bundesregierung vorgeschlagenen Straftatbestand des § 179 Abs. 1 StGB-E sollen folgende Fallgruppen einer Vergewaltigung ohne erkennbaren Widerstand der Opfer unter Strafe gestellt werden:

  1. der Täter nutzt einen Überraschungseffekt aus
  2. das Opfer befürchtet Beeinträchtigungen, die keine Körperverletzungs- oder Tötungsdelikte darstellen 
  3. das Opfer befindet sich objektiv nicht in einer schutzlosen Lage, nimmt diese aber an 
  4. zwischen der Gewalt bzw. der Drohung mit Gewalt und der sexuellen Handlung besteht kein finaler Zusammenhang. (1)

Die erste Fallgruppe soll durch den neuen § 179 Abs. 1 Nr. 2, die drei anderen Fallgruppen durch § 179 Abs. 1 Nr. 3 erfasst werden. Der Kern der neuen Regelung im Wortlaut:

„§ 179 Sexueller Missbrauch unter Ausnutzung besonderer Umstände.

(1) Wer unter Ausnutzung einer Lage, in der eine andere Person
  1. aufgrund ihres körperlichen oder psychischen Zustands zum Widerstand unfähig ist,
  2. aufgrund der überraschenden Begehung der Tat zum Widerstand unfähig ist oder
  3. im Fall ihres Widerstandes ein empfindliches Übel befürchtet,

sexuelle Handlungen an dieser Person vornimmt oder an sich von dieser Person vornehmen lässt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren, in minder schweren Fällen der Nummern 2 und 3 mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.“ (StGB-E)

Die Humanistische Union (HU) hatte durch Mara Kunz bereits im Februar 2016 im Rahmen der Verbändeanhörung des Ministeriums zu dem Vorhaben Stellung genommen (Kunz 2016). Die neue Regelung zur Ausnutzung von Überraschungs- bzw. Überrumpelungsmomenten wurde darin grundsätzlich begrüßt, auch wenn der vorgeschlagene Strafrahmen zusammen mit den in der Begründung genannten Beispielen noch Fragen aufwerfe.

Grundsätzliche Kritik übte die HU jedoch an Absatz 3 der neuen Regelung. So sei schon der unmittelbare Regelungsbedarf und die Behauptung einer angeblichen Schutzlücke im deutschen Strafrecht sehr umstritten: Bei einer Sachverständigenanhörung des Deutschen Bundestags im vergangenen Jahr gab es dazu gegensätzliche Einschätzungen. (2) Die bisherige Debatte sei dadurch gekennzeichnet, dass für die jeweilige Position zur Reichweite bzw. Schutzlücke des bisherigen Sexualstrafrechts plausible Argumente und Fallbeispiele vorgebracht würden. „Die entscheidende Grundlage für eine rechtspolitisch seriöse Beurteilung fehlt jedoch bislang: eine fundierte empirische Analyse der Frage, ob und woran genau Verurteilungen bei den genannten Fallkonstellationen scheitern. Ist eine restriktive Auslegung der aktuellen Regelung gängige gerichtliche und staatsanwaltschaftliche Praxis? Oder zeigen sich unterschiedliche Lesarten, die eher auf ein (teilweises) Umsetzungsdefizit hinweisen anstatt auf ein Regelungsdefizit?“ (Kunz 2016, 1f.) Vor einer Neuregelung sollte der Gesetzgeber daher die bisherige Anwendungspraxis genauer untersuchen, insbesondere jene „Fälle, denen ein nachweisbares (Tat-) Geschehen zugrunde liegt“, um eventuelle Schwachstellen des geltenden Strafrechts zu identifizieren. „Ohne empirische Befunde ist zunächst also keine Schutzlücke, sondern vielmehr eine Forschungslücke zu konstatieren.“ (Kunz 2016, 2)

Auch gegen die inhaltliche Ausgestaltung der Regelung in § 179 Abs. 1 Nr. 3 wurden grundsätzliche Bedenken vorgebracht: In der Norm würde der Tatbestand rein subjektiv definiert, es gebe keine objektiven Kriterien dafür, wann eine solche Situation gegeben sei oder nicht. Das widerspreche dem weitergehenden strafrechtlichen Bestimmtheitsgebot aus Art. 103 Abs. 2 Grundgesetz, weil für die mutmaßlichen Täter keine Anhaltspunkte vorgegeben werden, woran sie die Befürchtungen der Opfer erkennen können sollten. Ebenso unklar sei, unter welchen Voraussetzungen die Strafbarkeit des Versuchs (§ 179 Abs. 4 StGB) solcher Taten gegeben ist. „Auf der praktischen Ebene ist diese Tatbestandsvariante ebenfalls problematisch: … Letztlich kommt es auf Täter- wie auf Opferseite auf das subjektive Erkennen (Täter) und das subjektive Befürchten (Opfer) an. Dies könnte die ohnehin bestehende Nachweisproblematik bei Vier-Augen-Delikten noch verschärfen.“ (Kunz 2016, 2)

Für einen besseren Schutz vor sexuellen Übergriffen regt die HU eine grundsätzliche Reform des Sexualstrafrechts an. Dabei sollte nicht nur auf die Reichweite materieller Strafnormen, sondern auch auf die – in der Praxis bedeutsameren – Hindernisse und Probleme in der Rechtsanwendung (etwa Nachweisschwierigkeiten) geachtet werden. Die qualifizierte, vertrauliche Beratung durch geeignete Ermittlungsbeamte sowie ein flächendeckendes Angebot schnell zu erbringender, gerichtsfester Beweismittel helfe den Opfern sexualisierter Gewalt mehr als neue Strafnormen, die in vielen Fällen kaum anwendbar sind.

Anmerkungen:

[1] Nach: BMJ, Fragen und Antworten zum Gesetzentwurf zur Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung, S.1/2.

[2] S. Kunz in: vorgänge Nr. 209, S. 111-115.

Mara Kunz: Stellungnahme der Humanistischen Union zum Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz über den „Entwurf eines … Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches – Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung“ vom 19.2.2016, online abrufbar hier

Bundesregierung: Entwurf eines … Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches – Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung vom 16.3.2016, unter http://www.bmjv.de/.

BMJ, Fragen und Antworten zum Gesetzentwurf zur Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung

Mara Kunz: Bestehende Strafbarkeitslücken bei sexueller Gewalt und Vergewaltigung, Zusammenfassung einer Sachverständigen-Anhörung des Deutschen Bundestages, in: vorgänge Nr. 209 (Heft 1/2015), S. 111-115

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