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Sexueller Missbrauch von Kindern - eine durch die Genera­ti­onen weiter­ge­ge­bene Trauma­ti­sie­rung

15. Juli 2010

Thea Bauriedl

Mitteilungen Nr. 208/209 (1+2/2010), S. 33-35

(Red.) Die Humanistische Union wurde in den letzten Jahren mehrfach wegen missverständlicher Stellungnahmen zum Sexualstrafrecht angegriffen. In der Kritik standen dabei auch Äußerungen von Beiratsmitgliedern, denen eine verharmlosende oder gar befürwortende Haltung zur Pädophilie unterstellt wurde. Die aktuellen Anwürfe hat Prof. Dr. Thea Bauriedl, Psychoanalytikerin in München, zum Anlass genommen, um ihre praktischen und wissenschaftlichen Erfahrungen im Umgang mit Sexualstraftätern und mit Opfern sexueller Gewalt darzustellen. In ihrem Beitrag fordert sie einen aktiven Schutz der Kinder vor sexuellem Missbrauch und plädiert dafür, die Tendenz zur Wiederholung des Missbrauchs durch ehemalige Opfer, die später häufig selbst zu Tätern werden, in aufklärender psychotherapeutischer Arbeit zu vermindern.

Wie in einer anwachsenden Lawine haben sich in letzer Zeit immer mehr Opfer gemeldet, die sexuelle und andere Formen von gewalttätigen Übergriffen in ihrer Kindheit und Jugend erlitten haben. Fast alle haben diese Übergriffe in geschlossenen Gemeinschaften, insbesondere in kirchlichen und weltlichen Internaten, über sich ergehen lassen müssen. Für solche Einrichtungen gilt, was auch für Familien gilt, in denen Kinder und Jugendliche sexueller Gewalt ausgeliefert sind, dass die Opfer weder physisch noch psychisch der Gewalt entkommen können. Sie sind von ihren Bezugspersonen abhängig und von Natur aus bereit, sich den sie betreuenden Erwachsenen anzuvertrauen. Deshalb nehmen sie erst einmal an, dass das, was mit ihnen geschieht, so in Ordnung ist, ja sie schämen und beschuldigen sich oft selbst für das, was ihnen angetan wurde, und tendieren deshalb oft lebenslang dazu, darüber zu schweigen und die Täter zu schützen.

Schutzlose und sprachlose Kinder werden zu Opfern

Bisher ging man allgemein davon aus, dass der sexuelle Missbrauch von Kindern vorwiegend im familiären Umfeld stattfindet. Was die Zahl der Fälle angeht, ist das sicher so. Durch die jetzt massenhaft in die öffentliche Wahrnehmung eindringenden Fälle von sexuellen Übergriffen in geschlossenen Gemeinschaften außerhalb der Familie wird deutlich, wie auch hier, in der nahen Umgebung der Opfer, diese Übergriffe zumeist nicht wahrgenommen, verharmlost, verschwiegen oder vertuscht werden. Mitwissende wollen zumeist nicht in Schwierigkeiten kommen und „opfern“ deshalb selbst ein Kind oder mehrere Kinder durch Wegschauen und Geschehen-Lassen. Wegen dieses Verschweigens und Vertuschens in der nahen Umgebung wiegen die regelmäßig mit solchen Erfahrungen verbundenen psychischen Folgen besonders schwer. Da ist zumeist niemand, der eindeutig Stellung bezieht und grundsätzlich sagt: „Dieses Kind braucht Schutz, es darf nicht missbraucht werden“. Da ist niemand, der Verantwortung übernimmt, wenn er sieht, was dem Kind geschieht, und der erkennt, daß der sexuelle Missbrauch in ganz besonderer Weise das Selbstbestimmungsrecht und das Schutzbedürfnis des Kindes missachtet. Das führt dazu, daß das Kind ein Leben lang dazu tendieren wird, sein eigenes Schutzbedürfnis und damit sich selbst als Person zu missachten. Regelmäßig sind schwere psychische Erkrankungen die lebenslange Folge.

Die Misshand­lung wird weiter­ge­ge­ben:
die Wieder­ho­lung als Heilungs­ver­such

Auch wenn inzwischen bekannt ist, dass die späteren Täter in der Regel als Kinder selbst Opfer von ähnlichen Vorgängen waren, kann diese Erkenntnis nicht zur Entschuldigung oder Verharmlosung ihrer Taten führen. Sie macht vielmehr darauf aufmerksam, dass solche „Traditionen“ eindeutig und sorgfältig unterbrochen werden müssen.

Um zu verstehen, auf welche Weise die Weitergabe einer schweren psychischen Schädigung grundsätzlich unterbrochen werden kann, muss man sich mit der Frage befassen, welchen subjektiven Gewinn die Wiederholung von sexuellen Übergriffen gegen Kinder und andere abhängige Personen für den Täter mit sich bringt. Ohne solche Überlegungen würde man vielleicht meinen, dass die früheren Opfer von sexueller Gewalt aufgrund der eigenen leidvollen Erfahrung nun als Erwachsene alles daran setzen würden, dass den ihnen anvertrauten Personen nicht dasselbe geschieht, was ihnen selbst geschehen ist. Nicht selten rechtfertigen die Täter und Personen, die ein Interesse daran haben, dass entsprechende Taten als harmlos angesehen werden, „pädophile“ Phantasien als naturgegebene „Eigenschaft“ eines Menschen, eventuell als ein „genetisch bedingtes“ Bedürfnis, das danach drängt, in reale Handlungen umgesetzt zu werden. Wenn sich dabei die Kinder nicht wehren, weil man vorsichtig oder liebevoll mit ihnen umgeht, dann wird die Wehrlosigkeit des Kindes von diesen Personen oft als Zustimmung oder gar als Beweis für ein eigenes sexuelles Bedürfnis des Kindes uminterpretiert.

Die Pädophilie ist aber Ausdruck einer psychischen Erkrankung, die dadurch gekennzeichnet ist, dass die Betroffenen kontinuierlich von sexuellen Phantasien mit Kindern bedrängt werden. Gleichzeitig haben diese Phantasien durch ihre sexuelle Stimulation eine euphorisierende und damit antidepressive Wirkung, weshalb sie auch zur Abwehr von Wertlosigkeitsgefühlen dienen. Solche Phantasien haben in der Regel den Charakter und die Funktion eines Suchtmittels, was sich auch in der derzeit zunehmenden – oder zunehmend deutlich werdenden – Zahl von kinderpornographischen Abbildungen im Internet zeigt.

Zum Glück wird das suchtartige Ausleben solcher Phantasien in unserer Gesellschaft immer eindeutiger als Straftat gesehen. Dies folgt der Einsicht, dass den Kindern durch sexuelle Übergriffe – auch wenn sie ohne Gegenwehr des Kindes erfolgen – ein schwerer psychischer Schaden zugefügt wird, der von der Allgemeinheit nicht toleriert werden darf. Das subjektive Gefühl von Freiheit, das der Täter dabei suchtartig erlebt, wird in unserer Gesellschaft nur noch von denjenigen als ein „Menschenrecht“ angesehen, die selbst ein Interesse daran haben, in ähnlicher Weise auf Kosten anderer leben zu können.

Die Weitergabe der Verletzung des Grundrechts auf sexuelle Selbstbestimmung durch die ehemaligen Opfer führt dazu, dass wiederum die psychische und physische Unversehrtheit eines Kindes zutiefst verletzt wird, und sein Bedürfnis nach Schutz und Sicherheit in der menschlichen Gemeinschaft missachtet wird. Das Opfer solcher Misshandlungen macht die schwerwiegende Erfahrung, dass man keinem Menschen – und damit auch sich selbst nicht – wirklich vertrauen kann.

Solche Erfahrungen führen in aller Regel dazu, dass die einst selbst missbrauchten Kinder als Erwachsene dieselben „Szenen“ wiederholen, denen sie als Kinder ausgeliefert waren. Ihr durch die eigene Schädigung schwer verletztes Selbstwertgefühl verlangt nach „Heilung“. Dieser „Heilungsversuch“ besteht dann leider oft darin, dass das frühere Opfer dieselbe Gewaltszene, der es selbst einst hilflos ausgeliefert war, nun als Täter wiederholt. Jetzt erlebt der Täter ein oft rauschartiges Gefühl von „Freiheit“, einer Freiheit, die auf der Überlegenheit über ein hilfloses und orientierungsloses Kind und auf der Verfügbarkeit dieses Kindes beruht. Das gleichzeitig im Täter entstehende Gefühl einer vermeintlichen Nähe zum missbrauchten Kind unterstützt seine Phantasie, dass die Verlorenheit und Einsamkeit in seiner eigenen Kindheit auf diesem Wege beseitigt oder „wieder gut gemacht“ werden kann. Freilich bringt dieser Versuch, sich selbst auf Kosten eines anderen zu retten, dem Täter nicht wirklich die Wiederherstellung eines unzerstörten psychischen Zustands.

Trotzdem versuchen die früheren Opfer einerseits durch die Wiederholung der Übergriffe gegen Kinder, sich selbst zu bestätigen, dass Sexualität mit Kindern ein ganz „normaler“ und deshalb „harmloser“ Vorgang ist, ja dass die Kinder womöglich nichts dagegen haben, wenn man sie so „in die Sexualität einführt“. Die Kinder würden sich ja sonst wehren – sie selbst haben sich als Kinder ja auch nicht gewehrt. Andererseits versuchen sie, das in der eigenen Kindheit erlebte Gefühl, hilflos ausgeliefert zu sein, dadurch zu beseitigen, dass sie als Erwachsene in derselben Szene nun die handelnde Rolle einnehmen: Der Täter bestimmt, was mit dem Opfer geschieht. Er definiert das Opfer als „willig“ und den Übergriff als „harmlos“. So versuchen die einstigen Opfer nun als Täter aus dem ihr ganzes Leben bestimmenden Zustand der „Gefühllosigkeit für sich selbst“, der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins herauszufinden: Wenn sie dasselbe tun, was ihnen selbst als Kindern angetan wurde, dann kann die damalige Verletzung ihrer persönlichen Integrität doch nicht so schlimm gewesen sein – so die Phantasie. Im Gegenteil, die jetzt empfundene körperliche Lust scheint ein Beweis dafür zu sein, dass die Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern etwas ganz Natürliches ist.

Die einst so schwer beschädigten Täter haben sich damals als Opfer vor den Erwachsenen und vor deren sexueller Bedürftigkeit gefürchtet. Sie erleben jetzt (selbst erwachsen) eine Sexualität, in der sie sich scheinbar frei und ohne Angst fühlen können. Vor kleinen Jungen und Mädchen müssen sie sich nicht fürchten, wie ehemals vor den erwachsenen Männern oder Frauen, von denen sie selbst (faktisch oder in den Phantasie) missbraucht worden sind. Jetzt können sie sexuelle Anziehung, Erregung und Befriedigung scheinbar ohne Angst erleben – die Angst wird ja jetzt von dem abhängigen Kind erlebt. Von diesem Kind erwarten sie nun selbst die Zustimmung, zu der sie einst gezwungen waren. Die scheinbare „Zustimmung“ des Kindes, die auf seinem Gefühl der Wehrlosigkeit beruht, dient für die Täter gleichzeitig zur Entlastung von der heutigen Schuld und zur Verharmlosung dessen, was ihnen selbst als Kindern angetan worden ist.

Man kann trotz der hier dargestellten Erkenntnisse über die Weitergabe der Traumatisierung nicht behaupten, daß alle Täter einst Opfer der selben Art von Übergriffen waren und deshalb umgekehrt alle Opfer später Täter im Sinne einer genauen Wiederholung solcher Übergriffe sein werden. Wie man aus den Krankengeschichten von in der Kindheit missbrauchten  Frauen und Männer sieht, sind die Bewältigungsmechanismen von psychischer und physischer Gewalt in der Kindheit vielfältig. Menschen, die Kinder sexuell missbrauchen, sind aber in jedem Fall psychisch schwer beschädigte Menschen.

Wie kann man mit den Wieder­ho­lungen und den Folgen des Missbrauchs hilfreich umgehen?

Wie kann nun diese Kette der so häufigen Wiederholungen von sexuellen und anderen gewalttätigen Übergriffen prinzipiell unterbrochen werden? Ganz sicher hilft hier weder Verharmlosung noch Geheimhaltung oder Vertuschung. Auch die Rechtfertigung als harmlose „Liebe zum Kind“ ist Teil der Vertuschung eines schwerwiegenden Verbrechens. Der Staat und die nähere Umgebung der Opfer müssen dafür sorgen, dass sexuelle Übergriffe – in welchem Zusammenhang auch immer – als das gesehen werden, was sie sind: Schwere Verletzungen der Integrität von Abhängigen, die schwere psychische Schäden zur Folge haben.

Zu einem heilsamen Umgang mit den hier dargestellten Szenen des Missbrauchs von Abhängigen, insbesondere von Kindern, gehört in dem Bewusstsein der Umgebung grundsätzlich die folgende Trias:

Alles, was diesem Kind geschehen ist, ist wahr.
Alles, was diesem Kind geschehen ist, war schlimm. 
Alles, was diesem Kind geschehen ist, wollte es nicht.

Alle Positionen zu diesem Geschehen, die behaupten, dass der Missbrauch vielleicht gar nicht geschehen ist, dass er doch nicht so schlimm gewesen sein kann, und dass das Kind doch einverstanden war oder selbst den Erwachsenen verführt habe, wiederholen und verstärken die Traumatisierung.

Die „Lawine“ derer, die sich derzeit ihrer eigenen Leidenszeit erinnern und es wagen, öffentlich zu erklären, was ihnen geschehen ist, weist darauf hin, dass aktuell in unserer Gesellschaft eine Bereitschaft besteht, solche Vorgänge für wahr zu halten und sie ernst zu nehmen. Ein solches Klima der Aufmerksamkeit für ein Geschehen, das seit Jahrhunderten latent zu unserer Kultur gehört, bietet eine Chance dafür, dass in der Öffentlichkeit und damit für alle Betroffenen klar wird, dass der Missbrauch wirklich geschehen ist, dass er eine schlimme Grenzverletzung darstellt und dass die Kinder – oder andere Abhängige, denen Ähnliches angetan wurde – dies nicht wollten. Wenn dies anerkannt wird, müssen sich die Opfer vielleicht weniger schämen oder sich nicht mehr selbst für das beschuldigen, was ihnen angetan wurde.

Da es so viele ehemalige Opfer sind, die sich jetzt „bemerkbar“ machen, erleben sie außerdem, dass sie nicht alleine sind, und dass sie in dieser Situation eine Chance haben, in ihrem Leiden akzeptiert und verstanden zu werden. Wir alle haben jetzt eine Chance, mit den Opfern zusammen zu bedauern und zu betrauern, was ihnen geschehen ist. Den Missbrauch wahrzunehmen und ihn als schwere Verletzung eines Kindes zu verstehen, ist ein wichtiges Prinzip, das – zumindest grundsätzlich – die Tendenz zur Wiederholung in der nächsten Generation vermindern kann. Dazu braucht man im Einzelfall viel persönlichen Mut, vielleicht auch die Unterstützung anderer Personen, die jetzt durch die öffentliche Debatte über die massenhaft bekannt gewordenen Verletzungen der Integrität von Kindern ebenfalls Mut fassen und auch selbst weniger wegschauen wollen.

Natürlich ist auch die Unterstützung von entsprechenden Fachleuten und von deren spezifischer Fortbildung eine wichtige Voraussetzung für ein verbessertes Hilfsangebot in unserer Gesellschaft. Die sogenannten „Pädophilen“ und auch die straffällig gewordenen Täter brauchen gute psychotherapeutische Hilfe, und sie haben Glück, wenn es ihnen möglich ist, solche Hilfe anzunehmen. Das fällt ihnen leichter, wenn ihre Betreuer wie auch ihre Psychotherapeuten eindeutig mit ihnen und ihren Taten umgehen. Die Eindeutigkeit besteht darin, dass man die Tat – oder die Tendenz zu entsprechenden Taten – wahr nimmt und ernst nimmt und gleichzeitig die schwere psychische Verletzung der – potentiellen oder tatsächlichen – Straftäter sieht.

Auf Seiten der Betreuer und Psychotherapeuten kommt es darauf an, dass sie den Veränderungswunsch in diesen schwer beschädigten Personen sehen und mit diesem Wunsch nach anderen Lebensmöglichkeiten zusammenarbeiten. Das ist oft sehr schwierig, weil man in dieser Arbeit immer wieder in Gefahr ist, sich entweder mit der Tendenz zur Verleugnung und Verharmlosung zu verbünden, die in den (potentiellen) Tätern genauso vorhanden ist wie in ihrer Umgebung. Oder man gerät auf die Seite der Verfolger, die die Täter zusammen mit ihren Taten verteufeln, um sich selbst vor der „Ansteckung“ durch die Missbrauchsszene zu retten. Ein verständnisvolles berufliches Umfeld und die Unterstützung durch qualifizierte Supervision machen es für die Helfer leichter, immer wieder zu sehen, wie die Täter, die ehemals sprachlosen Opfer, sich jetzt dringend mitteilen wollen. Soweit es gelingt, mit den Opfer-Tätern gemeinsam deren Sprachlosigkeit aufzulösen und ihre eigenen Verletzungen und die damit verbundene Einsamkeit und Hilflosigkeit in Verbindung mit ihren Taten zu verstehen, kann es möglich werden, dass sie gesündere Formen des Zusammenlebens entwickeln, was die Gefahr vermindert, dass sie weiterhin Kinder missbrauchen. Trotz allem muss man sehen, dass diese Bemühungen, den Opfer-Tätern dabei zu helfen, ihr Suchtverhalten zugunsten anderer Lebensmöglichkeiten aufzugeben, wie jede Behandlung einer Suchtkrankheit sehr aufwendig und schwierig sind. Die Kunst besteht darin, dass es möglich wird, die Person gleichzeitig als Opfer und als Täter zu sehen und zu behandeln.

Das große Bedürfnis der Opfer, sich mitzuteilen und Verständnis für ihr Leiden zu finden, wird derzeit besonders deutlich, weil sich so viele ehemalige Opfer öffentlich zu Wort melden, da die „Schleusen“ in unserer Gesellschaft nun dafür geöffnet sind. Das war in unserer Gesellschaft lange Zeit nicht so, und es ist in vielen Familien immer noch nicht so. In Familien fürchtet man zumeist, dass das eigene Nest beschmutzt werden könnte, oder dass der notdürftig aufrecht erhaltene Zusammenhalt der Familie gestört würde, wenn deutlich würde, was geschehen ist und was geschieht. Deshalb besteht weiterhin die Gefahr, dass die „Schleusen“ wieder geschlossen werden, vor allem im familiären Nahraum, in dem es die Opfer auch jetzt zumeist noch nicht wagen können, sich zu erinnern und über ihr Leiden zu sprechen. Kinder wollen ihre Eltern schützen, denn sie fürchten, dass das „familiäre Dach“ über ihnen zusammenbrechen könnte, wenn deutlich würde, was unter ihm geschehen ist und eventuell noch geschieht. Sie versuchen auch zu verhindern, dass sich ihre Eltern schämen oder schuldig fühlen müssen, weil sie ihr Kind nicht geschützt oder auch selbst schwer verletzt haben. So wird die aufklärende, betreuende und psychotherapeutische Arbeit an diesen Problemen trotz des aktuell vermehrten öffentlichen Interesses an solchen Vorgängen immer weiter nötig sein.

Wahrscheinlich wird die Öffentlichkeit ihre Aufmerksamkeit nach einiger Zeit von den jetzt sichtbar gewordenen psychischen Katastrophen wieder abwenden. Es scheint oft leichter zu sein, sich nicht mit diesen „schmutzigen“ und ängstigenden Dingen zu beschäftigen. Deshalb ist es so wichtig, gerade in dieser der Aufklärung bedürftigen und für die Aufklärung zugänglichen Situation auch kollektive Tendenzen zur Verharmlosung sexueller und anderer gewalttätiger Übergriffe gegenüber abhängigen Personen deutlich zu sehen und offen zu legen. Aus meiner Sicht wäre es besonders wichtig, den Begriff der „Pädophilie“ als verharmlosende Bezeichnung einer vielleicht doch normalen sexuellen Orientierung aufzuklären, wie ich das in dieser kurzen Darstellung versucht habe. Es handelt sich hier um Personen, die selbst schwer beschädigt wurden und deshalb eine eindeutige Stellungnahme und fachkundige Hilfe brauchen, damit sie ihre eigene Schädigung nicht wiederholend an andere abhängige Personen weitergeben.

Prof. Dr. Thea Bauriedl ist Psychotherapeutin 
und Mitglied des Beirats der Humanistischen Union

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