Themen / Rechtspolitik / Sexualstrafrecht

Zur Gleich­stel­lung von Homose­xu­a­lität und Hetero­se­xu­a­lität im Strafrecht

05. Mai 1981

Herbert Jäger

Kriminalpolitische Stellungnahme zur Frage der Abschaffung des § 175 StGB anläßlich einer Sachverständigenanhörung durch die FDP-Fraktion am 5. Mai 1981 in Bonn. vorgänge Nr. 52 (Heft 4/1981), S. 18-22

Die Beteiligung der Wissenschaft an der Gesetzgebungsarbeit oder an der innerparteilichen kriminalpolitischen Meinungsbildung und Programmdiskussion hat, wie mir scheint, zwei unterschiedliche Funktionen zu erfüllen. In erster Linie soll sie durch Mitteilung empirischer Erkenntnisse dazu verhelfen, den zu beurteilenden Gegenstandsbereich in seinen Erscheinungsformen, Entstehungsbedingungen und sozialen Auswirkungen so genau, differenziert und vorurteilslos wie möglich ins Blickfeld zu bekommen. Das erscheint auf kaum einem Gebiet so nötig wie auf dem von Affekten und Fehlurteilen verstellten Gebiet des sexuell abweichenden Verhaltens. Eine ganz andere, eher den normativen Wissenschaften – vor allem den Wissenschaften vom Strafrecht und der Kriminalpolitik – zufallende Aufgabe sollte darüber nicht in Vergessenheit geraten. Sie besteht darin, die Kriterien, Denkmuster und Bewertungsmaßstäbe kritisch unter die Lupe zu nehmen, die Entscheidungen über Kriminalisierung oder Entkriminalisierung bestimmen, und auf diese Weise Reforminitiativen und Gesetzesberatungen theoretische Argumentationshilfe zu leisten. Das generelle, über den konkreten Anlaß und Gegenstand hinausreichende Ziel dabei ist, dem noch immer relativ willkürlichen Walten politischer Kräfte, aber auch kollektiver Einstellungen und Emotionen ein Stück rational planenden kriminalpolitischen Denkens entgegenzusetzen. Da ich selbst weder Sozial- noch Sexualwissenschaftler bin, kann ich zur empirischen Seite des hier zu diskutierenden Problems kaum etwas beitragen, sondern nur zu dem zweiten von mir umrissenen Fragenkreis Stellung nehmen.

Legiti­ma­tion insbe­son­dere des Sexual­straf­rechts

In der Beurteilung der Zwecksetzung und Legitimation des Strafrechts hat sich in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten ein grundlegender Wandel vollzogen, der sich gerade im Sexualstrafrecht folgenreich ausgewirkt hat. Anders noch als zur Zeit des Strafgesetz-Entwurfs 1962 besteht heute weitgehende Einigkeit darüber, daß das Strafrecht nicht moralische Konformität erzwingen, sondern nur gravierende sozialschädliche Verhaltensweisen unter Strafe stellen soll. Das Strafrecht ist also nach seinem heutigen Selbstverständnis ein Schutzinstrument oder – mit den Worten des Alternativ-Entwurfs eines Strafgesetzbuches aus dem Jahre 1968 – ein „äußerstes Mittel der Sozialpolitik“, nicht aber ein Instrument moralischer Gleichschaltung. Ein solcher kriminalpolitischer Programmsatz wird in dieser allgemeinen Form ernstlich nicht mehr bestritten. Die Übereinstimmung reicht von den Gutachten und Beschlüssen des 47. Deutschen Juristentages über den Alternativ-Entwurf, die Begründungen der Reformen von 1969 und 1973, die Strafrechtskommentare, die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bis hin zu der insoweit nahezu einhelligen Meinung in der strafrechtswissenschaftlichen Literatur.

Man könnte unter diesen Umständen meinen, daß die prinzipiellen kriminalpolitischen Zielvorstellungen des Strafrechts bei der Beratung über weitere Änderungen des Sexualstrafrechts keine besondere Aufmerksamkeit mehr verdienen. Nichts wäre jedoch falscher als das. Denn weder ist dieses Programm bereits in solchem Maße Allgemeingut, daß wir auf seine verläßliche handlungsleitende Wirkung bei der parlamentarischen Beratung und Entscheidung bereits blind vertrauen dürften, noch herrscht völlige Klarheit darüber, welche Konsequenzen sich aus ihm für die Gesetzgebungsarbeit und die konkrete Entscheidung im einzelnen ergeben. Die genaue Analyse der existierenden Gesetzes- und Entwurfsbegründungen zeigt vielmehr sehr deutlich, daß das Schutzprogramm des Strafrechts trotz abstrakter Bekenntnisse und verbaler Akzeptierung in den konkreten Entscheidungen unmerklich immer wieder zugunsten moralischer Wertungen unterlaufen wird und daß seine praktische Durchsetzung im Detail noch keineswegs gesichert ist. Ich teile in dieser Hinsicht die von Rüdiger Lautmann vertretene skeptische Meinung, daß das Strafrecht mit dem nach den Reformen von 1969 und 1973 verbliebenen Normenbestand des Sexualstrafrechts noch immer in nicht geringem Umfang die Sexualmoral schützt, und zwar die „,freie‘ Entfaltung sexualmoralischer Vorstellungen von Nichtbeteiligten“ (aaO. S. 44). Ich will versuchen, das am Beispiel des § 175 in thesenhafter Kürze deutlich zu machen.

Schützt das Sexual­straf­recht immer noch die „Moral“?

1. Das Kriterium der Sozialschädlichkeit stellt an die Gesetzgebungsarbeit neuartige Anforderungen; denn es hat einen Perspektivenwechsel insofern gebracht, als nunmehr die empirischen Wissenschaften zu den über die Strafbarkeit entscheidenden Voraussetzungen in ausreichender Weise gehört werden müssen, was bei einer vorwiegend moralisierenden Verhaltensbewertung nicht zwingend nötig war. Die Gesetzgebung darf bei ihren Entscheidungen heute nicht mehr von Realitätsbeurteilungen ausgehen, die im Widerspruch zu Erkenntnissen der jeweils inbetracht kommenden Wissenschaften stehen oder diese ungenügend berücksichtigen. Denn nur mithilfe der empirischen Wissenschaften lassen sich ja Aussagen darüber machen, welche Wirkungen ein Verhalten hat und welche Gefahren von ihm ausgehen.

Das zentrale Problem in den Begründungen des 4. Strafrechtsreformgesetzes wie schon vorher in denen des Alternativ-Entwurfs hinsichtlich einer besonderen Jugendschutzvorschrift im Bereich der Homosexualität war die Fixierung der Triebrichtung durch frühe homosexuelle Erlebnisse und eine möglicherweise dadurch bewirkte Gefährdung der ungestörten sexuellen Entwicklung. Die Frage nach der empirischen Haltbarkeit solcher Befürchtungen habe ich hier nicht zu beantworten. Ich möchte allerdings darauf hinweisen, daß den ausgiebigen Expertenanhörungen des Jahres 1970, die der Herabsetzung der Schutzaltersgrenze von 21 auf 18 Jahre galten, keine Gründe dafür zu entnehmen sind, die eine Sonderregelung des Jugendschutzes im Bereich der Homosexualität ausreichend plausibel machen. Die damaligen Gutachten bezogen sich ausschließlich auf die zur Diskussion stehende Schutzaltersgrenze von 18 Jahren; für die jetzt aktuell gewordene Frage einer generellen Gleichstellung von Homo-und Heterosexualität hinsichtlich des Minderjährigenschutzes geben sie dagegen nichts her. Die neuesten, damals noch kaum berücksichtigten wissenschaftlichen Kontroversen kreisen lediglich um die Festlegung der Triebrichtung im frühesten Kindesalter oder aber schon im pränatalen Stadium, jedenfalls aber nicht in der Lebensphase, die § 175 abzuschirmen versucht. Auf beide Auffassungen, welche von ihnen nun auch letztlich die richtige sein mag, kann sich also die heutige Regelung des Gesetzes nicht berufen.

Ist abwei­chendes Sexua­l­ver­halten (in welchem Alter auch immer) sozial­schäd­lich?

2. Ich möchte an dieser Stelle aber noch einen Schritt zurück tun in das Vorfeld solcher empirischer Streitfragen. Denn ist nicht schon die Tatsache, daß wir überhaupt die Prägung und Fixierung abweichenden Sexualverhaltens als sozialschädlich ins Auge fassen, ein Rückfall in verkappte moralisierende Vorwertungen, der die Kriterienbasis des eingangs erwähnten kriminalpolitischen Programms verläßt? Kann der Gesetzgeber die Verleitung zu Verhaltensweisen, deren Sozialschädlichkeit er mit der Abschaffung der generellen Strafbarkeit ausdrücklich verneint hat, als Gefährdungs- und Schädigungsvorgang werten, ohne mit seinen eigenen Entscheidungen in einen unauflösbaren Widerspruch zu geraten?

Mit vollem Recht ist denn auch in der Literatur auf die Inkonsequenz hingewiesen worden, die darin besteht, die Verleitung Minderjähriger zu einem Verhalten unter Strafe zu stellen, aus dessen Bewertung sich der Gesetzgeber mit gutem Grund zurückgezogen hat (Hassemer aaO.‚ S. 244). Ich möchte daher zumindest die Frage aufwerfen, ob wir nicht bereits mit der Erörterung der Fixierungsproblematik die Position eines Schutzstrafrechts, das sozialschädliches Verhalten abzuwehren hat, zugunsten moralischer Bewertungen wieder aufgeben. Denn niemals würden wir ja auch sonst die Beeinflussung zu einem Verhalten, das wir als wertneutral und strafrechtlich irrelevant betrachten, mit dem Attribut der Sozialschädlichkeit versehen.

Beweislast muß zugunsten der Straf­lo­sig­keit ausfallen

3. Der noch ungewohnte Umgang der Gesetzgebung mit den empirischen Wissenschaften läßt bei der Würdigung von Forschungsresultaten – also bei der Beweisfrage – noch ein weiteres Einfallstor für Vor- und Werturteile erkennen. Denn es besteht die Gefahr, daß Vermutungen, Einzelbeobachtungen und Ausnahmefälle, etwa hinsichtlich psychischer Reaktionen Jugendlicher auf homosexuelle Verführung, vorschnell – weil vorurteilshaft – der Entscheidung zugrunde gelegt werden. Was wissen wir aber eigentlich bisher in  verallgemeinerungsfähiger Weise über jene Fehlentwicklungen und Traumatisierungen, von denen in den Gesetzes- und Entwurfsbegründungen die Rede ist?

In der kriminalpolitischen Theorie der letzten Jahre ist verschiedentlich die grundsätzliche Frage gestellt worden, welchen Gewißheitsgrad die gesetzgeberische Realitätsaufklärung erlangen muß, damit bestimmte Tatsachenannahmen der Entscheidung zugrunde gelegt werden können. Es wird in diesem Zusammenhang, auch von mir selbst, die Auffassung vertreten, daß in der Strafgesetzgebung eine Art Beweislastregel zu gelten hat, die besagt, daß die Entscheidung in Zweifelsfällen zugunsten der Straflosigkeit ausfallen müsse. Selbst wenn man aber so weit nicht gehen und solchen umstrittenen Beweislast-Vorstellungen nicht folgen will, ist doch mindestens zu fordern, daß sich der Gesetzgeber auf strafrechtliche Verbotsnormen nur einlassen sollte, wenn nach dem Erkenntnisstand der Wissenschaft Gefährdungen höchst wahrscheinlich sind. Jede Herabsetzung der Anforderungen an die Aufklärungspflicht würde hier den Vor- und Fehlurteilen der öffentlichen Meinung Tür und Tor öffnen.

Homose­xu­a­lität ist nicht „an sich“, sondern durch die Gesell­schaft negativ sanktio­niert

4. Bei der Diskussion über Gefährdungen, die von homosexuellen Kontakten mit Minderjährigen ausgehen, verdient ein Problem unsere besondere Aufmerksamkeit. Das Strafrecht soll ja Schäden abwehren, nicht selbst verursachen. Unerlaubt ist daher bei der Begründung einer Strafvorschrift der Rückgriff auf psychische Auswirkungen, die das gesellschaftliche Werturteil und in seinem Gefolge die strafrechtliche Kriminalisierung selbst hervorrufen. Eine strafbegründende Berücksichtigung psychischer Schäden, die Folgen des Konflikts mit der Rechtsordnung und gesellschaftlichen Normen sind, liefe auf einen grotesken Zirkelschluß hinaus.

Wenn ich den heutigen Erkenntnisstand richtig beurteile, gibt es in diesem Zusammenhang letztlich nur eine einzige nachweisliche Gefahr für Jugendliche, die schwerwiegend und bedenkenswert ist und die sich doch als Grund für die Beibehaltung der Strafvorschrift äußerst seltsam ausnimmt: es sind dies die Umwelt- und Identitätskonflikte mit ihren psychischen Folgewirkungen, denen sich Jugendliche als Folge homosexueller Kontakte ausgesetzt sehen. Es scheint mir aber mehr als nur fragwürdig, ob sich der Gesetzgeber auf Schädigungen berufen darf, die nur vordergründig durch die Homosexuellen, in Wahrheit aber durch ihn selbst und die Werturteile, auf die er sich stützt, ausgelöst werden. Denn solche Schäden sind ja nichts anderes als Reflexwirkungen bestehender Diskriminierungen und nicht Wirkungen des diskriminierten Verhaltens selbst. Gewiß kann unter den heutigen Umständen – nach einer Formulierung von Winfried Hassemer – erwartet werden, „daß eine aus der ,Verleitung‘ zu homosexuellen Handlungen in jugendlichem Alter manifest gewordene Homosexualität für den Betroffenen Beeinträchtigungen seiner Person, verübt durch die Gesellschaft, mit sich bringen wird. Darin allein kann das Schutzgut beim Minderjährigenschutz gesehen werden: in der prognostizierbaren, irrationalen Reaktion der Gesellschaft auf Homosexualität. Sind die Bedingungen dieser Reaktion entfallen, so entfällt auch das Rechtsgut des Minderjährigenschutzes“ (aaO., S. 244 f.). Man braucht diesem Zitat wohl kaum noch hinzuzufügen, daß ein solches Schutzargument nicht gerade dazu angetan ist, das Festhalten an der bisherigen Regelung plausibel zu machen. Die Einsicht in solche von der Gesellschaft selbst hervorgerufenen Sekundärschäden ist dem kriminalpolitischen Denken zwar noch nicht wirklich geläufig, aber auf der anderen Seite auch nicht ganz neu. „Es mag sein“, so hat es bereits der Alternativ-Entwurf 1968 deutlich, wenn auch mit vorsichtigen Worten ausgedrückt, „daß solche Gefährdung (gemeint sind vorübergehende Traumatisierungen und seelische, geistige und soziale Entwicklungsgefährdungen) stark mit der traditionellen Verketzerung der männlichen Homosexualität bzw. ,des‘ Homosexuellen zusammenhängt. Aber einmal ist das ersichtlich nicht der einzige Grund für die möglichen Gefährdungen“ – die anderen Gründe bleiben im Alternativ-Entwurf allerdings undeutlich! -; „zum anderen läßt sich diese Verketzerung leider nicht mit einem Federstrich aus der Welt schaffen, zumal gerade auch der Gesetzgeber bislang zu ihr bedauerlich viel beigetragen hat“ (Alternativ-Entwurf 1968, S.35).

In ganz ähnlichem Sinne ist auch der Sonderausschuß des Bundestages in seinem Schriftlichen Bericht zum 4. Strafrechtsreformgesetz zu der Auffassung gelangt, daß gerade die Pönalisierung homosexueller Handlungen mit zu Störungen beitragen kann, die als psychische Folge früher homosexueller Kontakte offenbar beobachtet worden sind (BT-Drucks. VI/3521, S.30f.).

Müssen also solche psychischen Beschädigungen durch Recht und Moral vom Gesetzgeber ganz gewiß ernsthaft ins Auge gefaßt werden und ist auch dem Alternativ-Entwurf zuzugeben, daß ein Federstrich des Gesetzgebers für sich allein Verketzerung noch nicht beseitigt, so ist doch andererseits eindeutig: Das Strafrecht kann nicht ausgerechnet dort zum Rechtsgüterschutz eingesetzt werden, wo es für die festgestellten Rechtsgütergefährdungen selbst die Mitverantwortung trägt.

Was kann, was will die Öffent­lich­keit im Bereich der Homose­xu­a­lität tolerieren?

5. Ein Argument, das gerade im Bereich rechtspolitischer Entscheidungen von großer Suggestivkraft ist, besteht in der Toleranzschwelle der Öffentlichkeit. Die Frage lautet insofern: Was kann der Öffentlichkeit an Entkriminalisierung zugemutet werden, ohne daß negative Reaktionen und Rückschläge befürchtet werden müssen? Hier ist mit einem kriminalpolitischen Dilemma fertigzuwerden. Denn zweifellos gehört die prognostische Frage, ob die Öffentlichkeit fähig sein wird, eine bestimmte Entscheidung des Gesetzgebers zu verstehen und zu akzeptieren, grundsätzlich ins kriminalpolitische Kalkül.

Auf der anderen Seite muß aber deutlich gesehen werden, daß mit der Berücksichtigung der kollektiven Toleranzschwelle, was immer das empirisch sein mag, die mühsam eroberten Positionen im Selbstverständnis des Strafrechts als eines Instruments der Sozialpolitik wieder preisgegeben werden. Stellen wir nämlich bei rationaler, an wissenschaftlichen Kriterien sich orientierender Prüfung fest, daß es an nachweislichen Schädigungen fehlt und daher aus Gründen des Rechtsgüterschutzes kein Anlaß zur Anwendung des Strafrechts besteht, wäre die Berücksichtigung solcher Toleranzgrenzen nichts weiter als eine Konzession an vorhandene oder vermutete Wertvorstellungen und Vorurteile der Öffentlichkeitsmehrheit. Wir würden damit jene moralisierende Betrachtungsweise, von der sich das Strafrecht gerade mühsam losgesagt hat, durch die Hintertür sozialpsychologischer Prognosen wieder einlassen.

Zu fragen ist in diesem Zusammenhang übrigens, ob die Besorgnis, die in solcher Einschätzung kollektiver Reaktionen steckt, nicht die Lernfähigkeit der Öffentlichkeit unter- und ihr Interesse an der Materie überschätzt. Viele Fortschritte im Strafrecht wären ja niemals zu erzielen gewesen, wenn der Gesetzgeber immer nur ängstlich auf das Orakel der Demoskopie gelauscht hätte. Man darf die öffentliche Meinung wohl auch nicht zu sehr als erratischen Block sehen und sollte die moralische wie kulturelle Pluralität dieser Gesellschaft, die gerade in den letzten Jahren sehr deutlich zutage getreten ist, mit im Auge behalten. Zu berücksichtigen ist gewiß auch, welche Entwicklungen sich im vergangenen Jahrzehnt im Gefolge der Strafrechtsänderungen in den Bewertungen und Toleranzen der bundesdeutschen Öffentlichkeit gegenüber sexuell abweichendem Verhalten vollzogen haben: manchen gewiß zu langsam und schwerf’ällig, auf der anderen Seite aber doch erstaunlich dynamisch und schnell, wenn man die Vorurteilsverfestigungen und -traditionen einer langen Vergangenheit bedenkt.

Eine größere Gefahr scheint mir für das veränderte sozialpolitische Selbstverständnis des Strafrechts übrigens darin zu bestehen, daß es sich im parlamentarischen Bereich selbst noch nicht mit all seinen Konsequenzen durchgesetzt hat. Es ist zu befürchten, daß die Beratungen, vor allem aber das individuelle Abstimmungsverhalten, das ja zu keiner rationalen Begründung verpflichtet ist, noch immer von Gefühlsurteilen unterschiedlichster Art und Qualität beeinflußt werden. Um so nötiger sind Bemühungen schon im Vorstadium von Gesetzesinitiativen, in engem Kontakt mit der Wissenschaft zu sachlichen Klärungen zu gelangen – Bemühungen, die leider auch heute noch immer Seltenheitswert haben.

Das Fazit dieser Überle­gungen lautet:

Die bisher nur halbherzige Reform des Sexualstrafrechts sollte fortgesetzt und das kriminalpolitische Programm der Beschränkung des Strafrechts auf die Abwehr gravierender sozialschädlicher Verhaltensweisen konsequent realisiert werden. Im Falle des § 175 kann mich der bisherige sexualwissenschaftliche Erkenntnisstand nicht davon überzeugen, daß es richtig wäre, an der zur Zeit bestehenden Regelung festzuhalten. Ich möchte mich daher für eine G1eichstellung von Homosexualität und Heterosexualität im Strafrecht aussprechen und damit für die ersatzlose Streichung einer besonderen Jugendschutzvorschrift.

Literatur:

J. Baumann, A.-E. Brauneck u. a., Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches. Besonderer Teil. Sexualdelikte u. a., 1968.

W. Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens, 1973.

H. Jäger, Veränderung des Strafrechts durch Kriminologie? KrimJ 2 (1976), S. 98-113.

R. Lautmann, Sexualdelikte – Straftaten ohne Opfer? ZRP 1980, S. 44-49.

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