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Das bedin­gungs­lose Grund­ein­kommen - sozial­po­li­ti­sche Sackgasse oder Königsweg zur Demokratie?

10. November 2017

in: vorgänge Nr. 219 (3/2017), S. 67-76

Die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) erfreut sich in vielen politischen Lagern und sozialen Milieus einer hohen Beliebtheit. Welche sozial- wie wirtschaftspolitischen Erwartungen damit verbunden sind und welche Folgen die Einführung eines BGE in Deutschland hätte, erörtert Christoph Butterwegge im folgenden Beitrag. Nach seiner Einschätzung taugt das BGE allenfalls zur Bekämpfung absoluter Armut in Entwicklungsländern, in reichen Industrienationen wie Deutschland dagegen zementiere es die bestehende soziale Ungleichheit und senke die bisherigen, am (Sonder-)Bedarfsfall orientierten Sozialleistungen für die wirklich Bedürftigen. Wer mehr Gerechtigkeit wolle, komme deshalb um eine Umverteilung des Vermögens nicht herum.

Seit der Schweizer Volksabstimmung über das bedingungslose Grundeinkommen (BGE) am 5. Juni 2016 steht es nicht bloß in Ländern des globalen Südens, deren Bewohner_innen großteils unter absoluter bzw. existenzieller Armut leiden,[1] sondern auch in Ländern des globalen Nordens, wo diese Extremform der Armut eine untergeordnete Rolle spielt und relative Armut dominiert, auf der politischen Tagesordnung. In der Bundesrepublik Deutschland hat das Grundeinkommen zuletzt Eingang in die Koalitionsvereinbarung für das Land Schleswig-Holstein gefunden, wo ein Modellversuch stattfinden soll, falls sich CDU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP auf ein Konzept dafür einigen können.

Rahmen­be­din­gungen, Zusam­men­hänge und Hinter­gründe der BGE-Dis­kus­sion

Die sozialphilosophische Idee, sämtliche Bürger_innen vom Arbeitszwang zu befreien und Armut zu vermeiden, indem der Staat allen Gesellschaftsmitgliedern ein gleich hohes, ihre materielle Existenz auf einem Mindestniveau sicherndes Grundeinkommen zahlt, gewinnt durch die Verbindung der Gerechtigkeitsvorstellungen eines utopischen Sozialismus, bürgerlicher Gleichheitsideale und zentraler Funktionselemente der Marktökonomie an Resonanz. Gegenwärtig haben Grundeinkommensmodelle vor allem deshalb Hochkonjunktur, weil sie zumeist hervorragend mit dem neoliberalen Zeitgeist harmonieren,[2] also die Freiheit des (Wirtschafts-)Bürgers nicht gefährden, vielmehr „Selbstverantwortung“ und „Privatinitiative“ glorifizieren. Zugleich stellen sie die tradierten Mechanismen der kollektiven Absicherung von Lebensrisiken in Frage, auf die prekär Beschäftigte und Erwerbslose angewiesen sind, ohne jedoch den Eindruck sozialer Kälte zu hinterlassen, welcher der Regierungspolitik mittlerweile anhaftet. Darüber hinaus wird der bestehende Sozialstaat sogar von seinen Nutznießer(inne)n mit einer alles überwuchernden Bürokratie, Gängelungsversuchen und Schikanen der Arbeitsverwaltung, das Grundeinkommen dagegen mit Kreativität, Spontaneität und basisdemokratischer Selbstbestimmung identifiziert. Erst bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass der Sozialstaat durch die Verwirklichung des Grundeinkommens zerstört und die Demokratie noch mehr beschädigt würde.

Die zunehmende Spaltung wohlhabender Gesellschaften in Arm und Reich verlangt nach einer politischen Alternative, die viele Geringverdiener_innen und Transferleistungsbezieher_innen – aus ihrer Perspektive nachvollziehbar – im bedingungslosen Grundeinkommen sehen. Unter dem Kontrolldruck ihres Jobcenters stehende Bezieher_innen von Arbeitslosengeld II erwarten, sich mit Hilfe eines Grundeinkommens der Gängelung, Erniedrigung und Demütigung durch eine ausufernde Sozialbürokratie entziehen zu können. Sie hoffen, vom bisherigen Elend der Armen, die um Almosen betteln, und der ständigen Reformen, die – wie etwa Hartz IV – nur immer neue Verschlechterungen bewirkt haben,[3] befreit zu werden. Auch dass Mitglieder von Erwerbsloseninitiativen und Frauenorganisationen große Sympathie für ein bedingungsloses Grundeinkommen empfinden, ist verständlich. Schließlich würden die leidige Bedürftigkeitsprüfung sowie die Anrechnung des Partnereinkommens auf die Transferleistung entfallen, weil alle Wohnbürger_innen in seinen Genuss kämen und sich damit die Forderung nach einer eigenständigen sozialen Sicherung der Frau, die so alt ist wie der Wohlfahrtsstaat selbst, erfüllen ließe.

BGE-Protagonist(inn)en greifen eine dritte Große Erzählung unserer Zeit – neben der Globalisierung und dem demografischen Wandel – auf, die ebenfalls als Scheinargument für angeblich notwendige tiefgreifende Veränderungen des europäischen Sozialmodells herhalten muss: „Digitalisierung“ heißt das noch relativ junge Schlagwort, unter dem das Grundeinkommen quasi als Naturgesetzlichkeit erscheint, die aus technologischen Umbrüchen in der Arbeitswelt resultiert. Timotheus Höttges, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Telekom AG, hat sich prinzipiell für ein bedingungsloses Grundeinkommen ausgesprochen und ihm perspektivisch große Realisierungschancen zugebilligt: „Es könnte eine Lösung sein – nicht heute, nicht morgen, aber in einer Gesellschaft, die sich durch die Digitalisierung grundlegend verändert hat.“[4] Auf diese Weise wird unterstellt, dass der Wohlfahrtsstaat, wie man ihn bisher kannte, nicht zukunftsträchtig sei und die soziale Sicherung von der Lohnarbeit entkoppelt werden müsse, weil die Arbeitsgesellschaft an ihr Ende gekommen sei.

Modebegriffe wie „Industrie 4.0“ oder „Internet der Dinge“, Bilder einer menschenleeren Fabrik und Horrorszenarien, wonach die künftige Herrschaft der Algorithmen für einen Großteil der arbeitsfähigen Bevölkerung sämtliche Verdienstmöglichkeiten beseitigt, stilisieren das Grundeinkommen zum letzten Rettungsanker in einer aus den Fugen geratenen Welt. Dabei ist jegliche Panikmache unangebracht, weil der Gesellschaft auch bei früheren wissenschaftlich-technischen Umbrüchen wie der Mechanisierung, der Motorisierung, der Elektrifizierung und der Computerisierung nie die (Erwerbs-)Arbeit ausging, obwohl es vergleichbare Horrorszenarien gab.

Aus einem weiteren Quantensprung in der modernen Produktionstechnik, so er denn eintritt, müssten in Wahrheit ganz andere Schlussfolgerungen gezogen und radikalere Forderungen abgeleitet werden, als es die BGE-Anhänger_innen tun. „Wenn automatische Maschinen und Roboter und große gesellschaftliche Infrastrukturen und Netze immer mehr die Grundlagen der Reichtumsproduktion bilden, dann stellt sich die Frage nach Eigentum und Verfügung daran, also nach sozialistischen Alternativen jenseits des Kapitalismus.“[5]

Macht die Arbeit künftig tatsächlich „einen immer geringeren Anteil der gesamten Wertschöpfung“ aus, müssen Sozialleistungen gerade nicht „stärker steuerfinanziert“ werden, wie der Hamburger Ökonom Thomas Straubhaar behauptet.[6] Vielmehr könnte das Kapital auch durch eine sogenannte Wertschöpfungsabgabe (oft auch fälschlicherweise als „Maschinensteuer“ bezeichnet) stärker zur Entrichtung von Sozialversicherungsbeiträgen herangezogen werden.[7]

Mehr soziale Gerech­tig­keit durch Abschaffung des Sozial­staates und der Steuer­pro­gres­sion?

Politisch interessant und gesellschaftlich relevant wird das bedingungslose Grundeinkommen durch seine buntscheckige Anhängerschaft, die von manchen Vertreter_ innen der Unionsparteien über erhebliche Teile der Bündnisgrünen, die Piraten, wenige Sozialdemokrat(inn)en, Gewerkschafter_innen, Männer der christlichen Kirchen, fortschrittliche Soziologen (genannt seien Stephan Lessenich, Michael Opielka und Georg Vobruba), einen bekannten Ökonomen in der Tradition von Milton Friedman (Thomas Straubhaar) und einen prominenten Großunternehmer (Götz W. Werner) sowie einzelne Topmanager (etwa der Deutschen Telekom AG und der Siemens AG) bis zu Teilen der LINKEN (mit ihrer Parteivorsitzenden Katja Kipping an der Spitze) reicht.

Ein derart breit gefächertes politisches Spektrum verbindet mit einer Idee natürlich ganz unterschiedliche, teilweise sogar gegensätzliche Motive: „Während man am linken Rand die Erlösung des Prekariats aus kapitalistischer Lohnsklaverei und Armut sucht, zielt der rechte Rand auf die Befreiung des Kapitals von den Fesseln der Sozialstaatlichkeit.“[8] Ein Autorenteam um Heiner Flassbeck, unter Oskar Lafontaine kurzzeitig Staatssekretär im Bundesfinanzministerium und heute später Chef-Volkswirt der UN-Organisation für Welthandel und Entwicklung (UNCTAD), hält das BGE für ausgesprochen gefährlich, weil es bei Teilen des rechten politischen Spektrums die Illusion schaffe, mit einem (möglichst niedrigen) „Einkommen für alle“ darüber hinausreichende Verteilungsfragen auf Dauer zu unterbinden und so dem neoliberalen Ziel näher zu kommen, dass die „Tüchtigen“ erhalten, was sie am Markt erringen, während es auf der Linken die Illusion nähre, sowohl die Armut erfolgreich zu bekämpfen wie auch die Umwelt zu retten und die Frage nach den „wahren Werten“ des Lebens sinnvoll zu beantworten.[9]

Neoliberale hoffen, mittels des Grundeinkommens weitreichende Deregulierungskonzepte durchsetzen zu können. Exemplarisch genannt sei Thomas Straubhaar, dessen BGE-Modell den bestehenden Sozialstaat nicht bloß ergänzen soll: „Das Grundeinkommen ersetzt alle steuer- und abgabenfinanzierten Sozialleistungen: Es gibt weder gesetzliche Renten- und Arbeitslosenversicherung noch Arbeitslosengeld, Sozialhilfe, Wohn- und Kindergeld.“[10] Das bis 2014 von ihm geleitete Hamburgische Weltwirtschaftsinstitut (HWWI) ging in seiner Studie „Bedingungsloses Grundeinkommen und Solidarisches Bürgergeld – mehr als sozialutopische Konzepte“ noch weiter: „Es gibt keinen Schutz gegen Kündigungen mehr, dafür aber betrieblich zu vereinbarende Abfindungsregeln. Es gibt keinen Flächentarifvertrag mehr und auch keine Mindestlöhne, sondern von Betrieb zu Betrieb frei verhandelbare Löhne. Es gibt keine Sozialklauseln mehr. Die heute zu leistenden Abgaben an die Sozialversicherungen entfallen vollständig.“[11] Was zahlreichen Erwerbslosen fälschlicherweise als „Schlaraffenland ohne Arbeitszwang“ erscheint, wäre in Wirklichkeit ein wahres Paradies für Unternehmer, in dem abhängig Beschäftigte weniger Rechte als bisher hätten und Gewerkschaften überhaupt keine (Gegen-)Macht mehr entwickeln könnten.

Beim bedingungslosen Grundeinkommen handelt es sich um eine alternative Leistungsart, die mit der Konstruktionslogik des bestehenden, früher als Jahrhundertwerk gefeierten Wohlfahrtsstaates bricht sowie seine ganze Architektur bzw. Struktur zerstören würde. Dieser gründet in Deutschland nämlich auf einer Sozialversicherung, die in unterschiedlichen Lebensbereichen, -situationen und -phasen auftretende Standardrisiken (Krankheit, Alter, Invalidität, Arbeitslosigkeit und Pflegebedürftigkeit) kollektiv absichert, sofern der Versicherte und sein Arbeitgeber vorher entsprechende Beiträge gezahlt haben. Nur wenn dies nicht der Fall oder der Leistungsanspruch bei Arbeitslosigkeit erschöpft ist, muss man auf steuerfinanzierte Leistungen (Arbeitslosengeld II, Sozialhilfe) zurückgreifen, die bedarfsabhängig – d.h. nur nach einer Prüfung der Einkommensverhältnisse, vorrangigen Unterhaltspflichten und Vermögensbestände – gezahlt werden.

Peter Bofinger, gewerkschaftsnahes Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, betrachtet das Grundeinkommen als „Sargnagel für den Sozialstaat“, weil dieser seiner Ansicht nach dadurch unbezahlbar und zu einem „Almosenstaat“ verkümmern würde: „Gefährlich am Konzept des bedingungslosen Grundeinkommens ist das Nebeneinander von unbezahlbaren staatlichen Transfers mit einem völligen Kahlschlag bei den bisherigen sozialen Sicherungssystemen. Im Falle der Umsetzung ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass dann aufgrund der finanziellen Restriktionen sämtliche staatlichen Leistungen auf einem Niveau fixiert würden, das noch unter dem heutigen Niveau des Arbeitslosengeldes II liegen würde.“[12]

Straubhaars BGE-Modell läuft auf die Zerstörung des lebensstandardorientierten Sozialversicherungsstaates hinaus, bezweckt die Senkung der Lohnnebenkosten durch Streichung der Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung und bewirkt eine weitere finanzielle Entlastung von Reichen und Hyperreichen durch Abschaffung der Steuerprogression, einer historischen Errungenschaft der Moderne. In seinem Buch „Radikal gerecht“ charakterisiert Straubhaar das bedingungslose Grundeinkommen als „Steuersystem, das auf einem Bierdeckel erklärt werden kann.“[13] Ein unsoziales Konzept zur Reform der Einkommensteuer, das Paul Kirchhof, Heidelberger Steuerrechtler und früherer Bundesverfassungsrichter, sowie Friedrich Merz, damals Vorsitzender der Unionsfraktion im Bundestag und heute Aufsichtsratsvorsitzender der deutschen Tochter des weltgrößten Vermögensverwalters BlackRock Inc., um die Jahrtausendwende entwickelt hatten, stand offenbar Pate und feiert heute im Gewand des bedingungslosen Grundeinkommens fröhliche Urständ.

Thomas Straubhaar will das Grundeinkommen allen Bürger(inne)n unabhängig von ihrem jeweiligen Einkommen steuerfrei gewähren. Dies sei „schlicht nichts anderes als ein Verrechnungsvorgang zum Zwecke der bürokratischen Vereinfachung. Alle erhalten zunächst eine Steuergutschrift. Alle zahlen danach auf alle Einkommen Steuern – der Besserverdienende mehr als der Geringverdienende.“[14] Zusätzliches, in Deutschland anfallendes Einkommen jeglicher Art soll an der Quelle erfasst und „mit einem einheitlichen und für alle Einkommen gleichbleibenden Steuersatz belastet“ werden.[15] Wenn es nach Straubhaar ginge, würde für den Einkommensmillionär also derselbe Steuersatz wie für den Normalverdiener gelten, was man kaum gerecht nennen kann.

Würden (fast) alle bisherigen Transferleistungen zu einem Grundeinkommen verschmolzen, wäre das Ziel neoliberaler Reformer, einen „Minimalstaat“ zu schaffen, gewissermaßen nebenbei erreicht. Schließlich mangelt es prominenten BGE-Befürwortern an Empathie, sozialer Sensibilität und Solidarität mit Unterprivilegierten. Da bezeichnet etwa Götz Werner, Gründer eines Drogeriekonzerns und Hauptvertreter des medienwirksamsten BGE-Modells hierzulande, ausgerechnet die Mehrwertsteuer als „erfolgreichste“ Steuerart.[16] Über ihre Erhöhung auf über 50 Prozent möchte Werner das Grundeinkommen finanzieren, obwohl sie kinderreiche Familien von Geringverdiener(inne)n und Transferleistungsbezieher(inne)n besonders hart trifft, weil diese praktisch ihr gesamtes Einkommen vor Ort in den Alltagskonsum stecken (müssen).

Werner, der die Steuerprogression – eine soziale Errungenschaft der Moderne – als „etwas Konstruiertes“ abtut, will sämtliche Unternehmens-, Kapital- und Gewinnsteuern für Reiche abschaffen, während Mittelschichtangehörige und Arme ihr Grundeinkommen selbst finanzieren sollen, wenn sie einkaufen gehen. Bei dem von Thomas Straubhaar entwickelten Modell, das gleichfalls ein Grundeinkommen von 1.000 Euro pro Person vorsieht (von dem allerdings noch der Beitrag für die – private – Krankenversicherung abgeht) und alle Einkommen mit dem Einheitssteuersatz von 50 Prozent belegt, würden vor allem gut verdienende Mittelschichtangehörige stärker als bisher belastet.

(Bedarfs-)Gerech­tig­keit vs. Bedin­gungs­lo­sig­keit des Grund­ein­kom­mens

Während Michael Opielka, früher bündnisgrüner „Cheftheoretiker“ im Bereich der Sozialpolitik und heute Jenaer Hochschullehrer für Soziologie, das bedingungslose Grundeinkommen als „bestes Mittel im Kampf gegen Armut“ anpreist, bestreitet Enno Schmidt, Mitbegründer der Schweizer Initiative Grundeinkommen, dass es überhaupt der Armutsbekämpfung dient.[17] Aufgrund seiner mangelnden Zielgenauigkeit eignet sich das bedingungslose Grundeinkommen nur sehr bedingt zur Verringerung oder zur Verhinderung der Neuentstehung von Armut. Bekämen alle Bürger_innen vom Staat 1.000 Euro pro Monat, nähme zwar die absolute, nicht jedoch die in Deutschland klar dominierende relative Armut deutlich ab. Vielmehr würde die von der EU bei 60 Prozent des mittleren bedarfsgewichteten Einkommens angesetzte Armuts(risiko)schwelle bloß so weit nach oben verschoben, dass man ihr mit diesem Betrag allein nahe bliebe. Um dies zu ändern, müsste man trotz Grundeinkommensbezug erwerbstätig sein, wodurch ein indirekter Arbeitszwang fortbestünde.

Als ein Kombilohn für alle könnte das bedingungslose Grundeinkommen wirken, weil der Staat für die Reproduktion der Ware Arbeitskraft aufkäme und die Unternehmer entsprechend weniger dafür aufwenden müssten. Da die Menschen nicht bloß der Existenzsicherung wegen arbeiten, sondern auch, weil sie darin ihren Lebenssinn sehen, sich nützlich machen wollen und/oder der Gesellschaft etwas zurückgeben möchten, dürften die meisten BGE-Empfänger_innen an einer Weiterbeschäftigung interessiert sein. Der ausufernde Niedriglohnsektor, heute das Haupteinfallstor für Erwerbs- und spätere Altersarmut in Deutschland, würde deshalb nicht eingedämmt wie etwa durch einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn in existenzsichernder Höhe,[18] sondern womöglich noch massiver durch den Staat subventioniert.

Wer über die Art seiner Refinanzierung nicht sprechen will, sollte auch vom bedingungslosen Grundeinkommen schweigen. Hier liegt die politische Achillesferse des Grundeinkommens, geraten seine Befürworter_innen doch zwangsläufig in folgendes Dilemma:

a) Entweder bekommen alle (Wohn-)Bürger_innen das Grundeinkommen unabhängig von ihren jeweiligen Einkommens- und Vermögensverhältnissen. In diesem Fall müssten riesige Finanzmassen bewegt werden, die das Steueraufkommen von Bund, Ländern und Gemeinden weit übersteigen und die Verwirklichung des Grundeinkommens ins Reich der Phantasie verweisen. Auch stellt sich unter Gerechtigkeitsaspekten die Frage, warum Vermögende und Spitzenverdiener vom Staat monatlich ein von ihnen als bescheiden empfundenes Zubrot erhalten sollen, während beispielsweise Schwerstbehinderte mehr als den für sämtliche Empfänger_innen einheitlichen Geldbetrag viel nötiger hätten.

b) Oder wohlhabende und reiche Bürger bekommen das Grundeinkommen nicht bzw. im Rahmen der Steuerfestsetzung wieder abgezogen; dann ist es weder allgemein und bedingungslos, noch entfällt die Bedarfsprüfung, denn es müsste ja in jedem Einzelfall herausgefunden werden, ob die Anspruchsvoraussetzungen nicht durch (verdeckte) anderweitige Einkünfte z.B. aus Schwarzarbeit verwirkt sind. Somit wären Erwerbslose einem ähnlichen Kontrolldruck wie gegenwärtig ausgesetzt, auch wenn er vom Finanzamt statt von einem Jobcenter ausgeübt würde. Absurd wäre es, nur Erwerbseinkommen auf das Grundeinkommen anzurechnen, wie es die Schweizer Initiative Grundeinkommen vorschlägt: Wer von Kapitalerträgen, Zinsen oder Dividenden lebt, würde das Grundeinkommen also zusätzlich erhalten, wodurch sich dessen Refinanzierung erschweren und die Kluft zwischen Arm und Reich fast zwangsläufig vertiefen würde.

CDU, CSU und SPD haben als Regierungsparteien eine Steuerpolitik nach dem Matthäus-Prinzip betrieben,[19] heißt es doch im Evangelium des Matthäus sinngemaß: „Wer hat, dem wird gegeben, und wer nicht viel hat, dem wird auch das noch genommen.“ Dies durch eine Sozialpolitik nach dem Gießkannenprinzip zu ersetzen, wie mit dem Grundeinkommen geplant, würde kaum etwas nützen. Nötig wäre vielmehr eine Konzentration staatlicher Ressourcen auf Bedürftige, wohingegen Reiche und Hyperreiche nicht zusätzliche Finanzmittel erhalten, sondern durch einen höheren Spitzensteuersatz, die Wiedererhebung der Vermögensteuer, eine progressive Ausgestaltung der Kapitalertragsteuer sowie eine konsequentere Besteuerung großer Erbschaften und Schenkungen stärker zur Kasse gebeten werden sollten.

Thomas Straubhaar begründet, warum das Grundeinkommen seiner Ansicht nach „gerecht“ ist, folgendermaßen: „Es behandelt alle gleich, belastet aber die Leistungsstarken mehr als die Leistungsschwachen.“[20] Seit den griechischen Philosophen des Altertums ist allerdings bekannt, dass Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandelt werden muss, soll es gerecht zugehen. Der besondere Charme des Grundeinkommens liegt hingegen in seiner organisatorischen Einfachheit, die durch den Verzicht auf eine Bedürftigkeitsprüfung entsteht, was jede Differenzierung nach der Lebenssituation ausschließt: „Es kann daher weder eine Gleichheit im Ergebnis, sei es in Ressourcen oder in Wohlergehen, erreichen noch eine Gleichheit in den Lebenschancen.“[21]

Milliardären denselben Geldbetrag wie Müllwerkern und Multijobberinnen zu zahlen, verfehlt das Ziel einer „austeilenden Gerechtigkeit“ (Aristoteles), weil die sozialen Gegensätze nicht beseitigt, sondern zementiert würden. Wer die soziale Ungleichheit verringern und die Armut wirksam bekämpfen will, muss Umverteilung von oben nach unten betreiben. Das bedingungslose Grundeinkommen trägt hierzu höchstens dann bei, wenn es über die Erhöhung/Erhebung von Gewinn- bzw. Vermögensteuern finanziert wird, was jedoch nur in völlig chancenlosen Modellen der Fall ist. Beinahe scheint es, als wollten die linken BGE-Anhänger_innen den Kommunismus im Kapitalismus verwirklichen, ist es doch nach dem Lebensmodell eines Lotteriegewinners, d.h. so konstruiert, dass sich an der ungerechten Vermögensverteilung nichts ändert.

Um die soziale Gerechtigkeit bzw. die Gleichheit der Einkommens- und Vermögensverhältnisse zu fördern, muss eine staatliche Transferleistung bedarfsabhängig und nicht bedingungslos gezahlt werden. Das bedingungslose Grundeinkommen ist elitär und pseudoegalitär, weil es so tut, als bestünde die soziale Gleichheit schon, obwohl sie in Wirklichkeit erst geschaffen werden muss.

Fazit, Schluss­fol­ge­rungen und Alter­na­tiven

Wie gezeigt wurde, ist das bedingungslose Grundeinkommen kein Patentrezept gegen die soziale Ungleichheit, die Armut oder die Erwerbslosigkeit. Vielmehr würde es dem Staat erlauben, seine beschäftigungspolitische Passivität mit einer großzügigen Geldzahlung an die (potenziell) Betroffenen zu rechtfertigen. Die von der Digitalisierung erzeugten Rationalisierungsverlierer_innen per Grundeinkommen ruhigzustellen, mag im Sinne der Herrschenden, kann aber nicht das Ziel einer sozialen Bewegung sein. Daniel Kreutz, früher Abgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen im nordrhein-westfälischen Landtag, hält das bedingungslose Grundeinkommen denn auch nicht für eine geeignete Strategie, um die soziale Ausgrenzung von Transferleistungsbezieher(inne)n zu überwinden. Vielmehr schwängen dabei immer „quasireligiöse Erlösungshoffnungen“ mit: „In der realen Welt kann eine Forderung, die sich gegen das konkrete Elend des Hartz-Regimes zu richten scheint, deren Realisierung aber eine andere Gesellschaft mit ‚anders gestrickten‘ Menschen immer schon abstrakt voraussetzt, keinen gangbaren Weg bieten.“[22]

Um noch einmal auf den Anfang meiner Überlegungen zurückzukommen: Die absolute Armut in Ländern der sog. Dritten Welt kann man mit der Zahlung eines niedrigen Geldbetrages an sämtliche Bewohner_innen möglicherweise nachhaltig lindern. Um die relative Armut in wohlhabenden, wenn nicht reichen Ländern wie der Bundesrepublik zu verringern, muss man jedoch den Reichtum antasten, sprich: riesige Geldsummen umverteilen. Dies tut ein bedingungsloses Grundeinkommen aber gerade nicht, weil es Ungleiches gleich behandelt und Vermögende finanziell ungeschoren lässt.

Außerdem stehen einer Realisierung der Forderung nach einem Grundeinkommen in Ländern des globalen Nordens erhebliche organisatorisch-technische Umsetzungsschwierigkeiten entgegen, etwa bedingt durch ihre wirtschaftlichen Verflechtungen mit anderen Staaten: „Selbst wenn es gelänge, das unbedingte und universelle Grundeinkommen nach dem Territorialprinzip mit Erstwohnsitz in Deutschland zu beschränken – was rechtlich nicht gesichert ist – müsste mit einer starken Sogwirkung auf Zuwanderer aus anderen EU-Ländern und auch aus Nicht-EU-Ländern gerechnet werden; denn jeder EU-Bürger könnte sich durch Einwanderung nach Deutschland ein an den deutschen Standards orientiertes sozio-kulturelles Existenzminimum ohne jegliche Anstrengung und Gegenleistung beschaffen.“[23] Vermutlich würde die Migrations- und Integrationspolitik der etablierten Parteien im Falle einer Verwirklichung des bedingungslosen Grundeinkommens also noch restriktiver, weil sie die Schließung der Grenzen mit einem andernfalls drohenden Zustrom bedürftiger Ausländer_innen begründen könnten.

An die Stelle einer Marktgesellschaft, in der Konkurrenz, ökonomische Effizienz und soziale Selektivität herrschen, muss ein inklusiver Sozialstaat treten, der die Armen nicht ausgrenzt, sondern einschließt und zu gleichberechtigter politischer Partizipation befähigt. Es geht um eine nachhaltige Ermächtigung der Unterprivilegierten, die ohne eine grundlegende Änderung der bestehenden Eigentums-, Macht- und Herrschaftsverhältnisse nicht möglich ist. Damit die Demokratie eine Regierungsform ist, in der sich alle wiederfinden – sonst handelt es sich ja gar nicht um eine „Herrschaft des Volkes“ –, muss sie eine soziale Demokratie sein, die Armut jeglicher Art energisch bekämpft. Tut sie das nicht, werden jene Gesellschaftsmitglieder am meisten enttäuscht, die ihre personelle Basis bilden müssten.

In einem so hoch entwickelten Industriestaat wie der Bundesrepublik Deutschland steht und fällt die Demokratie mit einem funktionstüchtigen Sozialsystem, das die unterschiedlichen Arbeits- und Lebensbedingungen seiner (Wohn-)Bürger_innen berücksichtigt, also zumindest dem Anspruch nach bedarfsgerecht ist und nicht alle Personen, unabhängig von ihrer spezifischen materiellen Lage, über einen Kamm schert. Durch das sich auf eine Geldleistung kaprizierende Grundeinkommen würden die Menschen zudem sämtlicher Dienst- und Sachleistungen verlustig gehen, die der moderne Sozialstaat für sie bereithält – von der ärztlichen Versorgung über diverse Beratungs- und Betreuungsangebote bis zu Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation.

Eine sinnvolle Alternative zum Grundeinkommen, das – wie gezeigt – das Ende des bisherigen Wohlfahrtsstaates bedeuten würde, wäre dessen Um- bzw. Ausbau durch Schaffung einer solidarischen Bürgerversicherung.[24] Anstatt den bestehenden Sozialversicherungsstaat zu zerstören und durch ein steuerfinanziertes System zu ersetzen, sollte man ihn durch die Aufnahme bisher nicht einbezogener Bevölkerungsgruppen (Selbstständige, Freiberufler_innen, Beamte, Abgeordnete und Minister_innen), die Verbeitragung sämtlicher Einkunftsarten (auch Zinsen, Dividenden, Tantiemen sowie Miet- und Pachterlöse) sowie die Aufhebung der Beitragsbemessungs- bzw. Versicherungspflichtgrenzen auf ein solides Fundament stellen. Konstitutiver Bestandteil dieses Sozialstaates der Zukunft wäre eine soziale Grundsicherung, die ihren Namen im Unterschied zu Hartz IV wirklich verdient hätte. Sie müsste bedarfsgerecht, armutsfest und repressionsfrei sein, also ohne Sanktionen auskommen.

CHRISTOPH BUTTERWEGGE   Jahrgang 1951, studierte bis 1975 Sozialwissenschaft, Philosophie, Rechtswissenschaft und Psychologie an der Ruhr-Universität Bochum. Er promovierte an der Universität Bremen mit einer Arbeit über „SPD und Staat heute“ zum Dr. rer. pol. (1980), seine Habilitation (1990) untersuchte Theorie und Praxis der österreichischen Sozialdemokratie. Nach einer wissenschaftlichen Mitarbeit in der Bremischen Stiftung für Rüstungskonversion und Friedensforschung (1991-94) und einer Vertretungsprofessur für Sozialpolitik an der FH in Potsdam (1994-1997) war er von 1998 bis zu seinem Ruhestand Ende Juli 2016 Professor für Politikwissenschaft am Institut für vergleichende Bildungsforschung und Sozialwissenschaften an der Universität Köln. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen u.a. Armut, soziale Gerechtigkeit und Demokratie sowie Migration, Rechtsextremismus und Rassismus.

Anmerkungen:

1 Vgl. Pranab Bardhan, Grundeinkommen für den Süden?, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2016, S. 29 f.

2 Vgl. hierzu: Christoph Butterwegge/Bettina Lösch/Ralf Ptak, Kritik des Neoliberalismus, 3. Aufl. Wiesbaden 2016

3 Vgl. Christoph Butterwegge, Hartz IV und die Folgen. Auf dem Weg in eine andere Republik?, 2. Aufl. Weinheim/Basel 2015, S. 69 ff.

4 „Der Unterschied zwischen Mensch und Computer wird in Kürze aufgehoben sein“. Interview mit Timotheus Höttges, in: Die Zeit v. 30.12.2015

5 Ralf Krämer, Zu kurz gesprungen. Seit den 1980ern wird über eine „Maschinensteuer“ diskutiert – bisher ohne Konsequenzen, in: Neues Deutschland v. 15.6.2016

6 „Gegen die Lobbymacht der Senioren können Sie keine Politik machen“, Interview mit Thomas Straubhaar, ZEIT Online, 7.4.2016

7 Vgl. hierzu und zum Folgenden: Christoph Butterwegge, Krise und Zukunft des Sozialstaates, 5. Aufl. Wiesbaden 2014, S. 388 ff.

8 Daniel Kreutz, Bedingungslose Freiheit? – Warum die Grundeinkommensdebatte den Freunden des Kapitalismus in die Hände spielt, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2010, S. 66

9 Siehe Heiner Flassbeck u.a., Irrweg Grundeinkommen. Die große Umverteilung von unten nach oben muss beendet werden, Frankfurt am Main 2012, S. 9

10 Thomas Straubhaar, Radikal gerecht. Wie das bedingungslose Grundeinkommen den Sozialstaat revolutioniert, Hamburg 2017, S. 100

11 Ingrid Hohenleitner/Thomas Straubhaar, Bedingungsloses Grundeinkommen und Solidarisches Bürgergeld – mehr als sozialutopische Konzepte, in: ders. (Hg.), Bedingungsloses Grundeinkommen und Solidarisches Bürgergeld – mehr als sozialutopische Konzepte, Hamburg 2008, S. 20 f.

12 Peter Bofinger, Ist der Markt noch zu retten? – Warum wir jetzt einen starken Staat brauchen, Berlin 2009, S. 215

13 Siehe Thomas Straubhaar, Radikal gerecht. Wie das bedingungslose Grundeinkommen den Sozialstaat revolutioniert, Hamburg 2017, S. 108

14 Ebd., S. 16

15 Siehe ebd., S. 99

16 „Grundeinkommen? Da geht es um die Ziele der Aufklärung“. Götz Werner hat dm zum Drogerie-Riesen gemacht und will, dass der Staat jedem 1000 Euro auszahlt, in: Der Freitag v. 25.5.2016

17 Siehe Michael Opielka, zit. nach: Marie Rövekamp, Bedingungsloses Grundeinkommen: Ein Auskommen für alle?, in: Der Tagesspiegel v. 4.6.2016; „Bedingungslosigkeit ist weder radikal noch spektakulär“, Interview mit Enno Schmidt, in: taz v. 28./29.5.2016

18 Vgl. hierzu: Christoph Butterwegge, Armut in einem reichen Land. Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird, 4. Aufl. Frankfurt am Main/New York 2016, S. 296 ff.

19 Vgl. hierzu ausführlich Christoph Butterwegge 2016 (Anm. 18).

20 Thomas Straubhaar, Radikal gerecht, a.a.O., S. 29

21 Ulrich Metschl, Grundeinkommen und Gleichheit – egalitaristische Grundlagen der nach einem bedingungslosen Grundeinkommen, in: Rigmar Osterkamp (Hg.), Auf dem Prüfstand: Ein bedingungsloses Grundeinkommen für Deutschland?, Baden-Baden 2015, S. 67

22 Daniel Kreutz, Zur Kritik des „bedingungslosen Grundeinkommens“, in: Jochen Marquardt/Bianca Sonnenberg/Jan Sudhoff (Hg.), Es geht anders! – Neue Denkanstöße für politische Alternativen, Köln 2014, S. 202.

23 Richard Hauser, Alternativen einer Grundsicherung – soziale und ökonomische Aspekte, in: Gesellschaft – Wirtschaft – Politik 3/2006, S. 339

24 Vgl. hierzu und zum Folgenden ausführlicher: Christoph Butterwegge, Armut, 2. Aufl. Köln 2017, S. 105 ff.

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