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Grundrechte – nur gegen Bezugs­schein

05. Februar 2011

Wie auch immer der Kompromiss zwischen Regierung und Opposition zu den neuen Hartz-IV-Sätzen aussehen wird, der am 11. Februar in Bundesrat und Bundestag beschlossen werden soll, fest steht schon jetzt: Eine befriedigende Lösung der Hartz-IV-Problematik wird er nicht bringen.

Grundrechte – nur gegen Bezugsschein

Die Frist ist längst abgelaufen – doch wirklich verbessern wird sich auch mit Verspätung nichts. Wie auch immer der Kompromiss zwischen Regierung und Opposition zu den neuen Hartz-IV-Sätzen aussehen wird, der am 11. Februar in Bundesrat und Bundestag beschlossen werden soll, fest steht schon jetzt: Eine befriedigende Lösung der Hartz-IV-Problematik wird er nicht bringen.

Zehn Monate, bis zum 31. Dezember 2010, hatte das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber gegeben, um transparent, sachgerecht und nachvollziehbar das „Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums“ – wie es im 1. Leitsatz des Urteils vom 9. Februar 2010 heißt – für die Langzeitarbeitslosen und ihre Kinder neu zu regeln. Menschenwürde und Sozialstaatsprinzip sollten „jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zusichern, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind.“ Vor allem die Berechnung der Bedarfssätze für die Kinder sollte überarbeitet werden. Diese waren von den Richtern als „freihändige Setzung ohne irgendeine empirische und methodische Fundierung“ gegeißelt worden. Die unverschnörkelten Aussagen der Richter sind eigentlich für jedermann verständlich. Sie formulieren einen klaren Auftrag und eine klare Erwartung an den Bundesgesetzgeber, der für die Grundsicherung im Sozialgesetzbuch II zuständig ist.

Doch wer die Hoffnung gehegt hatte, nach diesem Urteil bräche endlich eine breite öffentliche Debatte über Bildungsarmut, die verkorkste Föderalismusreform, das Kooperationsverbot zwischen Bund und Kommunen oder gar über gesamtstaatliche Verantwortung gegenüber den ärmsten 20 Prozent in dieser Gesellschaft aus, muss feststellen: Die verletzte Menschenwürde der Hilfebedürftigen und ihrer Kinder ist kein Thema. Große Schlagzeilen machen dagegen die Sarrazins und die Westerwelles, die scham- und respektlos über dumme Arbeitslose, anpassungsunwillige Araber und Türken, alleinerziehende Mütter ohne Verantwortung und Fastfood futternde, übergewichtige Kinder aus Armutsfamilien herziehen.

Diese öffentliche und von zahlreichen Medien breit unterstützte Stimmungsmache hat gewirkt; die schwarzgelbe Regierung hatte leichtes Spiel. Bis zum Spätsommer ließ sie die diffamierende Debatte laufen, spornte sie teils sogar an, um drei Monate vor Ablauf der Frist zu verkünden: Genug der staatlichen Fürsorge, es gibt fünf Euro mehr für die Erwachsenen und Antragsformulare für die Kinder und Jugendlichen. Obwohl diesmal Expertinnen und Experten den Gesetzgeber klar auf die angewandten Tricks und Winkelzüge bei der Interpretation der Einkommens- und Verbrauchsstatistik hinwiesen [1], winkten CDU, CSU und FDP das Gesetz durch und stellten sich damit ihr eigenes Armutszeugnis aus.

Sozial­po­li­ti­sche Arroganz

Empörend bleiben vor allem die Gesetzeslösungen zum Grundrechtsanspruch der Kinder und Jugendlichen. Diese haben sich weit entfernt von Werten, auf die sich Christdemokraten und Liberale ansonsten gerne berufen. Merkel, die sogenannte Mutti der Nation, und ihre Arbeitsministerin, „Supermutti“ Ursula von der Leyen, zeigen keinerlei Respekt gegenüber armen Eltern und ihren Kindern. Und so ist das präsentierte Gesetz arrogant, bevormundend und entmutigend für die betroffenen Hilfebedürftigen, die unter den Generalverdacht des Missbrauchs und der Unverantwortlichkeit gestellt werden. Der kurzatmige Gesetzgebungsprozess hat Kritik, Einwände oder Widersprüche gar nicht zur Kenntnis genommen. Das Duo Merkel/von der Leyen setzte sich schlicht über Armutsberichte und wissenschaftliche Forschungsergebnisse hinweg, die handfeste Belege dafür liefern, dass sich gerade arme Familien und alleinerziehende Mütter unter großen persönlichen Entbehrungen um positive Lebens- und Entwicklungschancen für ihre Kinder bemühen.

Massive Kritik an diesem Gesetz ist also angebracht: Während die Verfassungsrichter die Kinder in Armutsverhältnissen nicht nur als Grundrechtsträger anerkannt, sondern ihnen auch einen Anspruch auf soziale und kulturelle Teilhabe zugesprochen haben, nimmt der Gesetzgeber den Kindern diesen Anspruch und überträgt ihn vormundschaftlich auf eine Behörde. Ihre Grundrechte werden so lediglich auf Bezugsschein gewährt, der von einem Amt zugeteilt, geprüft, gewährt und kontrolliert wird, das weder kulturell noch bildungspolitisch kompetent und darüber hinaus abhängig vom Bundesarbeitsministerium ist.

Seit der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe sind die
Bundesagentur für Arbeit (BA), ihre Jobcenter und Arbeitsgemeinschaften sozialpolitisch überfordert, wie die Klageflut gegen Hartz-IV-Auslegungen in den Ämtern belegt. Nicht zuletzt durch den Einfluss der Arbeitgeberverbände und der Gewerkschaften in der BA orientiert sich die Arbeit der BA-Angestellten am Arbeitsmarkt und an der Wirtschaft; als Sozialarbeiter der Nation verstehen sie sich keineswegs – auch wenn sie durch das neue Gesetz immer mehr in diese Rolle gedrängt werden. Über 1000 neue BA-Mitarbeiter sollen nun eingestellt werden, um Bildungschancen unter den ärmsten Kindern zu verteilen. Das ist nicht nur unverhältnismäßig teuer, sondern zugleich vom Grundsatz her falsch.

Föderales Kompe­tenz­ge­rangel

Zwar hat die Bundeskanzlerin vor wenigen Wochen in großen Anzeigen den „lieben Mitbürgerinnen und Mitbürgern“ die Gründung einer „Bildungsrepublik“ versprochen. Allerdings hat ihre Regierung seit dem Inkrafttreten der ersten Föderalismusreform vor fünf Jahren keine direkte bildungspolitische Kompetenz mehr: Der kooperative Bundesstaat hat sich im Wettbewerbsföderalismus verflüchtigt [2], in dem sich nun der Bund durch Parallel- und Nebenstrukturen verlorenen Einfluss zurückzuerobern sucht. Ihre diesbezügliche Findigkeit bewies Ursula von der Leyen bereits als Familienministerin mit der Konstruktion eines Sonderfonds, aus dem allein die Länder bis 2013 Geld für die frühkindliche Betreuung und Bildung der unter Dreijährigen entnehmen können, ebenfalls nur gegen Nachweis. Verschleppen (wie es derzeit geschieht) die Länder die Programme, bleibt die finanzpolitische Trumpfkarte in Berlin.

Als Bundesarbeitsministerin reichen von der Leyen nun Rechtsverordnungen, um von oben nach unten durchzuregieren. So kann sie die Kontrolle über die soziokulturelle Teilhabe der Hartz-IV-Kinder mittels einer Chipkarte anordnen, auch ohne Zustimmung des Bundesrats. Diese Chipkarte wird die Ministerin gegen alle Einwände der Datenschützer und Bürgerrechtler einführen, wenn das System der Bezugsscheine nicht funktioniert und bei den armen Kindern nichts von dem ankommt, was die Bundeskanzlerin vollmundig in ihrer Anzeigenkampagne versprochen hat: „Wir wollen Kindern aus Familien mit niedrigem Einkommen helfen – etwa mit Nachhilfe, warmem Essen in der Schule und einem Zuschuss für Freizeitaktivitäten.“

Auch die Bundesagentur für Arbeit dient von der Leyen als sozial- wie bildungspolitische Nebenstruktur, um in die Kommunen, die Kinder- und Jugendhilfe, aber auch in Schulen oder Kindertagesstätten hineinwirken zu können. Kinder- und Jugendämter, die Träger der Kindertagesstätten, die Schulen und die Kultusministerien werden sich somit auf massive Schuldzuweisungen
und PR-Aktionen der Ministerin einzustellen haben.

Bildungs­po­li­ti­scher Offen­ba­rungseid

Besonders schwer wiegen die bildungspolitischen Ein- und Widersprüche gegen das Gesetz. Das verbal groß aufgezäumte Bildungspaket, mit dem sich von der Leyen und die schwarz-gelbe Regierung schmücken, ist im Grunde eine Luftnummer: So werden künftig die von der großen Koalition beschlossenen 100 Euro zum Schulstart nur noch zweigeteilt – einmal 70, einmal 30 Euro – ausgezahlt, weil die „verantwortungslosen“ Hartz-IV-Eltern doch tatsächlich alles auf einmal beim Schulstart ausgegeben hätten. Jetzt kontrolliert ein staatlicher Vormund, der sich von den Eltern sogar Rechnungen und Belege vorlegen lassen kann.

Ähnlich absurd ist die Regelung zur Nachhilfe für Kinder aus Hartz-IV- oder Sozialhilfeempfänger-Familien. Während die Verfassungsrichter schulpflichtigen Kindern in jeder Hinsicht Unterstützung bieten wollten („Notwendige Aufwendungen zur Erfüllung schulischer Pflichten gehören zu ihrem existentiellen Bedarf.“), sind Beamte im Arbeitsministerium offenbar überzeugt, dass ein Kind aus einer Hartz-IV-Familie seine schulische Pflicht schon dann erfüllt, wenn es nicht sitzen bleibt. Nur wenn die Versetzung gefährdet ist und die Schulen ihren „blauen Brief“ verschickt haben, dürfen die Eltern einen Antrag auf Nachhilfe beim behördlichen Vormund einreichen, der diesen dann prüft und darüber entscheidet. Wem allerdings die schulpraktischen Abläufe zwischen dem „blauen Brief“ und den Versetzungskonferenzen bekannt sind, der weiß, dass das versetzungsgefährdete Hartz-IV-Kind so keine Chance mehr hat, rechtzeitig eine wirksame Nachhilfe zu bekommen.

Ohnehin ist es nach der Gesetzeslage nicht vorgesehen, Nachhilfe zu gewähren, wenn das Sitzenbleiben feststeht oder das Hartz-IV-Kind auf die Idee kommen sollte, mit Nachhilfe seine Noten so zu verbessern, um es auf eine weiterführende, höhere Schule zu schaffen. Im Zweifel soll der behördliche Vormund in den Schulen nachfragen. Damit stolpern dann die Lehrerinnen und Lehrer in eine Falle: Aus datenschutzrechtlichen Gründen dürfen sie eigentlich nicht wissen, welche ihrer Schülerinnen und Schüler von Hartz IV oder Sozialhilfe leben. Andererseits müssten sie Versetzungsprobleme frühzeitig bemerken und den Eltern zu Nachhilfe-Anträgen raten. Die Folge sind den Datenschutz verletzende Offenlegungen auf allen Seiten.

In dem gesamten Gesetzgebungsprozess über den Grundrechtsanspruch für die schulpflichtigen Kinder aus Hartz-IV-Familien schwiegen sich die Kultusminister bisher aus. Sie äußerten sich auch nicht zu den Versprechungen der Berliner Politmütter zum warmen Essen in der Schule. Dabei liegen nur Vermutungen vor, an wie vielen Schulen der Republik die eng definierte Gesetzesvorschrift von einem warmen Mittagessen in schulischer Gemeinschaft (das heißt: mindestens drei Mal in der Woche) erfüllt ist. Nur dann zahlt der Vormund der BA nämlich einen Zuschuss. Bildungsforscher schätzen, dass bisher nur 15 bis 20 Prozent der Schülerinnen und Schüler ein solches schulgemeinschaftliches Essen angeboten bekommen, vor allem in Gesamtschulen. Ob und wie viele Kinder aus Hartz-IV-Familien darunter sind, weiß niemand.

Wird dieses „Bildungspaket“ wieder auf den Schreibtischen der Karlsruher Richter landen? Ja, denn das neue Gesetz verstößt ganz eindeutig gegen den emanzipatorischen Grundsatz, schulpflichtige Kinder zu stärken und in ein eigenverantwortliches Leben zu führen, damit sie später ihren Lebensunterhalt selbst verdienen können.

Erneut wird an all dem deutlich, dass eine unabhängige Kommission über das menschenwürdige Existenzminimum entscheiden müsste, die dem Bundestag gegenüber verantwortlich ist und eine Empfehlung vorlegt. Ansonsten wird der regierungsamtlichen Arroganz nicht beizukommen sein.

Anmerkungen:

[1] Rudolf Martens, Die Hartz-IV-Abrechnung, in: „Blätter“, 11/2010, S. 5-8.

[2] Vgl. Jutta Roitsch, Föderaler Schlussakt. Von der kreativen Kooperation zum ruinösen Wettbewerb, in: „Blätter“, 8/2006, S. 977-984.

Dieser Beitrag erschien in den „Blättern für deutsche und internationale Politik“ 2/2011. Mehr Informationen auf http://www.blaetter.de. Wir danken für die Genehmigung zum Wiederabdruck.

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