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‚Hartz-IV'-Regelsätze jetzt transparent festlegen - Bildungs­chip­karte überflüssig

23. September 2010

Offener Brief an die Abgeordneten des Arbeits-, Sozial-, Finanz- und Rechtsausschusses des 17. Deutschen Bundestages

Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,

das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat in seinem Urteil vom 9. Februar 2010 festgeschrieben, welche Neuregelungen durch den Gesetzgeber und die Bundesregierung zu treffen sind, um die Verfassungsmäßigkeit der Regelsatzbemessungen zu gewährleisten. Dabei haben die Richterinnen und Richter hilfebedürftigen Kindern ein „eigenständiges“ menschenwürdiges Existenzminimum und damit ein Teilhabegrundrecht zugestanden. Diesen Anspruch auf „alle existenznotwendigen Aufwendungen“ muss der Gesetzgeber nach dem 3. Leitsatz des Urteils „in einem transparenten und sachgerechten Verfahren realitätsgerecht sowie nachvollziehbar auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren“ bemessen.

Die Vorgehensweise der Bundesministerin für Arbeit und Soziales wird diesem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 nicht gerecht. Mehr noch: Das von der Ministerin gewählte Verfahren verstößt eklatant gegen die Vorgaben des höchsten Gerichts. So gibt es bisher weder neue verlässliche Zahlen noch eine öffentliche und transparente Diskussion über ein realitätsgerechtes Berechnungsverfahren.

Bisherige Versäum­nisse des Bundes­mi­nis­te­riums für Arbeit und Soziales (BMAS)

An keine der Bedingungen der Karlsruher Richter hat sich die Bundesministerin gehalten. Am 20. September 2010 – drei Monate vor Ablauf der vom BVerfG gesetzten Frist – hat das BMAS es gerade einmal geschafft, einen ersten Referentenentwurf vorzulegen, der aber immer noch nichts Konkretes zur Berechnung der Regelsätze enthält. Dadurch wird der Gesetzgeber nun durch einen engen Zeitrahmen unter Druck gesetzt.

Zum existenziellen Bedarf hilfebedürftiger Schülerinnen und Schüler gehören laut dem Urteil auch „notwendige Aufwendungen zur Erfüllung schulischer Pflichten“. Namhafte Bildungsforscher in Deutschland können der Ministerin nachweisen, dass diese notwendigen Aufwendungen im deutschen Wettbewerbsföderalismus von Land zu Land, von Schule zu Schule, von Schulform zu Schulform unterschiedlich sind. Diejenigen, die die Aufwendungen aufzubringen haben, sind die Eltern. Ihnen steht demnach diese Position zu. Eltern, die dieser Erziehungs- und Erfüllungsaufgabe nicht nachkommen (können), müssen auf der lokalen Ebene Beratungsangebote zur Verfügung stehen. Vom Vertrauen in die Eltern und ihre vorrangige Erziehungsaufgabe ist in diesen Wochen jedoch überhaupt keine Rede.

Stattdessen liegt der Fokus des BMAS offensichtlich weiterhin auf seinem sogenannten ‚Bildungspaket‘, das erklärtermaßen einen ‚Paradigmenwechsel‘ herbeiführen soll. Die Zielrichtung dieses Wechsels ist dabei klar: Der Bundesministerin geht es in erster Linie um eine neue Kontrollinstanz gegenüber Kindern und Eltern im ‚Hartz-IV‘-Bereich. Sie setzt auf die medienwirksam in Szene gesetzten Vorurteile gegen die Familien im untersten Fünftel der deutschen Gesellschaft. In den Jobcentern will sie ‚Familienlotsen‘ ausbilden, die es bisher nicht gibt, und konterkariert damit vielfältige lokale Ansätze (wie z.B. die ‚Bündnisse für Familie‘), die sie noch als Familienministerin selbst massiv mit Geld gefördert hat. Dies ist die Fortsetzung einer Politik der institutionellen Bevormundung: Das Vertrauen in die Eltern wird dabei ersetzt durch ein Vertrauen in die Jobcenter, die, nachdem sie ‚Notwendigkeit‘ und ‚Erforderlichkeit‘ festgestellt haben, Gutscheine ausgeben oder aber die zweckgerechte Verwendung von Geldleistungen kontrollieren sollen.

Offensichtlich ist auch, dass das BMAS bei der Umsetzung des Bildungspakets weiterhin die sogenannte ‚Bildungskarte‘ favorisiert. Während Bundesministerin von der Leyen gegenüber der Presse zwar nur von einem ‚Vorschlag‘ spricht, wird mit dem Referentenentwurf (unter SGB II, § 29 Absatz 4) versucht, alle Voraussetzungen zu schaffen, um eine solche Karte ggf. auch gegen Widerstände möglichst einfach seitens des BMAS „durch Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrates“ durchsetzen zu können.

Die vielfäl­tigen Probleme eines ‚Bildungs­pa­kets‘ mit ‚Bildungs­karte‘

Bei einer Einführung des Bildungskarten-Konzepts sind mit hoher Wahrscheinlichkeit gravierende Probleme zu erwarten, die bisweilen begründete Zweifel an der Vereinbarkeit mit den Grundprämissen einer freiheitlichen, demokratischen Gesellschaft aufkommen lassen.

Auf den Punkt gebracht:

Die Bildungskarte ist bürokratisch und teuer, entmündigend und stigmatisierend. Außerdem beschränkt sie als Zugangs-/Kontrollmedium soziale Teilhabe mehr als sie diese befördert, ist datenschutzrechtlich mehr als bedenklich einzustufen und bedeutet einen weiteren Schritt hin zum gläsernen Menschen.

1. Die empirischen Beispiele zeigen: Solche Kartensysteme sind weder kostengünstig noch unkompliziert. In Stuttgart verschlingt alleine die Verwaltung für die FamilienCard rund 4 Prozent der investierten Gelder, und die ehemalige Berliner Chipkarte für Asylbewerber wurde unter anderem aus Kostengründen bald wieder abgeschafft.

2. Das Chipkartensystem spricht den Eltern ab, individuelle Entscheidungen und Handlungen frei treffen und wählen zu können und bedeutet darüber hinaus eine Einschränkung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung. Außerdem ist es stigmatisierend und diskriminierend. Auch eine Einführung der Karte für alle Kinder behebt dieses Problem nicht, insofern Entscheidungsfreiheit erhalten bleibt, die Karte zu nutzen oder nicht. Ein allgemeiner Zwang jedoch würde noch ganz andere Probleme hervorrufen.

3. Die Bildungskarte stellt auch eine Zugangstechnik dar und ist nicht nur ein ‚einfaches‘ Zahlungsmedium. Insbesondere bei einer Ausweitung des Konzepts wird Teilhabe durch die Chipkarte beschränkt, wenn nur durch diese der Zugang zu bestimmten Leistungen, Waren und Räumen eröffnet wird.

4. Besonders problematisch im Konzept des BMAS ist die Rolle der Jobcenter, als staatliche Agenten der Abwicklung und Kontrolle, in einem bisher undurchsichtigen Netz aus staatlichen und privaten Akteuren. Hier ist eine immense Sammlung von Daten zu befürchten, die in vielerlei Hinsicht gebraucht und unter Umständen auch zweckentfremdet genutzt und missbraucht werden können.

Wir appellieren an den demokra­tisch verant­wort­li­chen Gesetzgeber!

Die Bürgerrechtsorganisation Humanistische Union (HU) fordert den Gesetzgeber auf, sich an die Vorgaben des Gerichts zu halten und ein transparentes und sachgerechtes Verfahren zu wählen. Außerdem fordert die HU, von Gutschein- oder Berechtigungsscheinmodellen und insbesondere von einer Chipkarte Abstand zu nehmen und dem BMAS dafür keinen ‚Freifahrtsschein‘ auszustellen. Die Eltern müssen in ihrer Erziehungsaufgabe bestärkt und dürfen nicht durch derartige bürokratische Entmündigungen beschämt werden. Andere Ansätze und Vorschläge, wie sie z.B. der Paritätische Gesamtverband in seinem Konzept „Kinder verdienen mehr“ vorgelegt hat, müssen gleichwertig und öffentlich diskutiert werden.

Mit freundlichen Grüßen
Prof. Dr. Rosemarie Will
– Bundesvorsitzende –

Weitere Informationen zum Thema, u.a. zur Chipkarte unter www.humanistische-union.de/shortcuts/hartz4/ und zum Konzept des Paritätischen Gesamtverbands unter www.kinder-verdienen-mehr.de

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