Themen / Sozialpolitik

Amerika als Argument?

30. Januar 2002

Barbara Ehrenreichs Warnung vor der schönen neuen Arbeitswelt,

Aus: vorgänge Nr. 157 (Heft 1/2002), S. 145-146

Als Ausweg aus der Massenarbeitslosigkeit wird hierzulande immer energischer eine Ausweitung des Niedriglohnsektors und eine Deregulierung der angeblich leistungsfeindlichen Beschäftigungsbedingungen gefordert. Als Vorbild gelten die USA, wo bereits ein weitaus höherer Prozentsatz der Beschäftigten als hier zu Niedriglöhnen — ganz überwiegend in den Dienstleistungsbranchen — arbeitet. Tatsächlich ist dort in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre die Erwerbslosigkeit sensationell zurückgegangen.
Nun benennt eine bekannte US-Publizistin den Preis dieses Siegs:
Barbara Ehrenreich: Arbeit poor. Unterwegs in der Dienstleistungsgesellschaft. Aus dem Englischen von Niels Kadritzke, mit einem Nachwort von Horst Afheldt, München: Antje Kunstmann 2001, 255 S., ISBN 3-88897-283-3; 18,90 Euro
Der schräge Titel der deutschen Ausgabe spielt auf die working poor an, jene etwa dreißig Millionen Menschen zwischen Kalifornien und Maine, die arm sind, obwohl sie arbeiten.
Für ihre Reportage lebte Ehrenreich zwischen 1998 und 2000 monatelang in dieser hässlichen neuen Welt. Die Undercover-Journalistin gab sich bei ihren Bewerbungen als geschiedene Hausfrau aus. Sie fand in verschiedenen Städten Stellen als Kellnerin, in einem Pflegeheim, in einer Putzkolonne, als Verkäuferin – teils bei lokalen Firmen, aber auch bei einem Global player wie der Einzelhandelskette Wal-Mart. Dabei handelte es sich durchweg um legale Jobs. Ausgeblendet bleibt in ihrem Buch die Schattenwirtschaft, in der in den Vereinigten Staaten weitere Millionen „sozial Schwache” arbeiten — unter noch schlechteren Bedingungen.
Die Teams in dieser Arbeitswelt, von denen Ehrenreich berichtet, bestanden überwiegend aus Frauen – eine typische Beobachtung. Weniger typisch: Die meisten ihrer Kollegen und Kolleginnen waren englischsprachig und weiß. Zahlreicher sind im Niedriglohnbereich jedoch Farbige und osteuropäische Immigranten. „Die Neue” verdiente zwischen fünf (dem gesetzlichen Mindestlohn) und neun Dollar. Die Reinigungsfirma, für die sie schuftete – geputzt werden musste imagewirksam auf Knien —, kassierte von ihren Kunden 25 Dollar die Stunde, ihren Angestellten zahlte sie sieben. Die Autorin unterstreicht, dass in den USA etwa ein Viertel der Beschäftigten weniger als acht Dollar pro Stunde verdient. Sie erwähnt aber auch unterschiedliche Zusatzleistungen – verbilligte Mahlzeiten, Personalrabatte oder, wie bei Wal-Mart, bescheidene Gewinnbeteiligungen.
Ehrenreich versuchte, mit diesem Einkommen auszukommen. Sie suchte sich einfache — also ziemlich verwahrloste, trotzdem keineswegs billige – Unterkünfte. Unverzichtbar blieb mangels öffentlicher Transportmittel ein Auto. Schon für Fleisch oder Obst hatte sie oft kein Geld mehr. Ihr Fazit: Man kann von solcher Arbeit nur erbärmlich leben.
Das Buch zeigt, wie belastend diese „anspruchslosen” Dienstleistungen nicht selten sind: schmutzige Schwerstarbeit oder der Umgang mit altersdementen Patienten und aggressiven Verbrauchermarktkundinnen. Hinzu kommen entwürdigende, völlig legale, Einstellungstests und „Verdachtskontrollen”. Gearbeitet wird häufig zehn oder elf Stunden, natürlich ohne Überstundenzulage. Ehrenreich beschreibt auch, wie solche Bedingungen zu Lasten der Arbeitsqualität gehen, bis hin zur Gefährdung von Menschen wie in dem Altenpflegeheim. Die meisten ihrer unmittelbaren Vorgesetzten charakterisiert die unerkannte Reporterin als jovial-autoritär. Fast überall erlebte sie firmenoffizielle Agitation für „positives Denken”, mit zum Teil grotesken Zügen.
Das Modell working poor funktioniert bislang ohne Widerstand. Einerseits sind viele US-Gewerkschaften bei den Beschäftigten wegen Bürokratismus und Unterwürfigkeit gegenüber dem Management diskreditiert. Andererseits bekämpfen die Unternehmen Kritik durchaus mit brutalen Mitteln. Als Ehrenreich ihren Kolleginnen einmal gewerkschaftliche Organisierung vorschlug, wurde sie nur belächelt.
Eindrucksvoll schildert sie den illusionären, von Unterhaltungsindustrie und Werbung überhöhten Individualismus selbst der Armen, ihren verblüffenden Glauben an die Chance zum sozialen Aufstieg. Auch in den USA ist für verheiratete Frauen das Arbeitseinkommen häufig nicht mehr als ein Zusatzverdienst. Finanzielle Unterstützung durch Eltern, Geschwister oder Kinder ist selbstverständlicher als bei uns.
Ehrenreich hebt hervor, dass gerade die Clinton-Regierung trotz ihrer Rhetorik des Mitgefühls mit dem entschlossenen Abbau von staatlichen Leistungen Millionen Sozialhilfeempfängern und -empfängerinnen keine andere Wahl ließ, als solche Elendsjobs anzunehmen. Leider erfährt man von der Autorin nichts über die Steuervergünstigungen, die die Minimallöhne in vielen Fällen etwas aufwerten, bis hin zu direkten Unterstützungszahlungen.
Das Buch macht deutlich, dass im reichsten Land der Erde sogar in einer Zeit der Hochkonjunktur harte Arbeit von vierzig oder fünfzig Stunden in der Woche keineswegs ein Entkommen aus der Armut garantiert. Die niedrigen Gehälter bedeuten aufregende Renditechancen für die beteiligten Unternehmen und ihre Shareholder. Die Senkung der staatlichen Sozialausgaben erlaubt erträglichere Steuern für die Besserverdienenden.
In den Neunzigern sind zwischen San Francisco und Boston auch unzählige hochbezahlte Stellen entstanden, vor allem in den Branchen Informationstechnologie und Finanzdienstleistungen. Dennoch: Während das Sozialprodukt in den letzten dreißig Jahren, seit den fernen Zeiten von Richard Nixon, sich ungefähr verdoppelte und die Gewinne geradezu explodierten, sind für die Mehrzahl der Beschäftigten die Reallöhne – also die Einkommen nach Abzug der Geldentwertung – gleichgeblieben oder sogar gesunken.
Wird die europäische Politik sich für einen ähnlichen Weg entscheiden wie die US-amerikanische? Auf beunruhigende Vorzeichen am „Standort D” verweist das engagierte Nachwort von Horst Afheldt. Barbara Ehrenreichs Buch Arbeit poor ist eine Warnung: genau beobachtet und hinreißend ironisch geschrieben.

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