Themen / Sozialpolitik

Abgeschoben ins Ghetto

24. Februar 1985

Armut in Offenbach und die Suche nach Alternativen

aus vorgänge Nr. 73 (Heft 1/1985), S. 35-38

Vor 4 Jahren gründeten Sozialhilfe-Empfänger, Sozialarbeiter und unabhängige Linke (oder Gewerkschafter) den Offenbacher Sozialhilfe-Verein. Mit dieser Gründung wollten diejenigen, die seit den 60er Jahren eine Art »Betroffenenbezogene Sozialarbeit«  mit den Bewohnern gemeinsam gegen die Institutionen machen, ein eigenständiges, unabhängiges Gremium schaffen, auf das die offizielle (städtische) Sozialarbeit keinen unmittelbaren Einfluß hat.

Im Verlauf der Politisierung der Bewohner »sozial benachteiligter« Stadtgebiete bzw.  der Sozialghettos Offenbachs im Kampf um ihre Rechte, entstanden in den 60er Jahren sog. Bewohnerräte, die auf Bewohnerversammlungen ihre Forderungen und Ziele gegen die Sozialbürokratie der Stadt formulierten. In den 70er Jahren wurden diese »Räte« im Zuge der Konfliktbefriedung der sozialen Brennpunkte durch von der damals regierenden SPD-Stadtregierung eingesetzten Sozialarbeiter zerschlagen.
Durch Intervention der offiziellen Sozialarbeit »von Oben«, selektive Vergabe sozialer  Leistungen (Möbelbeihilfen, Kleider- u. Sonderbeihilfen etc.), Honorierung von Wohlverhalten usw., wurde der Politisierungsprozeß, der sich seinerzeit u.a. im kontinuierlichen Beschäftigen der Bewohner mit ihrer Lage, Selbstorganisation von Protesten, Öffentlichkeitsarbeit etc. ausdrückte, gestoppt. Trotz dieser Tatsache hält sich, auch als Reaktion auf die ständige Verschlechterung ihrer Lage, ein Widerstandspotential Betroffener in den »Brennpunkten«, das sich im Umfeld des Sozialhilfe-Vereins bewegt, für dessen Arbeit sensibel ist und praktische Unterstützung leistet.
Über das Tagesgeschäft praktischer Hilfestellung im Kleinkrieg der Sozialhilfeempfän ger und »sozial Schwachen« mit den Ämtern, Formalitäten und Vorschriften hinaus, geht es dem Sozialhilfe-Verein um die Entwicklung neuer »sozialpolitischer Wege«; dazu gehört auch die Überlegung, mit einer Kandidatur für das Stadtparlament bei den Kommunalwahlen im Frühjahr 1985, dort ständig den Finger in die Wunde öffentlichen Anspruchsdenkens gegen die sozial Benachteiligten zu legen.

In Offenbach gibt es nach amtlichen Angaben (September 1984) ca. 8 500 Arbeitslose,  davon sind ca. 500 arbeitslose Jugendliche. Die offizielle Zahl der Sozialhilfe-Empfänger beträgt ca. 6 500. Offenbach liegt damit mit 6% weit über dem Bundesdurchschnitt von 2,5 – 5% (Vergleich Berlin 8%). Ein hoher Anteil Dauerarbeitsloser, die zwischenzeitlich als »nicht mehr vermittelbar« gelten, werden aus der amtlichen Statistik gestrichen. Viele Menschen, denen Sozialhilfe zusteht, scheuen den Weg zum Sozialamt und erscheinen so erst gar nicht in der Statistik. So gehen wir davon aus, daß es in Offenbach allein an die 20 000 Sozial-Benachteiligte gibt, von denen der größte Teil der Betroffenen keine Aussicht auf Veränderung seiner Situation unter den gegenwärtigen politischen Machtverhältnissen in Offenbach hat.

Ein Großteil der registrierten Armen Offenbachs lebt in den bekannten Sozial-Ghettos Lohwald und Eschig, aber auch im Lämmerspieler-Weg, Bieber-West, Andrestraße und dem Lauterborn, das gewaltige Lohwald der Zukunft.
Viele sind damit auf der sozialen Abstiegsleiter dann schon »ganz unten« angekommen. Der Teufelskreis der Ausgrenzung aus der »Leistungsgesellschaft« beginnt mit  dem Verlust des Arbeitsplatzes und schließt sich mit dem Bezug einer »Sozialwohnung« in den sozialen Brennpunkten. Die bisherige Kommunikationsstruktur wird abrupt abgeschnitten. War die soziale Ächtung vorher spürbar, wird sie jetzt augenfällig.
Diese sog. Sozialwohnungen, deren Vorläufer im Lohwald noch in den 60er Jahren als »offene Unterkünfte« keine abschließbaren Wohnungstüren, dafür Gemeinschaftstoiletten und Wasseranschluß im Hof hatten, wurden in Einfach- oder Schlichtbauweise errichtet. Dementsprechend sind sie relativ schnell verwohnt und sehr reparaturanfällig. In den Flachbauten sind Wasserschäden Dauerzustand. Die Kosten, durch Elektro-Warmwasseraufbereitung gesteigert, liegen für diese Sozialwohnungen vergleichsweise hoch — 3-Zi. bei ca. 900.—, 5-Zi. bei ca. 1400.— DM/Monat —, so daß  selbst diejenigen, die wieder Arbeit finden, lange Zeit vom Sozialamt wegen der hohen Wohnungskosten abhängig bleiben.
Stadtteile wie Lohwald, Eschig, Lämmerspieler-Weg, sind Ghettos, nicht nur räumlich abgeschnitten vom übrigen Stadtgebiet. Es bestehen keinerlei »günstige Einkaufsmöglichkeiten um die Ecke«, keinerlei Kultur-, Sport-, Kinderspiel- und Jugendclubs,  Cafes, Kneipen etc. Die wenigen Möglichkeiten, von der Stadt unter Druck geschaffen, kamen nie über das Stadium eines Provisoriums hinaus.

Diese Vielzahl von Sozial-Ghettos ist das Ergebnis einer gescheiterten SPD-Politik, die  Armut in Offenbach zu »dezentralisieren«.
Das SPD-Konzept, Ende der 50er Jahre, Sozialhilfe-Empfänger (die damals noch Obdachlose oder Asylbewohner hießen) mit einem sog. Stufenprogramm aus dem damals noch einzigen Slum Offenbachs, dem »Lohwald«, in andere Stadtgebiete »schrittweise  zu reintegrieren«, scheiterte u.a. daran, daß die Menschen dort in der »neuen« Situation die gleiche Misere —»Schlichtwohnungen… sie sind einfach, aber sauber und hygienisch einwandfrei, und haben überdies den Vorteil, sie sind billig…« (Zitat des damaligen Offenbacher SPD-Bürgermeisters nach Offenbach Post v. 22. 5. 58) — die gleiche soziale Ächtung, Isolierung und Ausgrenzung wie im Lohwald, aus dem sie kamen, vorfanden und der Botmäßigkeits- und Anpassungsaufstieg nicht stattfand. Vor allem die Kinder und Jugendlichen dieser Stadtteile erfahren diese Ghetto-Situation besonders brutal. Als Ausgestoßene erfahren sie die soziale Ächtung ihres Umfeldes schon sehr früh als Feindschaft, Mißtrauen, Unterdrückung und Beleidigung. Unzulängliche Spielmöglichkeiten, mangelnde pädagogische Betreuung lassen den Kindern kaum Raum zur Entfaltung kindlicher Bedürfnisse. Die Kollision mit den Ordnungsfaktoren der Gesellschaft ist von frühester Kindheit vorprogrammiert. Für die absolute Armut ist der scheinbare Warenreichtum der Überflußgesellschaft, die die totale Verfügbarkeit über ihre Produkte suggeriert, eine Anfechtung und Herausforderung. Sogenannte Eigentumsdelikte (Autos für Spritztouren etc.) haben anfangs den Charakter von Mut-proben und werden allmählich bittere Gewohnheit.
Ist die Perspektive normaler Jugendlicher »no future«, so ist die Lebensperspektive dieser Ghetto-Jugendlichen vorprogrammiertes Elend und der Jugendknast.

Der Versuch des Sozialhilfe-Vereins, gemeinsam mit interessierten Jugendlichen ein  Arbeitslosen-Selbsthilfe-Projekt aufzuziehen, scheiterte an der Ignoranz, Gleichgüitigkeit und Verachtung gegenüber den Interessen der jugendlichen Ghettobewohner durch die städtische — nunmehr CDU — Bürokratie, Arbeitsamt, DGB usw., die sich zu einer Mittelbereitstellung oder Unterstützung nicht »entschließen« konnten. U. a. weil ein solches Vorhaben keine Gemeinnützigkeit habe.
Es ging um nicht mehr oder weniger, den Jugendlichen mit einem »Schrottplatzprojekt«; hier hätte die »Neigung« der Jugendlichen zu Umgang mit Autos auch zu handwerklichen Befähigungen (Reparaturarbeiten), sozialer Kommunikation in Arbeitsbereichen, Identität und Berufsvorbereitung für metallhandwerkliche Berufe geführt, so-mit zu einer hauchdünnen Chance auf eine Lehrstelle und Ausbruch aus dem Teufelskreis. So bleiben die »Verantwortlichen« einstweilen bei ihren Schuldzuweisungen gegen die Leistungsverweigerer: die Jugendlichen sind um die Erfahrung reicher, daß ja doch nichts geht »auf normalen Weg«.

Mit dem Bezug von Sozialhilfe geht für die Sozialhilfe-Empfänger in der Regel einher  die Vereinnahmung und Verwaltung durch eine alles erfassende, sich für alles interessierende Sozialbürokratie, deren verlängerter Arm nicht selten der Sozialarbeiter vor Ort ist. Sozialhilfe findet als Reglementierung des Lebensraumes, Kontrolle der Person, Abhängigkeit und Unterwerfung statt und wird als Bespitzelung, Willkür und Erniedrigung von den Betroffenen erfahren.
Dabei sind die zu verteilenden Gelder das absolute Existenzminimum. Der sogenannte  Warenkorb, nach dem sich die monatliche Sozialhilfe bemißt, berechnet exakt die Kosten des »Stückgut Mensch«. Vom Kalorienbedarf über die Glühlampenstärke bis zur Anzahl der Vollbäder die den Betroffenen zustehen und zur Tragedauer der Unterhose. Für die Ernährung werden z.B. 83 verschiedene Lebensmittel zusammengestellt: 5905 Gramm Brot, 640 Gramm Weizenmehl, 55 Gramm Haferflocken, 6100 Gramm Kartoffeln; für persönliche Bedürfnisse z.B. 4 Briefmarken, 6 Busfahrkarten etc. genannt. Der Warenkorb enthält kein Spielzeug, Babynahrung etc. Da ist es dann schon ein Kunststück z.B. für eine alleinstehende Mutter mit Kleinkind, mit den Sozialhilfe-Sätzen = 358.— DM/Monat für sich selber und 156.— DM/Monat für das Kind = 5,20 DM/Tag für Babynahrung, Hygiene, Windeln, Pflegemittel etc, auszukommen.

Wir sehen nur in einer direkten Beteiligung der Betroffenen an der Bewältigung ihrer Misere eine langfristige Chance zur Besserung ihrer Situation. Sinnvolle Problembewältigungen für die sozialen Brennpunkte setzt die volle Einbezie hung der Wünsche und Vorstellungen der Betroffenen, die Kontrolle der Sozialhilfekonzepte durch die Betroffenen selber und die autonome Entscheidungsgewalt und Verfügung über die Mittel voraus. Problemlösung für die Betroffenen kann nur durch die Betroffenen selber unter Einbeziehung der Sozialarbeit als Hilfestellung geschehen.
Es geht nicht darum, das Heer der Sozialbürokratie und Verwaltung (möglichst flächendeckend) zu erweitern, die Abhängigkeit von Sozial-, Wohn-, Jugend-, Gesundheits- und sonstwie Ämtern festzuschreiben, sondern die Betroffenen müssen die Entscheidungen und Handlungsmöglichkeiten für ihr eigenes Dasein zurückzugewinnen. Der Versuch, eine solche Konzeption politisch durchzusetzen, könnte durch die Kandidatur Betroffener für das Stadtparlament nicht nur Unterstützung erfahren, sondern eine neue politische Dimension im Kampf um die Verbesserung der Lebenssituation der sozial Schwachen sein. Die Entwicklung in den sozialen Brennpunkten Offenbachs, das Engagement vieler Betroffener zur Selbsthilfe aus ihrem Elend, macht uns, trotz aller massiven politischen Widerstände, Mut zum Weitermachen.

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