Themen / Sozialpolitik

Armut als Erziehung

31. Juli 1989

aus vorgänge Nr. 100 (Heft 4/1989), S. 27-37

Armut ist wieder zum politischen Thema geworden. Nach dem Krieg gegen die Armut in den sechziger Jahren, als die Politik versuchte, den gesellschaftlichen Makel Armut abzuschaffen, war das Thema den Sozialpädagogen und Sozialpolitikern überlassen worden, als dieser Krieg in den Wirtschaftskrisen der siebziger Jahre so offensichtlich verloren war. Der Streit um die „Neue Armut” als Folge der Wendepolitik blieb interne sozialpolitische Diskussion. Erst der Erfolg der Republikaner bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus hat die Armut wieder zum allgemein-politischen Thema gemacht. Sie dient als Erklärung für politisches Verhalten. Da ist die Rede von der Reaktion auf die „Zweidrittelgesellschaft”, und der Regierende Bürgermeister von Berlin stellte sogar eine einfache Gleichung auf: „Jede neue Wohnung ist eine Stimme weniger für die Republikaner.”
Literarisch eleganter und inhaltlich differenzierter formuliert Bertolt Brecht die Theorie von der Erziehung durch Armut in seinen marxistischen Studien unter dem bezeichnenden Titel „Erziehung guter Lebensbedingungen”: „Wenn wir erkannt haben, welche ungeheure Rolle die Lebensbedingungen der Menschen für ihre Kultur spielen, werden wir unsere Erziehung zunächst auf solche Eigenschaften richten, welche gute Lebensbedingungen Schaffen, das heißt Zustände beseitigen, in denen schon das nackteste, primitivste Leben nur durch unaufhörlichen, unbedenklichen Kampf gefristet werden kann.
Was erzieht? Es erzieht der Hunger und die Art, wie er gestillt werden kann. Es erzieht die Kälte und die Art, wie ein Obdach oder die Kleidung errungen werden können. Es erzieht die Art, wie die Menschen einander begegnen, wie einander zu begegnen sie durch ihre Nöte gezwungen werden. Es erziehen die schönen Künste nur, wenn sie nicht den Lebenskampf schwächen. So erzieht der Mangel an Brot in der Hütte zum Stehlen oder die Bibel zum Hungern. Der eine Kartoffel haben muß, der bückt sich, weil der Boden das erheischt oder der Herr. Solcherart ist die Erziehung zum Bücken. In den schlecht geleiteten Ländern zeigen die Tugenden das Elend an. Wo man einen die Gefahr verachten sieht, da ist vielleicht die Maschine ohne Schutzgitter.” (Gesammelte Werke, Edition Suhrkamp, Bd. 20, S. 84f.)
Auch für Brecht erzieht Armut zum Stehlen als ein Beispiel, wie Lebensbedingungen Kultur formen. Doch für ihn existiert ein zusätzlicher Faktor, der die unmittelbare Reaktion auf das Leben in Armut bricht: die Tugend, die moralische Erziehung. „So erzieht der Mangel an Brot in der Hütte zum Stehlen oder die Bibel zum Hungern”.
Ohne die Bibel und die von ihr anempfohlenen Tugenden würden demnach die Menschen so handeln wie es ihnen ihr Lebensinteresse befiehlt: Stehlen statt Hungern. Brechts Mutter Courage verdeutlicht diesen Zusammenhang von Tugend und dem Ertragen unerträglicher Lebensumstände, wenn sie ihren Namen erklärt: „Die armen Leut brauchen Courage. Warum, sie sind verloren. Schon, daß sie aufstehn in der Früh, dazu gehört was in ihrer Lag. Oder daß sie einen Acker umpflügen, und im Krieg! Schon daß sie Kinder in die Welt setzen, zeigt, daß sie Courage haben, denn sie haben keine Aussicht … Daß sie einen Kaiser und einen Papst dulden, das beweist eine unheimliche Courage, denn die kosten ihnen das Leben” (Bd. 4, S. 1404)
Da Brecht aber auf Umwälzung hofft, muß er, der Moralist und literarische Sozialpädagoge schlechthin, scheinbar zynisch auf die Unmoralischen, die Skrupellosen, wie etwa seinen Mackie Messer, setzen. So kommt es zu dem überraschenden Satz der klingt, als sei er einem Lehrbuch über Sozialindikatoren entnommen: „In den schlecht geleiteten Ländern zeigen die Tugenden das Elend an.”  Denn, so die Logik, ohne Tugend hätten schlecht geleitete Gesellschaften keinen Bestand. Auf diese Weise wird der Dramaturg des erhobenen Zeigefingers unversehens zum Apostel einer frohen Botschaft gegen alle — wohl auch sozialistische — Erziehungsdiktaturen: Gelobt die Gesellschaft, die ohne Tugenden auskommt. Aber letztlich bleibt auch Brecht dabei: Eigentlich erzieht Armut zur Revolte — genau wie es Heiner Geißler für die Bundesrepublik der siebziger Jahre formulierte: „Wenn man mangels Artikulation von den ,Armen` in der Bundesrepublik Deutschland bisher auch recht wenig gehört hat heißt dies keinesfalls, daß sich die Armen mit ihrer Situation abgefunden hätten. Das Unruhepotential schlummert. Es ist aber da und sogar ungewöhnlich groß.” („Die neue soziale Frage“, 1976, S. 31)

Mit diesem Gedanken im Kopf werden die Armen, je nach Perspektive, zu Hoffnungsträgern oder zum Potential drohender Umwälzung. Es ist eben jene Logik, die Marx und Engels nach ausführlicher Argumentation, wie der Kapitalismus das Proletariat systematisch verarme, zu jener revolutionären Schlußfolgerung führte, die wie ein Fanfarenstoß das Kommunistische Manifest abschließt: „Mögen die herrschenden Klassen vor einer kommunistischen Revolution zittern. Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen. Proletarier aller Länder, vereinigt euch!” Als dann aber die erwartete Revolution ausblieb, gab es zwei sehr gegensätzliche Versuche, dennoch die Theorie über die Erziehung durch Armut zu retten. Die eine entwickelte Eduard Bernstein. Seine revisionistisch genannte Theorie erklärt das Ausbleiben der Revolution damit, daß die vorhergesagte Verarmung nicht eingetroffen und deshalb auch keine revolutionäre Bewegung zu erwarten sei. Der andere Rettungsversuch hingegen hielt an der Behauptung fest, die von Marx und Engels vorhergesagte Verarmung sei eingetroffen und nannte sich darum antirevisionistisch. Das Ausbleiben der danach logisch zwingend zu erwartenden Revolution erklärte sich nun damit, daß die Anführer des Proletariats bestochen und da nun selbst nicht mehr arm auch nicht mehr revolutionär seien. Diese These breitet Lenin in seiner Imperialismustheorie aus:
„Die Bourgeoisie einer imperialistischen Großmacht ist ökonomisch in der Lage, die oberen Schichten ihrer Arbeiter zu bestechen und dafür ein- oder zweihundert Millionen Francs im Jahr auszuwerfen: denn ihr Extraprofit (aus dem Imperialismus) beträgt wahrscheinlich rund ‚eine Milliarde … Die Schicht der verbürgerten Arbeiter oder der Arbeiteraristokratie ist in ihrer Lebensweise, nach ihrem Einkommen, durch ihre ganze Weltanschauung vollkommen verspießert und ist die soziale (nicht militärische) Hauptstütze der Bourgeoisie. Denn sie sind wirkliche Agenten der Bourgeoisie innerhalb der Arbeiterbewegung.” (Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus; Ausgewählte Werke in sechs Bänden, Ffm 1970, Bd. 2, S. 653.)
Diese Milchmädchenrechnung vom einfachen Abkaufen des Schneids taucht auch auf regierungsamtlicher Seite auf und scheint Lenin recht zu geben. Bismarck begründete 1881 die Einführung einer staatlichen Sozialpolitik in der von ihm formulierten Kaiserlichen Botschaft damit, „daß die Heilung der sozialen Schäden nicht ausschließlich im Wege der Repression sozialdemokratischer Ausschreitungen, sondern gleichmäßig auf dem der positiven Förderung des Wohles der Arbeiter zu suchen sein werde.”
Der Sozialwissenschaftler Rüdiger Baron hingegen zeigt, wie die Unternehmer und nicht der revolutionäre Druck der Arbeiterklasse die Sozialversicherung in Deutschland politisch durchsetzten. Sie hatten in den fortgeschrittensten Einzelunternehmen nämlich längst schon einzelbetriebliche Versicherungen eingeführt. Diese bedeuteten aber ein schier unüberwindliches Hindernis für die Mobilität der raren hochqualifizierten Arbeitskräfte und damit auch für die Entscheidungsfreiheit der Unternehmen selbst. Eine Verallgemeinerung der Versicherung lag also in ihrem ureigenen Interesse (vgl. ‚Weder Zuckerbrot noch Peitsche” in „Gesellschaft-Beiträge zur Marxschen Theorie” 12, Ffm 1979, S. 13-55).

Der bildhafte Mythos vom Zuckerbrot der Sozialpolitik und der Peitsche Sozialistengesetz wird sich aber davon unbeeindruckt im Alltagsbewußtsein wie in den Schulbüchern halten. Das sichere Wissen um die Erziehung durch Armut wird sich daher auch kaum durch den Nachweis beirren lassen, daß es empirisch, historisch und psychologisch den in der Wirklichkeit konstatierbaren Tatsachen widerspricht.
Empirisch ist nämlich kein statistischer Zusammenhang zwischen der Höhe der Sozialleistungen und sozialem Frieden, ausgedrückt in Streikhäufigkeit, Kriminalität oder Anzahl von gewalttätigen Demonstrationen, auszumachen. Dort, wo die Sozialleistungen besonders hoch sind wie etwa in Schweden, wird keinesfalls seltener geklaut, gestreikt oder demonstriert.
Historisch zeigt sich schon am Beispiel der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, wie wenig die Höhe der Sozialleistungen mit dem Auftreten oder Verschwinden radikaler Parteien oder anderer Erscheinungen sozialen Unfriedens korrelieren. In den sechziger Jahren etwa, zu einer Zeit hoher und gesicherter Sozialleistungen, hatten sowohl NPD als auch Studentenbewegung ihren Höhepunkt und verschwanden geradezu parallel zu den Einschränkungen der Sozialleistungen. Aber auch für das klassische Beispiel, die Weltwirtschaftskrise von 1929, zeigt eine genaue Analyse des Wählerverhaltens, daß die Arbeiterparteien zusammengenommen in ihrem Anteil an den Stimmen ziemlich stabil blieben (die KPD jagte der SPD nur etwa 6 Prozent ab); während die großen Verschiebungen zugunsten der Nazis (30 Prozent) auf Kosten der bürgerlichen Parteien kamen, deren Anhänger von Veränderungen in den Sozialleistungen kaum betroffen waren und sicherlich nicht die Armutsbevölkerung der damaligen Zeit stellten!
Auch die vergleichende Analyse der großen Revolutionen der Weltgeschichte zeigt, daß es stets aufstrebende und in ihrem weiteren Aufstieg durch die herrschenden Verhältnisse blockierte Schichten waren, die zu Trägern und Organisatoren der Revolution wurden und nicht diejenigen, die nichts zu verlieren hatten als ihre Ketten.
Psychologisch bräuchte es Zeichen und Wunder, wenn die Armen zu ihrer Verzweiflung und Wut auch noch den Mut, den Durchhaltewillen und die Solidarität aufbrächten, die es für die Umwälzung einer Gesellschaft braucht. Wenn der Mangel an Brot in der Hütte zum Stehlen erzieht, dann meist zuerst zum Diebstahl am nächsten anderen Armen.
Da solche Einsichten die Ideologie vom Erziehungswert der Armut nicht aus dem Alltagsbewußtsein vertreiben werden ist es tröstlich zu wissen, daß ihre Anhänger — soweit sie Träger von Macht waren und sind — aus Angst vor dem Unruhepotential, das in der Armut schlummere, regelmäßig dafür Sorge tragen, die reale Situation der Armen zu lindern. Heute jedoch ist eine ganz andere Ideologie zur Herrschenden geworden: die Angebotsökonomie ä la Friedman, Reagan und Thatcher, für die Armut als Problem nicht länger existiert. Die Sozialhilfe sei doch gerade dazu da, Armut zu verhindern. Nur wer sie — ob-wohl berechtigt — nicht in Anspruch nimmt sei arm, aber aus freiem Willen und eigener Schuld.

Bei derart viel Verwirrung um die Armut ist es dringend geboten, den Begriff selbst genauer anzuschauen. Nicht nur hinsichtlich seiner Bedeutung, sondern vor allem unter dem Aspekt seiner Funktion in der Beschreibung einer gesellschaftlichen Situation. Ist es vom Begriff der Armut her gesehen überhaupt möglich, Armut in einer Gesellschaft abzuschaffen? Oder ist es nicht vielmehr so, daß Armut immer relativer Begriff ist und deshalb zu jeder Gesellschaft einfach dazugehört wie jedes reale zweidimensionale Gebilde ein Unten hat?
1982 lag die Schweiz mit einem Pro-Kopf-Einkommen von 23 765 Franken an sechster Stelle in der Welt. Im gleichen Jahr galt dort eine Person als arm, wenn sie weniger als 13600 Franken im Jahr hatte. 1988 lag diese Grenze für Zürich bei 18-20000 Franken (Tages-Anzeiger, Zürich, vom 23. 11. 88, S. 20), mit umgerechnet fast 2000 DM im Monat also auch weit über der für die Bundesrepublik gültigen Grenze. Im Kontrast dazu betrug 1982 in Indien das Pro-Kopf-Einkommen 377 Franken. Das war die 150. Stelle in der Welt. Dieses Pro-Kopf-Einkommen Indiens beträgt nicht einmal 3 % der Armutsgrenze in der Schweiz! Ist demnach ganz Indien arm? Selbstverständlich nicht, denn in Indien gelten ganz andere Armutsvorstellungen als in der Schweiz, nicht zuletzt deshalb, weil in Indien große Teile der Gesellschaft noch gar nicht in die Geldwirtschaft miteinbezogen sind. Dort gilt deshalb diejenige Person als arm, die nicht weiß, wie und ob sie die nächste Mahlzeit erhält. Armut dort bedeutet drohenden Hunger.
Aber auch unter Umständen wo alle hungern, wo also nach indischen Maßstäben alle arm  wären, differenzieren die Menschen, die sich in solch einer Situation befinden, in unten und oben, mit feinen Abstufungen bis hinunter zur Armut. Eugen Kogon berichtete 1946 über die Situation in den Konzentrationslagern der Nazis: „Die KZ-Häftlinge haben nie das Wenige tatsächlich erhalten, das für sie vorgesehen war. Zuerst nahm sich die SS weg was ihr paßte. Dann ,organisierten` sich die Häftlinge, die in den Magazinen und Küchen beschäftigt waren, nach Strich und Faden ihr Teil weg. Dann zweigten die Stubendienste tüchtig für sich und ihre Freunde ab. Der Rest gehörte dem schäbigen, gewöhnlichen KZ-Häftling.” (Der SS-Staat, S. 107) Kogon sieht sich so gezwungen, auch in der Hölle der Konzentrationslager noch eine unterste Schicht zu identifizieren, nämlich „jene verhältnismäßig große Schicht, die schon längst den echten Lebenswillen verloren hatte. Sie hießen in den Lagern ,Muselmänner‘, also Leute von bedingungslosem Fatalismus. Ihre Untergangsbereitschaft war aber nicht etwa ein Willensakt, sondern Willensgebrochenheit.” (S. 354)

Ich will in der Analyse des Armuts-Begriffs noch eine Stufe weiter, in eine noch extremere Situation, gehen, obwohl das kaum vorstellbar erscheint. Als die Deutschen 1941 die UdSSR überfallen hatten, schlugen sie Rumänien ein Stück der Ukraine zu, Transnistrien, das seit langem zwischen den beiden Ländern umstritten war. Die rumänische Nazi-Regierung trieb in dieses verwüstete Niemandsland hinter der deutschen Front die in ganz Rumänien eingefangenen Juden, bis das Vernichtungslager Auschwitz fertiggestellt wäre. Etwa 850.000 Menschen vegetierten so über ein Jahr lang ohne Nahrungsmittel, sich selbst überlassen, und über die Hälfte von ihnen starb unter den elendsten Umständen, bis die Nazis die „unordentlichen” Zustände hinter ihrer Front nicht mehr duldeten.
Einer der Überlebenden — Edgar Hilsenrath — hat seine Erfahrung zu einem erschreckenden Roman mit dem Titel „Die Nacht” verarbeitet. Darin beschreibt er, wie sich selbst unter  diesen extremsten Bedingungen noch ein Armutsbegriff entwickelt: „Ranek erkundigte sich bei einigen Leuten: man sagte ihm, daß die Frau und das Kind in die Armenküche gegangen wären … Er mochte mehr als eine halbe Stunde in den östlich der Puschkinskaja bis an den Stadtrand sich erstreckenden Trümmerfeldern herumgeirrt sein, als er endlich die langen Menschenreihen erblickte, die Schlange standen. Es waren mehrere Schlangen: ihr Kopf fing vor dem Suppenkessel an, aber ihr Schwanz reichte bis weit ins Trümmerfeld hinein. Ranek schätzte die Menschenmenge auf mehrere Tausend. Er ging, aufmerksam spähend, zwischen den Reihen entlang; überall lagen Ohnmächtige herum — still und bleich auf der nackten Erde, als wollten sie nie wieder aufstehen. Die Schlange rückte nur langsam vorwärts. Man trat auf die Gefallenen oder man stieg über sie hinweg. Irgendwo muß auch Debora stehen, dachte er, vielleicht aber liegt sie zwischen den Gefallenen? Er hatte sie nicht gesehen, und irgendwie war er froh darüber.” (S. 399)

Vergleichsweise idyllisch wirkt danach die Beschreibung der „täglich erfahrenen Not” der Armen in der Bundesrepublik von heute, wie sie in einer „Einführung in die Sozialarbeit und Sozialpädagogik” der achtziger Jahre gegeben wird (Karam Khella, Theorie u. Praxis Verlag, Hamburg):

– Jeder zweite Sozialhilfebedürftige hat weder Bad noch Dusche;
– nur 37,6 % verfügen über fließend Warmwasser;
– 86,3 % haben kein Telefon: bei ihnen herrscht mangelhafte Kommunikation bis zur völligen Isolation;
– zwei Drittel heizen mit Kohle- oder Öl-Einzelöfen;
– fast die Hälfte hat Zeit ihres Lebens keinen Urlaub gemacht oder der letzte Urlaub liegt so weit zurück, daß er nicht mehr erinnerlich ist;
– etwa die Hälfte hat ..” (S. 51)

Zunächst erscheint das Kontrastieren beider Extremsituationen als billige Polemik. Doch das Fantastische daran ist nicht der Unterschied, sondern das Gemeinsame: Denn beides sind Beschreibungen wirklicher Armut, obwohl doch die realen Lebensumstände überhaupt nicht vergleichbar scheinen. Demnach sagt der Begriff Armut nichts aus über die wirklichen Lebensumstände der Menschen, die unter ihr zu leiden haben. Armut sagt nur, daß es eine Person deutlich schlechter gestellt ist als gesellschaftlich üblich. Armut bedeutet dann, daß diese Person von den gesellschaftlich normalen Lebensmöglichkeiten mehr oder weniger ausgeschlossen ist. Ob dieser Status unmittelbare Lebensgefahr bedeutet wie in Transnistrien oder den Ausschluß von selbstverständlich gewordenen Annehmlichkeiten, ist abhängig von der gesellschaftlichen Normalität ab und durch das Etikett Armut selbst nicht bestimmbar. Der Begriff Armut zeigt also lediglich die relative Position in der Gesellschaft an, das Unten im Gegensatz zur Mitte und denen da oben.
Diese relative Position ist aber aus einer ganz anderen Perspektive von eminenter Bedeutung für die Armen, denn sie wird zum Werturteil und macht sie zum Gegenstand von Erziehung durch die Gesellschaft.
Das Werturteil über „die da unten” drückt wieder der literarische Sozialpädagoge Brecht  sehr treffend in einem etwas süßlich geratenen Gedicht aus, das sich wegen der schlagenden Schlußzeile dennoch lohnt:

„Über Ungleichheit, schwierig, sie zu entdecken
Freilich, die besseren Leute sind nur die gebesserten. Früh
schon
Werden da Kinder gebettet in luftige Zimmer, die Ammen
Füttern sie sorglich mit passenden Speisen, die
Körperchen waschen
Sie nach den Regeln der Kunst, bald mit lauem, bald
kälterem Wasser.
Kleine Athleten erziehen sie so. Doch den Kindern der
Armen
Stopfen ermüdete Mütter ins Mäulchen was immer
erschwinglich
Langen den Schreienden müde den Bierkrug, sie schlafen
zu machen
Oder sie schicken sie, größer geworden, in finstere Höfe. Dorten dann wachsen sie auf mit den anderen
Schattengewächsen.
Und wie ihr Körperchen vernachlässigt wird, so geschieht’s mit dem Geist auch.
Billige Nahrung und billige Schuhe und billiges Wissen.”
(Gedichte 1941-47, S. 901)

Billige Nahrung, billige Schuhe, billiges Wissen, das kennzeichnet die Armen als die Rohen, die Ungebildeten, die Unzivilisierten. Armut ist nicht nur geringerer Zugang zu den üblichen Lebenschancen. Armut ist auch Schande, denn das Etikett besagt: Diese Person steht ganz unten in der gesellschaftlichen Pyramide und ist damit vom Zentrum der Zivilisation, dem höflichen, gebildeten Verhalten so weit weg, wie die Mitglieder eines wilden Stammes in einem fernen Kontinent. Wie Armut von den sogenannten Errungenschaften der Zivilisation ausschließt, zeigt Fernand Braudel im Band „Der Alltag” seiner unvergleichlichen „Sozialgeschichte des 15. und 18. Jahrhunderts”:

„Wenn alle arm wären … gäbe es keine Modeprobleme, da alles ewig beim alten bliebe. Kein Reichtum, keine Bewegungsfreiheit, keine Möglichkeit zu Veränderungen. Das ist  doch das Los der Armen in aller Welt, die sich notgedrungen über die Mode hinwegsetzen. Ihre Gewandung, ob schön oder ärmlich, bleibt sich gleich…. Jean-Baptiste Say schreibt 1828: ,Offengestanden hege ich keinerlei Vorliebe für die ewig gleichbleibende Kleidermode der Türken und anderen Völker des Orients, die mich wie eine Bekräftigung ihres stupiden Despotismus anmutet. Unsere Dörfler verhalten sich in puncto Mode ähnlich wie die Türken: auch sie sind so sehr Sklaven der Gewohnheit, daß man auf alten Gemälden aus der Zeit der Kriege Ludwigs des Vierzehnten Bauern und Bäuerinnen fast ebenso gekleidet sieht wie heutzutage.” (S. 336)

Seit den Kriegen Ludwigs des Vierzehnten bis zu den Zeiten des arroganten Lebemannes  Say hatten sich demnach die Moden der Reichen und Hochgestellten grundlegend verändert, so daß das unveränderte Äußere der Armen exotisch, wenn nicht gar obszön auf ihn wirkte. Und, so berichtet Braudel weiter, diese Moden hatten sich unter den Reichen und Hochgestellten von Paris aus bis in die entferntesten Winkel der Welt, sogar bis in die Hochtäler Perus, ausgebreitet.
Billige Nahrung, billige Schuhe, billiges Wissen, das Nicht-Teilhaben-Können an den Modewellen grenzt die Armen der Welt deutlicher von der Normalität ab, kennzeichnet sie offensichtlicher als Ausgeschlossene denn alles Brandmarken und alle Bettelzeichen des Spätmittelalters. Denn Mode ist nicht nur materieller Luxus, sie hat auch zentrale psychische Funktionen: wie eine Person sich kleidet und verhält gibt an, woran sie sich orientiert, welche gesellschaftliche Stellung sie gerne einnehmen würde, welches Selbstwertgefühl sie beansprucht.
Das jedenfalls ist die These von Norbert Elias in seinem Hauptwerk „Der Prozeß der Zivilisation”. Darin untersucht er Benimm-Bücher und ihre Veränderung seit dem Frühmittelalter. Dies, um herauszufinden, was die Antriebskraft für eine Entwicklung ist, die uns alle dazu bringt, ohne Kontrolle durch Polizei und Gerichte Regeln des guten Benimms einzuhalten: Regeln, die heute ganz andere sind als noch vor wenigen Jahren und erst recht als vor einigen Jahrhunderten. Allen diesen Regeln gemeinsam ist jedoch, daß sie sich am Oben und Unten orientieren. Wer zu denen oben gehören will, muß ein bestimmtes Verhalten zum heiligen Ritual erheben und es um seiner selbst willen in allen Situationen — auch dort wo es absurd erscheint — penibelst befolgen. Das zeigen die Geschichten vom „vornehmen Mann”, dem „Gentleman”, der seine „Contenance” auch unter den widrigsten Umständen, etwa in der Gefangenschaft oder in den Tropen, nie verliert. Dazu Elias: „Was sich unter unseren Augen vollzieht, was wir im engeren Sinne als die ,Ausbreitung der Zivilisation‘ zu bezeichnen pflegen, die Ausbreitungszüge unserer Institutionen und Verhaltensstandards über das Abendland hinaus, das sind, wie gesagt, die bisher letzten Wellen einer Bewegung, die sich zunächst durch Jahrhunderte innerhalb des Abendlandes selbst vollzogen hat. …

Von der abendländischen Gesellschaft — als einer Art von Oberschicht — breiten sich  heute … abendländisch ,zivilisierte` Verhaltensweisen über weite Räume jenseits des Abendlandes hin aus, wie sich ehemals innerhalb des Abendlandes selbst von dieser oder jener gehobenen Schicht, von bestimmten, höfischen oder kaufmännischen Zentren her Verhaltensmodelle ausbreiteten. … Nicht die ,Technik` ist die Ursache dieser Verhaltensänderung; … Technik, Schulerziehung, alles das sind Teilerscheinungen. … Die immer wiederkehrende Einschmelzung von Verhaltensweisen der funktional oberen Schichten in das der aufsteigenden, unteren ist nicht wenig bezeichnend für die merkwürdig zwiespältige Stellung der Oberschichten in diesem Prozeß. Die Gewöhnung an eine Langsicht, die strengere Regelung des Verhaltens und der Affekte, die ihre Funktionen und ihre Lage den jeweiligen Oberschichten zur Gewohnheit machen, bilden für diese Schichten, also zum Beispiel für die kolonisierenden Europäer, wichtige Instrumente ihrer Überlegenheit über andere; sie dienen ihnen als Unterscheidungsmerkmale; sie gehören zu den Prestige gebenden Kennzeichen ihrer Stellung als Oberschicht. Gerade deswegen ahndet eine solche Gesellschaft den Verstoß gegen das herkömmliche Schema der Trieb- und Affektregelung, das ,Sich-gehen-lassen‘ eines ihrer Mitglieder, mit einem mehr oder weniger scharfen Verruf; sie ahndet solche Verstöße um so strenger, je größer die gesellschaftliche Stärke der unteren Gruppe wird, je mehr die Menschen einer solchen Gruppe nach oben drängen und je intensiver die Konkurrenz, nämlich der Kampf um die gleichen Chancen, zwischen der oberen und der unteren Gruppe ist. … Die Furcht, die aus der Lage der ganzen Gruppe, aus ihrem Kampf um die Erhaltung der gehobenen Position und aus deren größerer oder geringerer Bedrohung stammt, wirkt auf diese Weise unmittelbar als Triebkraft zur Aufrechterhaltung des Verhaltenskodex, zur Züchtung des Über-Ich in ihren einzelnen Mitgliedern: sie setzt sich in individuelle Angst, in die Furcht des Einzelnen vor der persönlichen Degradierung oder auch nur vor Minderung seines Prestiges in der eigenen Gesellschaft um: und es ist diese als Selbstzwang angezüchtete Furcht vor der Verringerung des eigenen Ansehens in den Augen anderer, mag sie nun die Gestalt der Scham oder etwa die des Ehrgefühls annehmen, die die ständige, gewohnheitsmäßige Wiedererzeugung des unterscheidenden Verhaltens und die strenge Triebregelung da hinter im einzelnen Menschen sichert.” (S. 344-347, Bd. II).

Die Angst vor sozialem Abstieg ist demnach die Triebkraft, die das Einhalten von Regeln  erzwingt, die von keinem Staat normiert und von keiner Polizei kontrolliert, doch meis strikter befolgt werden als manches Staatsgesetz. Dieser Angst muß die Armut ah schlimmste Drohung erscheinen, denn sie symbolisiert das Absinken bis zum unterster Rand der Gesellschaft. Und Armut ist dann eben nicht nur Unglück, Mangel an Lebenschancen und Lebensmitteln sondern — schlimmer noch — Inbegriff des Unkultivierten, Unzivilisierten. Die Armen ermangeln der gesellschaftlichen Verfeinerung in Kleidung, Geruch, Sprache und Verhalten. Das Unglück der Armen wird damit zum Stein des Anstoßes für die Nicht-Armen. Ihre Existenz ist bedrohliche Mahnung, wohin es einen verschlagen kann. Sie wird deshalb verharmlosend umgedeutet in die pädagogische Botschaft: So muß es Menschen ohne zivilisierte Lebensart ergehen. Und im Handumdrehen sind die Opfer der Gesellschaft zur Objekten der Erziehung gemacht. Emile Zola, ein weiterer literarischer Sozialpädagoge, karikiert diesen Umgang mit Armut in seinem Roman „Germinal”. Dort geht die Maheu, die Mutter der vielköpfigen Bergarbeiterfamilie, in ihrer Verzweiflung zum Haus der Familie des Verwalters, Gregoire, um von ihm ein wenig Bargeld zu erbetteln. Die folgende Szene drückt den bis heute gängigen gesellschaftlichen Umgang mit Armut aus: Armut als Erziehung, sowohl für die Armen wie für die Spender:

„Die Gregoire betrauten Cecile (ihre Tochter) damit, ihre Almosen auszuteilen. Dies paßte zu ihren Begriffen von einer guten Erziehung. Man mußte mildtätig sein; sie sagten selbst, ihr Haus sei das Haus des lieben Gottes. Sie schmeichelten sich übrigens, die Wohlt ätigkeit mit Klugheit zu üben; denn es plagte sie die ewige Angst, betrogen zu werden und das Laster zu unterstützen. Darum schenkten sie niemals Geld, niemals, nicht zehn Sous, nicht zwei Sous; denn es ist ja bekannt, daß ein armer Mensch, sobald er zwei Sous besitzt, dieselben vertrinkt. Ihr Almosen bestand stets in Naturalien, besonders in warmen Kleidern, die zur Winterzeit an die armen Kinder verteilt wurden. …
,Ich habe gerade noch zwei wollene Kleiner und zwei Tücher`, sagte Cecile … ,Sie werden sehen, wie gut warm die armen Kleinen gekleidet werden.‘
Endlich fand die Maheu die Sprache wieder.
,Vielen Dank, mein Fräulein‘, stammelte sie ….Sie alle sind sehr gütig .. ‚
Tränen füllten ihre Augen, sie glaubte sich der hundert Sous sicher und dachte nur an die  Art und Weise, wie sie sie verlangen sollte, wenn man ihr sie nicht anbieten würde. Das Stubenmädchen kam nicht sogleich zurück; es trat ein Augenblick verlegenen Stillschweigens ein. Die Kleinen hingen an den Röcken der Mutter und machten große Augen nach dem Kuchen.
,Sie haben nur diese zwei?‘ fragte Frau Grégoire, um das Stillschweigen zu brechen. ,Oh, Madame, ich habe sieben.‘
Herr Grégoire, der sich wieder in seine Zeitung vertieft hatte, fuhr entrüstet auf. ,Sieben Kinder? Aber warum denn, lieber Gott?‘
,Das ist unklug‘, murmelte die alte Dame.
Die Maheu machte eine unbestimmte Gebärde der Entschuldigung. Mein Gott, das kommt von selbst, man denkt gar nicht daran. Und dann: wenn die Kinder einmal größer werden, helfen sie mit erwerben und das Haus erhalten. …
Herr Grégoire betrachtete sinnend diese Frau und ihre bedauernswerten Kinder mit ihrem wachsbleichen Fleische, ihren farblosen Haaren, die Entartung, in der sie verkümmerten, von Blutlosigkeit verzehrt, von der traurigen Häßlichkeit der Hungernden…. Und Herr Grégoire schloß laut die Betrachtungen, die der Anblick dieser Hungerleider in ihm angeregt hatte.
,Es gibt viel Unglück hienieden, das ist wahr: aber, gute Frau, es muß auch zugegeben werden, daß die Arbeiter nicht sehr vernünftig leben … Anstatt einen Spargroschen beiseite zu legen wie unsere Bauern, trinken die Grubenarbeiter, machen Schulden und haben schließlich kein Brot für Weib und Kind: „(Insel Taschenbuch, S. 106ff. in der Übersetzung von Armin Schwarz)

All die armenpädagogischen Elemente dieses vor 100 Jahren 1885 erstmals erschienenen Romans finden sich im Bundessozialhilfegesetz (BSHG) in seiner heute gültigen Fassung wieder: Wenn die Familie Grégoire fürchtet „… betrogen zu werden und das Laster zu unterstützen”, da setzt § 18 BSHG im Absatz 1 auf die Tugend der Arbeit: „Jeder Hilfesuchende muß seine Arbeitskraft zur Beschaffung des Lebensunterhalts für sich und seine unterhaltsberechtigten Angehörigen einsetzen” — und dies obwohl die allermeisten Personen, gerade deshalb auf Sozialhilfe angewiesen sind, weil ihnen die Gesellschaft Arbeit gegen genügendes Entgelt verweigert.
Die Furcht „betrogen zu werden und das Laster zu unterstützen” verstellt aber auch dem BSHG den Blick für die Wirklichkeit so sehr, daß ein Test für die hypothetische Arbeitsbereitschaft vorgesehen ist — gerade da, wo realistische Arbeit fehlt. § 19 Absatz 1: „Für Hilfesuchende, die keine Arbeit finden können, sollen nach Möglichkeit Arbeitsgelegenheiten geschaffen werden” und im §20 Absatz 1: „Ist es im Einzelfall erforderlich, einen arbeitsentwöhnten Hilfesuchenden an Arbeit zu gewöhnen oder die Bereitschaft eines Hilfesuchenden zur Arbeit zu prüfen, soll ihm eine hierfür geeignete Tätigkeit angeboten werden.”
Die märchenhafte Konstruktion eines „arbeitsentwöhnten” Menschen zeigt überdeutlich, wie wenig es hierbei um den Gelderwerb geht, sondern um eine Lakmusprobe sozusagen für Tugend- oder Lasterhaftigkeit. Wenn die Familie Grégoire statt Geld lieber abgelegte Kleidungsstücke geben, weil sie meinen, das Geld würde sowieso nur versoffen, so sieht auch das BSHG diese Möglichkeit vor, ohne je so konkret zu werden. § 25, Absatz 2: „Die Hilfe kann bis auf das zum Lebensunterhalt Unerläßliche eingeschränkt werden … bei einem Hilfeempfänger, der trotz Belehrung sein unwirtschaftliches Verhalten fortsetzt”.´
Bekanntlich geben Sozialämter häufig statt Bargeld Gutscheine damit — ganz im Sinne der Grégoires — die Mittel nicht zweckentfremdet werden können.
Selbst die familienpolitischen Bedenken der Grégoires teilt das BSHG. Es gibt einen Paragraphen, der den Sozialämtern vorschreibt, daß sie den „Zusammenhalt der Familie festigen” sollen (§7). Und sogar „Hilfe zur Familienplanung” sollen sie leisten.
Andererseits haben die Sozialämter schon sehr früh beischläfrige Gemeinschaften als ehe-ähnlich anerkannt, wo sich die Gerichte in Renten- und Erbsachen noch heute schwer tun, faktische Ehen wie standesamtlich geschlossene zu behandeln. In der Praxis des Sozialrechts werden unabhängige, erwachsene Menschen die zusammenleben mit einer unerträglichen Schnüffelei auf den Grad ihrer Intimität untersucht (eheähnlich oder nicht?), damit die Partnerin oder der Partner dann zur Kasse gezwungen werden kann. Der sozialpädagogische Erziehungsauftrag wird also heute wie damals vor hundert Jahren bei Zolas Familie Grégoires ganz umfassend gehandhabt als zivilisatorische Aufgabe bis hinein ins Intime. So wie die Europäer meinten, ihren Kolonien die Zivilisation nahebringen zu müssen, so sind die Sozialarbeiter und Sozialpädagogen durch das Bundessozialhilfegesetz angehalten, dem untersten Rand der Gesellschaft, den Armen, Arbeitsdisziplin und Moral beizubringen. Sie werden so quasi zu innergesellschaftlichen Kolonialbeamten.
Das Erziehungsmittel ist das Gewähren oder Versagen von Geld- und Sachmitteln. Sparsamkeit ist das offen angegebene Ziel. Wie dieses Ziel selbst zum Erziehungsmittel wird, zeigt sich am deutlichsten am Paragraphen 23 des Bundessozialhilfegesetzes, der eine groteske Verkehrung der sonstigen Verhältnisse im Sozialrecht vornimmt: Seltsamerweise gesteht er Personen, die über 65 oder in Frührente sind, dreißig Prozent Mehrbedarf zu, während überall sonst in den Gesetzen zu den Renten und Pensionen davon ausgegangen wird, daß im Alter ein Minderbedarf von fünfundzwanzig bis vierzig Prozent besteht, weil keine Erwerbsarbeit mehr geleistet werden muß. Wie anders kann diese absurde Verkehrung verstanden werden, als ein Mittel, die erwerbsfähigen Armen so knapp zu halten, daß sie eine auch noch so schlechte und mies bezahlte Arbeit der Sozialhilfe vorziehen?

Es ist durchaus ungewiß, ob ein solcher Erziehungsauftrag jemals sinnvoll war. Heute jedenfalls ist er ganz offensichtlich unsinnig, denn Sozialwissenschaftler und Ökonomen sind sich einig, daß die Erwerbsarbeit in unserer Zeit immer mehr zum Privileg wird. Ein vermutlich wachsender Anteil der erwerbsfähigen Bevölkerung wird durch die Computerisierung und Rationalisierung ohne eigenes Verschulden aus der Erwerbsarbeit herausgedrängt. Die heute geltenden Sozialgesetze bestrafen diese Menschen auch noch für den Verlust ihrer Arbeit und halten dabei die Fiktion aufrecht, es läge im freien Willen dieser Menschen, wieder bezahlte Arbeit zu finden, es läge an ihrer Arbeitsscheu oder gar Arbeitsentwöhnung.
In dieser Situation sind in einigen Ländern — am ausgereiftesten wohl in Schweden — Vorschläge entwickelt worden, den aus der Erwerbsarbeit herausgedrängten Menschen ein garantiertes Mindesteinkommen zu gewähren — ohne Auflagen, Bedingungen und Schnüffeleien.
Ein solches garantiertes Mindesteinkommen könnte zwar die Armut nicht abschaffen sondern wäre dann selbst die neue Definition von Armut. Denn die Bezieher dieses Mindesteinkommens blieben der unterste Rand der Gesellschaft. Aber es würde den Menschen, die unter die Armutsdefinition fallen, wenigstens die Erziehung durch die sozialpädagogischen Institutionen ersparen. Und das würde ihre Lage ganz grundlegend erleichtern.

nach oben