Themen / Sozialpolitik

Die mobile Armut

24. Februar 1985

aus vorgänge Nr. 73 (Heft 1/1985), S. 56-63

»Das Gesetz in seiner majestätischen Gleichheit verbietet es, den Reichen wie den Armen,
auf den Straßen zu betteln, unter den Brücken zu schlafen und Brot zu stehlen.«

(Anatole France)

In der BRD leben ca. 80 000 — 100 000 sog. »Nichtseßhafte«. Das sind alleinstehende Personen ohne Wohnung oder sonstige Unterkunft, die ohne jedes regelmäßige Einkommen in völliger Armut leben. Die Größe und die Zusammensetzung dieses Personenkreises folgt weitgehend der Entwicklung der Arbeitslosenquote, d.h. die Anzahl der Betroffenen nimmt gegenwärtig zu. Gleichzeitig steigt unter ihnen der Anteil der Jugendlichen und jungen Erwachsenen besorgniserregend an.

Nachts ohne Wohnung

Ein zentrales Merkmal der »Nichtseßhaften« ist das Fehlen einer festen Unterkunft. Mehr noch: »Nichtseßhafte« sind aus dem offiziellen Wohnungsmarkt soweit ausgegliedert, daß sie nicht einmal mehr als Nachfrager von Wohnraum in Erscheinung treten.
 Die meisten »Nichtseßhaften« sind gezwungen, sich Tag und Nacht im Freien aufzuhalten. Nur die wenigsten finden Unterkunft in einer Übernachtungsstelle oder in einer Einrichtung der Nichtseßhaftenhilfe. In einer Stadt wie Dortmund stehen z.B. ca. 250 bis 300 sich ständig dort aufhaltenden Stadtstreichern nur ca. 70 Schlafplätze in der städtischen Übernachtungsstelle zur Verfügung. Ohnehin sind die Verhältnisse in den Übernachtungsstellen derart abstoßend, daß es viele Stadtstreicher vorziehen, die Nächte – selbst im Winter – nicht dort zu verbringen (2).

»Ich habe da versucht, mich irgendwie so durchzuschlagen. Das hat eigentlich ziemlich gut geklappt, bloß mit dem Schlafen hinterher, dann fing — da war so eine Periode mit Regen und so weiter und da fiel es mir dann also sehr schwer, einen Schlafplatz zu finden, der nicht gerade naß war. Dann habe ich da mehrere Tage lang nicht geschlafen, oder kaum – stundenweise nur noch, dann bin ich natürlich zusammengebrochen, weil ich am Ende meiner Widerstandskraft war, da die Ernährung in dem Falle auch nicht gerade die beste war. Da habe ich bestimmt auch Mangelerscheinungen gehabt und so weiter und ich bin dann also richtig zusammengebrochen. (…)
Ich bin dann hier in Herten noch mal an Übermüdung und Mangelerscheinungen der Ernährung zusammengebrochen. Ich bin dann im Krankenhaus wieder aufgewacht. Ich hatte da eine Kopfwunde, die mit drei Stichen genäht worden ist, ohne daß ich da was von gemerkt habe. Soweit war ich weg. Ich habe dann zwei Wochen gebraucht, um dann wieder richtig fit zu sein.« (Ein Betroffener, Jahrgang 1962)

Wer nicht in der Übernachtungsstelle übernachten kann, sei es wegen Überfüllung oder wegen zu großer Abneigung, ist gezwungen, die Nacht anderweitig zu verbringen. Im Sommer übernachten viele Stadtstreicher im Freien, z.B. in Gebüschen, auf Wiesen oder Bänken von Parkanlagen oder in Hauseingängen. Im Winter ist dies oft lebensbedrohend. Jeden Winter erfrieren zahlreiche Stadtstreicher, die über Nacht keinen ausreichenden Schutz vor der Witterung gefunden haben. Schutz finden manche in Abbruchhäusern oder Neubauten, in Bahnhöfen oder auch in Kellerräumen von Privathäusern. Egal, wie ein Stadtstreicher die Nacht verbringt, stets ist er gezwungen, hierbei zumindest eine Ordnungswidrigkeit, im Winter sogar oftmals eine Straftat zu begehen. So befinden sich Stadtstreicher fast jede Nacht in der auswegslosen Situation, zwar keinerlei Ansprüche auf eine angemessene Unterkunft realisieren zu können, jedoch damit gezwungen zu sein, mehr oder weniger durch ihr bloßes Dasein gegen geltendes Recht zu verstoßen.
Viele Stadtstreicher haben wegen Delikten, die mit ihrem Überleben in unmittelbarem  Zusammenhang stehen, oft ein langes Vorstrafenregister. Wenn sie solche Delikte trotz Vorstrafe erneut begehen, unterstellen Gerichte in der Regel Unbelehrbarkeit der Betroffenen, was zu ständig höherem Strafmaß führt, statt hierin die Ausweglosigkeit ihrer Lebenssituation zu erkennen.

Wie Stadtstreicher den Tag zubringen

Nur wenig günstiger sind für Nichtseßhafte die Möglichkeiten, den Tag zu verbringen.  Die Übernachtungsstellen müssen meist schon frühmorgens verlassen werden. Manche Stadtstreicher bemühen sich, vor allem bei niedrigen Außentemperaturen, den ganzen Tag durch Kaufhäuser oder öffentliche Gebäude zu laufen, ohne als Nichtseßhafte erkannt und vertrieben zu werden.
Wenige Stadtstreicher haben die Möglichkeit, sich, auch ohne etwas zu verzehren, in bestimmten Kneipen aufzuhalten und als Gegenleistung für die Inhaber Botengänge, Einkäufe oder andere Erledigungen zu tätigen.

Andere halten sich überwiegend in Gruppen an ganz bestimmten Plätzen einer Stadt auf, an denen sie mehr oder weniger geduldet werden. Diese prägen das öffentliche Er scheinungsbild von Nichtseßhaften, obwohl sie nur eine kleine Gruppe unter diesen bilden. Die aufgeführten Beispiele, wo sich Stadtstreicher üblicherweise tagsüber aufhalten, ließen sich durch weitere, ähnliche ergänzen. Es stellt sich die Frage, wie sie diese Zeit verbringen. Die wenigsten Stadtstreicher haben die Möglichkeit, die relativ große Menge an Zeit, die ihnen zur Verfügung steht, d.h. nicht durch äußere Verpflichtungen verplant ist, in einer für sie befriedigenden Art und Weise zu nutzen. Hierzu fehlen ihnen die elementarsten Voraussetzungen. Sie haben noch nicht einmal für die Verrichtung der notwendigsten Dinge oder die Befriedigung der unmittelbarsten Bedürfnisse geeignete Rückzugsmöglichkeiten aus der permanenten erzwungenen Öffentlichkeit ihres Lebens. Es ist ihnen auch nahezu unmöglich, über diese Bedürfnisse hinaus weitere, differenziertere Bedürfnisse und Interessen zu entwickeln. Die viele »freie« Zeit im Leben der Nichtseßhaften erscheint damit keineswegs als disponible Zeit, die individuell und selbstbestimmt, d.h. relativ frei von Fremdbestimmung, etwa im Sinne von Freizeit (3) gestaltet werden kann. Nichtseßhafte müssen vielmehr diese Menge Zeit irgendwie »rumkriegen« oder »totschlagen«. Die viele Zeit stellt sich als ein höchst belastendes Moment dar, das bewältigt werden muß. So müssen Stadtstreicher sich zwar irgendwie aufhalten, müssen dasein, können aber fast nichts, was gesellschaftlich oder auch nur für sie bedeutsam wäre, gar in Kooperation mit anderen tun. Sie können und müssen in der verstreichenden Zeit physisch existieren, haben auf diese Zeit aber kaum Zugriffsmöglichkeiten, um sich ihrer zu bemächtigen, sie zu nutzen. Nichtseßhafte sind somit in zweifacher Hinsicht Objekt ihres Daseins. Zum einen haben sie aufgrund ihrer ungünstigen Lebensbedingungen fast jede Zugriffs- und Kontrollmöglichkeit über ihre Lebensplanung verloren, dies um so gravierender, je länger sie diesen Lebensumständen schon ausgesetzt sind, zum anderen sind sie hierdurch und durch ihre absolute Mittellosigkeit einer hohen äußeren sozialen Kontrolle und Fremdbestimmung durch Institutionen der Sozialadministration, der Ordnungsbehörden und der Polizei ausgesetzt.

Soziale Kontakte und Beziehungen zu Frauen

Ihre eingeschränkte Handlungsfähigkeit und ein hohes Maß an gesellschaftlicher Stigmatisierung macht es Nichtseßhaften nahezu unmöglich, tragfähige soziale Beziehungen einzugehen und aufrechtzuerhalten. Da sie nicht in der Lage sind, die Befriedigungsmöglichkeiten auch nur ihrer elementarsten Lebensbedürfnisse langfristig sicherzustellen, befinden sie sich meist in einem täglichen Konkurrenzkampf untereinander um die Ressourcen. Dies führt nur in wenigen Fällen zu organisiertem, gemeinsamen  Vorgehen, z.B. Absprachen darüber, wer wo, wie lange für eine bestimmte Gruppe bettelt, sondern meist zu individuellem Vorgehen mit dem Ziel, Konkurrenten auszuschalten. Überdies sind viele der zu knappen erreichbaren Befriedigungsmöglichkeiten auch kaum mehr teilbar.
Nur wenige Nichtseßhafte haben Kontakte zu Frauen und dann nur zu solchen Frauen,  die ebenfalls nichtseßhaft zu leben gezwungen sind. Diese machen jedoch nur einen geringen, aber steigenden, Anteil unter den Nichtseßhaften aus. Die genauen Gründe hierfür sind bislang noch nicht systematisch untersucht worden, vieles spricht jedoch dafür, daß sich für Frauen das Leben auf der Straße weitaus gefährlicher und schwieriger gestaltet, als es schon für Männer ist. Gerade im sexuellen Bereich sind nichtseßhafte Frauen, die alleine leben, nahezu schutzlos. Zum anderen werden Frauen, die in unserer Gesellschaft in eine Notlage geraten, die Männer zwingt, fortan nichtseßhaft zu leben, vermutlich eher in andere Lebensformen abgedrängt, wobei wir hier, ohne darauf näher eingehen zu können, auf die verschiedenen Formen der Prostitution verweisen möchten.
Die Frauen, die trotzdem nichtseßhaft leben, sind darauf angewiesen, sich einem nichtseßhaften Mann anzuschließen. Diesem sind sie zwar dadurch oft auf Gedeih und Verderb ausgeliefert — da es nur wenige nichtseßhafte Frauen gibt, machen viele Männer in einer solchen Situation rigide Besitzansprüche geltend — jedoch liegt hierin die einzige Möglichkeit, einen gewissen »Schutz« vor einer völligen sexuellen Ausbeutung durch andere Männer zu erreichen. Dennoch zeichnen sich auch solche Beziehungen vielfach durch einen hohen Grad an sexueller Instrumentalisierung aus, der soweit gehen kann, daß die Frau fortan gezwungen wird, zur Bestreitung des gemeinsamen Lebensunterhaltes der Prostitution nachzugehen.

Nichtseßhafte und Alkohol

Zweifellos hat der Alkohol im Leben vieler Nichtseßhafter eine zentrale Bedeutung,  doch erweist sich die fast durchgängige Zuschreibung von Alkoholproblemen auf jeden Nichtseßhaften als falsch. Es lassen sich vielmehr innerhalb der Gruppe der Nichtseßhaften alle Formen des Umganges mit Alkohol nachweisen, wie sie auch in der übrigen Bevölkerung zu beobachten sind. Unterschiedlich sind lediglich die Häufigkeiten ihres jeweiligen Auftretens. D.h. es gibt durchaus auch Nichtseßhafte, die völlig abstinent leben, die meisten trinken Alkohol in ähnlichem Umfang und in ähnlicher Weise, wie es Menschen, die in einer Wohnung leben, auch tun. (4)  Bemerkenswert ist, daß das Stereotyp »Nichtseßhaft = Alkoholgefährdung« auch bei professionellen Mitarbeitern der Nichtseßhaftenhilfe eine große Rolle spielt, wie sich z.B. an einer rigiden Alkoholverbotspraxis in fast allen Einrichtungen der Nichtseßhaftenhilfe zeigt.
Ein Grund für diese durchgängige Zuschreibung liegt darin, daß Nichtseßhafte in der Öffentlichkeit tatsächlich oft zu sehen sind, wenn sie Alkohol trinken. Hier muß je-doch darauf hingewiesen werden, daß Nichtseßhafte gar keine andere Möglichkeit ha ben, als in der Öffentlichkeit zu trinken, da ihnen die Rückzugsmöglichkeiten in einen Privatbereich, wie sie andere Menschen, deren Trinkverhalten oft kaum von dem der Stadtstreicher abweicht, jedoch gesellschaftlich keineswegs negativ, eher sogar positiv bewertet wird, offenstehen.

Arbeits- und Erwerbssituation Nichtseßhafter

Fast alle Nichtseßhaften sind vollständig aus dem »offiziellen« Arbeitsmarkt ausgegliedert. Nur die wenigsten haben Ansprüche auf arbeitsmarktexterne Versorgungsleistungen oder können sich solche Ansprüche, etwa auf Arbeitslosengeld oder Arbeits losenhilfe, oft nicht einmal auf Sozialhilfe, dauerhaft sicherstellen. Sie sind auf andere Formen der Subsistenzsicherung angewiesen. Gesellschaftlich sichtbar werden hierbei zumeist das Betteln und kleinere, in der Regel im Bereich des Mundraubes liegende, Diebstähle.

»Ich habe gestohlen, um meinen täglichen Lebensunterhalt zu decken. Und zwar nicht nur von mir alleine, sondern von einem Freund auch noch. Und das war, da ich nicht jeden Tag Gelegenheit hatte, mich zu waschen, war das also für mich etwas schwer. Ich brauchte also jeden Tag Lebensmittel und so weiter, wir hatten also am Anfang Baustellen nach Flaschen abgesucht, nach Leergut, um wenigstens einen Teil kaufen zu können, damit das nicht mehr auffiel. Das war auf längere Zeit doch kritisch. Ich meine, beim ersten Mal geht das, wenn einer da noch nicht bekannt ist, aber wenn einer jeden Tag da rein geht und nichts kauft, dann wird das also langsam auffällig. Da haben wir also versucht, mit den Mitteln an Lebensmittel zu kommen. Wir haben auf einer Baustelle geschlafen, meistens. Die Bauarbeiter waren sehr freundlich, die haben uns gelassen, ohne irgendwie die Polizei einzuschalten oder so weiter, und im Sommer — also das war im Sommer vorigen Jahres — haben wir dann auch schon mal draußen geschlafen.« (Ein Betroffener, Jahrgang 1962)

Weit weniger sichtbar und bekannt ist die Tatsache, daß Nichtseßhafte Zielgruppe ganz  spezifischer Arbeitsmärkte sind, für die sie gerade durch ihre Notlage eine hohe Bedeutung haben. Diese Arbeitsmärkte versorgen solche Wirtschaftsbereiche mit Arbeitskraft, die in der Regel unqualifizierte Arbeitskraft benötigen und deren Bedarf durch starke kurzfristige Schwankungen bestimmt ist. Die Unternehmen sind daran interessiert, stets nur soviel Arbeitskraft kaufen zu müssen, wie aktuell gebraucht wird, ohne sich vertraglich zu einer längerfristigen Abnahme verpflichten zu müssen. Da ihr Arbeitskräftebedarf meist täglich, oft sogar stündlich variiert, müßten sie dann nämlich, um stets genügend Arbeitskraft verfügbar zu haben, weitaus mehr Arbeitskraft kaufen als sie durchschnittlich verwerten können.

Die Belegschaft solcher Unternehmen — sie gehören häufig der Transport- und Speditionsbranche, der Bauwirtschaft oder dem Schaustellergewerbe an — besteht in der Regel aus einem Stamm von möglichst wenigen angelernten oder ausgebildeten, festangestellten Arbeitern, die zu Zeiten hohen Arbeitskräftebedarfs alle notwendigen qualifizierten Arbeiten verrichten können. Dieser Stamm wird je nach Arbeitskräftebedarf er gänzt durch nur stunden- oder tageweise angestellte Arbeiter für die Erledigung solcher Arbeiten, für die keine Qualifikation erforderlich ist. Sinkt der Arbeitskräftebedarf, werden die unqualifizierten Arbeiten von einem Teil der festangestellten Arbeiter übernommen. Wie schon erwähnt, rekrutiert sich der größte Teil der nur kurzfristig eingestellten Arbeiter aus dem Personenkreis der Nichtseßhaften.

Schnelldienst, Arbeitsstrich und Subunternehmertum

Die Vermittlung dieser Arbeiter erfolgt zu einem Teil über Gelegenheitsarbeitsmärkte.  Hier gibt es zum einen eine offizielle Form, den sogenannten Schnelldienst, eine in fast jeder Stadt anzutreffende spezielle Vermittlungsabteilung des Arbeitsamtes. Daneben existiert auch eine inoffizielle Form, der sogenannte »Arbeitsstrich«. Eine dritte Variante stellt das sog. »Subunternehmertum« dar.

Bei der Vermittlungsagentur des Arbeitsamtes finden sich täglich frühmorgens Arbeitssuchende ein, die dann nach von Stadt zu Stadt unterschiedlichen Auswahlkriterien an Firmen vermittelt werden, welche in der Regel telefonisch eine bestimmte Anzahl von Arbeitern anfordern.
Die nichtoffizielle Form der Gelegenheitsarbeitsvermittlung erfolgt durch direkte Kontaktaufnahme der Ankäufer von Arbeitskraft und den Arbeitssuchenden. Letztere finden sich täglich zu bestimmten Zeiten an bestimmten Plätzen, z.B. in der Nähe des städtischen Großmarktes, ein und bieten ihre Arbeitskraft Unternehmen oder von diesen beauftragten Personen an, die diese Plätze gezielt aufsuchen.

»Ich war hier ab und zu mal bei Doego (Transportunternehmen in der Nähe des Großmarktes von Dortmund d.V.), habe mir da immer die Nächte um die Ohren geschlagen. (…)
Manchmal kommt man als erster hin und derjenige, der die Leute einteilt, der sucht sich immer die besten aus, der sagt: Du kommst mit, Du kommst mit, ja, und wenn nun drei Mann da sind und zwei braucht er, ja, dann wird ausgelost. Ein Papierschnipsel, eine Zahl draufgeschrieben, zwei Nullen und eine Eins, also drei Schnipsel, die werden auf den Tisch geworfen, und wenn einer die Eins hat, dann hat er gewonnen, dann kann er da arbeiten. Da bin ich auch schon mal mit Wut im Bauch wieder zurückgegangen.«
Frage: Wie lange haben sie damals gewartet?
»Zwei Stunden. Ja, um sieben kommt er, je nach dem, wieviel Tonnen, aber wenn man Pech hat, kann man warten bis um zehn, bis dann eben der Fahrer kommt und sagt: Du kommst mit.« (Ein Betroffener, Jahrgang 1950)

Subunternehmer stellen Arbeitssuchende ein und leihen sie an andere Unternehmen, die die eigentliche wertschaffende Nutzung ihrer Arbeitskraft vornehmen, aus. Vor allem unqualifizierte Arbeiter erhalten für ihre Arbeit meist nur ein Taschengeld. Vielfach ist mit der Einstellung die Verpflichtung verknüpft, eine Unterkunft in eigenen Übernachtungslagern des Subunternehmers in Anspruch zu nehmen, um bei Bedarf ständig zur Verfügung zu stehen.
Für Nichtseßhafte stellt selbst diese höchst einschränkende Verpflichtung eine reale Verbesserung ihrer Lebenssituation dar, insofern zählen Nichtseßhafte zu den wichtigsten Zielgruppen dieses Teils des Arbeitsmarktes. (5)
Eine besondere Form des Arbeiterverleihs wird durch sich caritativ verstehende statio näre Einrichtungen der Nichtseßhaftenhilfe betrieben. Diese leihen Anstaltsinsassen an externe Firmen aus und zahlen ihnen nur eine sehr geringe Prämie. Entsprechend der üblichen Praxis in Nichtseßhafteneinrichtungen werden für diese Arbeiter auch keine Sozialversicherungsbeiträge abgeführt. Die zunehmende öffentliche Kritik an dem Subunternehmertum veranlaßte den Geschäftsführer des Westfälischen Herbergsverbandes daher schon vor Jahren — bisher vergeblich — zu fordern: »Wir sollten alles tun, um nicht durch unkorrekte Lösungen mit den negativen Praktiken von Subunternehmen in einen Topf geworfen zu werden. Es bestehen daher größte Bedenken, wenn interne Werkstätten Beschäftigte in externe Firmen ausleihen und ihnen dann nur etwa 20% des Firmenerlöses als Prämie gewähren«. (6)

Kaum ein Nichtseßhafter kann seinen Lebensunterhalt durch Erwerbstätigkeiten, wie  wir sie beschrieben haben, langfristig sicherstellen. Die für die genannten Arbeitsmärkte verfügbare Arbeitskraft übersteigt stets bei weitem die Nachfrage. Zusätzlich wirkt sich die krisenbedingte generelle Verschlechterung der Arbeits- und Lebensbedingungen der lohnabhängigen Beschäftigten auf diesen Arbeitsmärkten in besonderer Weise aus: Zum einen wächst durch zunehmende gesellschaftliche Deklassierung das Arbeitskräftepotential, andererseits werden bei Nachfragerückgang auf dem Arbeitsmarkt Arbeitsplätze in einem derart extremen Randbereich am ehesten wegfallen.

Gesundheitszustand und medizinische Versorgungslage

Es überrascht nicht, daß Menschen, die bedingt durch ihre Lebenssituation kaum die Möglichkeit einer regelmäßigen und ausreichenden Körperpflege haben, überdurchschnittlich oft an Hautkrankheiten, Pilz- oder Ungezieferbefall leiden oder ein verfallendes Gebiß aufweisen. Ebenso lassen sich häufig auftretende Krankheiten wie Fehl-oder Unterernährung und Mangelerkrankungen, vor allem auch die als typische Armutskrankheit bekannte Tuberkulose mit der ungünstigen Lebenssituation der Nicht-seßhaften erklären. Diese Situation verschärft sich in vielen Fällen noch zusätzlich durch eine unzureichende, oft sogar ganz fehlende ärztliche Versorgungsmöglichkeit (7). Hierfür gibt es verschiedene Gründe:
Zum einen haben Nichtseßhafte oft schon jahrelang nicht mehr versicherungspflichtig gearbeitet und sind daher nicht krankenversichert. Sie haben dann zwar Anspruch auf Krankenhilfe im Rahmen des BSHG, jedoch nur wenige Nichtseßhafte sind im Bedarfsfall in der Lage, sich diese, wie auch andere Sozialleistungen zu erschließen. All dies bewirkt bei den Betroffenen selbst eine oft stark ausgeprägte Scheu, einen Arzt  aufzusuchen. Viele schämen sich wegen ihres zwangsläufig ungepflegten Zustandes und möchten sich so nicht einem Arzt, zu dem sie überdies meist eine hohe soziale Distanz empfinden, ausliefern. 
Zusätzlich haben Nichtseßhafte, selbst wenn sie sich in ärztliche Behandlung begeben, meist nicht die Möglichkeit, eine manchmal mehrere Wochen dauernde ärztlich verordnete Therapie, z.B. regelmäßige Medikamenteneinnahme oder gar Wundversorgung, erfolgreich durchzuführen, da ihnen hierzu die erforderlichen Wohnvoraussetzungen fehlen. Viele Nichtseßhafte leiden daher oft jahre- bis jahrzehntelang, manche sterben sogar an Krankheiten, die, wären sie rechtzeitig erkannt und angemessen behandelt worden, mehr oder weniger erfolgreich hätten behoben werden können.

Ausblick

Mit der Dauer des Lebens unter den Bedingungen von Armut wächst das Risiko des  Herausfallens selbst aus dem Sozialhilfesystem und des weiteren sozialen Abgleitens bis hin zur völligen Verarmung. Diese Form von Armut wird gesellschaftlich z.B. als Nichtseßhaftigkeit, Obdachlosigkeit oder Verwahrlosung wahrgenommen und entsprechend behandelt.
Das Ausmaß dieser Form absoluter Armut nimmt in der letzten Zeit quantitativ wie qualitativ zu, d.h. die Anzahl der Problembetroffenen wächst und ihre Lebensbedin gungen verschlechtern sich erheblich. Insbesondere wächst der Anteil der Jugendlichen und der jungen Erwachsenen, die nach ihrer Schul-, bestenfalls nach ihrer Berufsausbildung noch nie im Erwerbsleben gestanden haben, unter diesen Personengruppen überproportional an.

Anmerkungen:

1 Den Hintergrund für unsere Ausführungen bilden zum einen zwei Exkursionen 1980 und 1982, während denen wir uns als Stadtstreicher ausgegeben und versucht haben, uns Zugang zu den jeweiligen örtlichen Angeboten der Nichtseßhaftenhilfe zu verschaffen. Zum anderen geht dieser Beitrag zurück auf mehrere Interviews, die wir mit ehemaligen alleinstehenden wohnungslosen Personen geführt haben. Um der notwendigerweise eher verallgemeinernden Tendenz unserer Darstellungen entgegenzuwirken, haben wir an einigen Stellen zur Veranschaulichung Auszüge aus diesen Interviews in den Text eingefügt.
2 vgl. Henke, M. / Rohrmann, E.: Als Stadtstreicher unterwegs. In: Gefährdetenhilfe 2/1981, Bielefeld Juni 1981; Übergang nach Nirgendwo — Als Penner in Resoheim. In: extra sozialarbeit 7/8/1984. Frankfurt Juli/August 1984; vgl. auch Wallraff, G.: 13 unerwünschte Reportagen, Köln 1969
3 vgl. Kramer, D.: Freizeit und Reproduktion der Arbeitskraft, Köln 1975
4 Albrecht, G.: Nichtseßhaftigkeit — das Phänomen und die Anforderung an die Hilfe, In: Sonderheft 1 der Gefährdetenhilfe, Bielefeld 1977
5  Rechtsgrundlage für die beschriebene Form des Arbeiterverleihs, bzw. genauer, des Verkaufs fremder Arbeitskraft ist das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz vom 7. August 1972. Die hier ohnehin äußerst dürftig formulierten Rechte der Arbeiter (Arbeitsschutz, Sozialversicherung etc.), finden in der Praxis selten Anwendung. Kaum ein betroffener Arbeiter hat die Möglichkeit, sich gegen unrechtmäßige Behandlung zur wehr zu setzen.
6 Hasenburg, F.: Rechtsgrundlagen im Hilfeangebot stationärer Nichtseßhaftenhilfe. In: Gefährdetenhilfe 4/80, Bielefeld November 1980
7  Veith, G. / Schwindt, W.: Von den Krankheiten der Nichtseßhaften. Bethel, Heft 16, Bielefeld Dezember 1976

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