Themen / Sozialpolitik

Einkommen ohne Arbeit

14. März 1996

Anmerkungen zum Umbau des unverstandenen Sozialstaates

aus: vorgänge Nr. 133 (Heft 1/1996), S. 30-37

Sozialstaat – was ist das eigentlich? Um den Sozialstaat umbauen zu können, sollte man wenigstens über einen Begriff, jedenfalls ein ungefähres Verständnis seines Inhalts verfügen. Diesen Begriff zu gewinnen, erweist sich allerdings schwieriger als zu erwarten — obwohl doch fast jeder über recht treffende Vorstellungen zu verfügen meint.

I.
Betrachten wir zunächst einmal nur den Staat. Begrifflich kommt der Staat von stato, von Zustand oder auch Verfassung, ist also Ausdruck der Organisation des Zusammenlebens von Menschen. Weil dieses Zusammenleben sich immer komplexer gestaltete, bildeten sich aus einer zunächst lockeren Organisation allmählich starre Institutionen mit Parlament, Regierung, Verwaltung, Gerichten usw. Wenn man vom Staat spricht, dann zumeist in diesem reduzierten Verständnis.
Dieser Staat hat wahrscheinlich als Relikt seiner Abkunft vom absoluten Staat ein oberstes Ziel: sich als Staat selbst zu erhalten. Selbsterhaltung gelingt ihm aber nur dadurch, daß er seine „Mitglieder” zu sichern sich bemüht; mit den Menschen, die im Staat Bürger sind, entfaltet sich dann auch erst das volle, moderne Staatsverständnis. Knapp und profan ist dies das Geheimnis der Staaten, aus dem sich ihr Verhalten erklärt.

Der Staat sichert also seinen Bestand, indem er sich um die Lebensbedingungen seiner Bürger müht. Dies läßt sich mithin als „Garantie der Garantie” kennzeichnen, weil der Staat sich selbst dadurch garantiert, daß er die seinen Bürgern eingeräumten Garantien garantiert.
Zur Gewährleistung dieser Garantien stehen ihm Institutionen und Instrumente der Repression zur Verfügung, die als eherne Prinzipien unsere Verfassung zieren: das Republikgebot, das Demokratieprinzip, die Bundesstaatlichkeit, die Rechtsstaatlichkeit, ein Umweltstaatsgebot und natürlich auch der Sozialstaatsgedanke, um den es hier vor allem geht. Diese Grundsätze sind in die „oberste Schicht” der Verfassung eingegangen und unkündbar garantiert; sie dienen den Bürgern, vor allem aber dem Staat, und sie halten beide in der darin vereinbarten Balance wie auch Distanz eines Vertrages.
Diese Feststellungen gelten in ganz besonderem Maß für den Sozialstaat, das heiß umkämpfte Produkt des 19. Jahrhunderts, in dem das ewige Elend der Massen maßlos wurde. Unter dem Eindruck des Gespenstes, das da umging in Europa, wie Marx und Engels es eingangs des Kommunistischen Manifests an die Wand malten, differenzierte sich der wirtschaftsliberale Rechtsstaat, dessen Liberalitas sich in der Ausbeutung der Arbeiter manifestierte, sehr gemächlich zum Sozialstaat. Jedenfalls nahm der Staat nun als nominelles
Attribut den Begriff „sozial” in seinen Pflichten-Kanon auf.
In Wirklichkeit aber garantiert der zeitgenössische Staat, der im Laufe vieler Auseinandersetzungen immer wieder andere Gestalt annehmen mußte, die individualistische Gesellschaft, und diese Gesellschaft ist die Wirtschaftsgesellschaft, die einen gewissen sozialen Ausgleich für nützlich befunden hat – das klingt hart und böse und ist richtig, es darf deutlich nur nicht zum Ausdruck kommen.
Der Staat ist also Ausdruck der Gesellschaft, der Sozialstaat aber müßte Ausdruck von Gemeinschaft sein, der das Soziale per se eignet. In dieser unbefriedigenden Zwitterstellung sucht der Staat die Differenz zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft, in die er hinein konstruiert wurde, durch die Postulierung von Sozialstaatlichkeit zu kaschieren. Dieser sich sozial nennende Staat entwirft nicht Gerechtigkeit, er dämpft nur die Unsicherheiten sozialer Ungleichheit, die aus dem freiheitlichen Rechtsstaat erwachsen. Das ist die erste, die fundamentale Ebene des unverstandenen Sozialstaates!

II.
Dem Staat fehlt das Ideal, das zum Sozialstaat gehört, ihm fehlt aber auch das Material, das zum Sozialstaat erforderlich wäre. Er garantiert daher nicht die materielle Sicherheit seiner Bürger, sondern allenfalls diese Absicht. Wie und wovon sollte er für deren Bedürfnisse auch sorgen? Er hat doch nichts, und was er hat, hat er von den Bürgern. Der Staat kann lediglich ein wenig umverteilen von dem, was ihm die Bürger geben bzw. was er ihnen nimmt, so daß niemand mehr verhungern muß, sondern nur noch hungern darf, wie die vielfältigen Untersuchungen über die „neue Armut” belegen.
Für die Umverteilung sollte man den Staat keineswegs geringschätzen, ihn deswegen als Sozialstaat zu rühmen, wäre aber ziemlich euphemistisch. Außerdem ist die Umverteilung keineswegs bloß sozial(politisch) motiviert. Sie folgt vielmehr dem Grundsatz: Wer wenig hat, dem reicht auch wenig, zum Beispiel dem Empfänger von Sozialhilfe, wer aber schon reichlich hat, dem muß auch noch reichlich gegeben werden, zum Beispiel den großindustriellen Subventions-Bauern.
Dieser Grundsatz scheint keineswegs der Logik zu entbehren. Wenn das hauptsächliche Anliegen des Staates in der Sicherung seiner Existenz auszumachen ist, die durch — personalisierte — Wahlen immer wieder bestätigt wird, sichert er sich am sichersten, wenn er Aufstand, Revolution, Umsturz verhindert. Zur Verhinderung eignen sich am besten – das alte Rom als Vorbild — panem et circenses. Brot und Spiele also versucht der Staat zu sichern, und da er selbst nicht backen kann, muß er backen lassen und die Spiele gestatten. Da-mit auch gebacken wird, nutzt er seine Regelungs-Kompetenz zur Umverteilung auf die Mühlen der Bäcker – und wenn alles gut geht, wird er dadurch zum Initiator sozial(staatlich)er Leistungen!
Der Staat sichert sich, indem er seiner Wirtschaft günstige Bedingungen verschafft; Marktwirtschaft funktioniert unter sozialstaatlichen Prämissen offensichtlich prächtig. Damit haben wir das Unverständnis des Sozialstaates aber noch nicht ganz auf den Punkt gebracht. Wenn an der Wirtschaft etwas sozial sein sollte, dann ist es die Arbeit, sind es die Arbeitsplätze, die sie schafft. Wenn die Wirtschaftslage gut ist, Profite also in reichem Maße fließen, und wenn die Wirtschaft vielleicht auch noch wächst, dann kann sie Arbeit, Arbeitsplätze vielleicht erhalten und vielleicht sogar noch zusätzliche schaffen, und dann ist sie vielleicht sozial – daher das Bemühen des Staates als Sozialstaat um die Wirtschaft.
Das ist der Punkt auf den es ankommt: soziale Sicherheit ist einen Arbeitsplatz — mehr oder minder sicher — zu haben und mit einem Lohneinkommen – mehr oder minder gut – über die Runden zu kommen; und über das, was darüber hinaus noch sein könnte, wollen wir zunächst schweigen.
Arbeit – unser täglich‘ Brot – das ist im Grunde der Sozialstaat. Wenn es viel Arbeit gibt, hat auch der Staat gute Einnahmen, die er aus sozialstaatlichen Motiven eher nicht benötigt. Wenn es wenig Arbeit gibt, hat auch der Staat weniger Einnahmen, die er aber gerade dann brauchen würde, um als Sozialstaat etwas umverteilen zu können. Angesichts dieser Fehlkonstruktion kann es mit dem Sozialstaat so weit nicht her sein, und es verwundert daher auch nicht, daß die angeblich so üppigen Sozialleistungen immer dann gekürzt werden (müssen), wenn sie besonders nötig wären.
Der Sozialstaat ist nicht, was zu sein er indiziert: der für soziale, und das ist (auch) materielle Gerechtigkeit sorgenden Staat. Soziale Sicherheit gibt nur Arbeit – diese Gerechtigkeit aber kann der liberale Rechtsstaat nicht gewähren. Wir sind daher auf die Gunst konjunktureller Lagen angewiesen, und wenn es ganz arg kommt, eben darauf, durch Sozialhilfe vor dem Verhungern mehr schlecht als (ge)recht bewahrt zu werden; und die Spiele bleiben den anderen vorbehalten.
Der Sozialstaat bemüht sich lediglich, Arbeit(splätze) zu fördern, damit wir in die Lage versetzt werden, uns unser täglich‘ Brot selbst erarbeiten zu können. Dies führt zu dem paradox anmutenden Ergebnis, daß nicht die Arbeit bzw. die Arbeiter, sondern die Wirtschaft durch den Sozialstaat geschützt wird. Dies ist die zweite Ebene des unverstandenen Sozialstaates.

III.
Um schließlich noch ein Mißverständnis vom Sozialstaat aus dem Weg zu räumen: Die Leistungen, die wir gewohnt sind als sozialstaatliche Gaben anzusehen, insbesondere also Arbeitslosengeld, Altersrenten und Leistungen im Krankheitsfalle, sind nicht Leistungen des Staates; sie beruhen auf Beitragsleistungen der Arbeitnehmer/-geber, die als wohlerworbene
Lohnbestandteile in der Form von Versicherungen zurückgelegt wurden. (Ob dieses System tragfähig bleiben wird, ist eine andere Frage; die Pflegeversicherung bildet jedenfalls den Einstieg in den Ausstieg, dessen Ende offensteht.) Sie sind Relikte des wirtschaftsliberalen Nachtwächterstaates und lassen sich nicht schon deshalb als sozialstaatliche Leistungen in Anspruch nehmen, weil sie auf gesetzlichen Grundlagen beruhen (die bekanntlich auf die konservative Nationalstaatspolitik Bismarcks zurückgehen).

IV.
Wir wissen nun also, daß nur Arbeit soziale Sicherheit zu geben vermag, und daß unsere Sicherheit die des Staates vor sozial motivierten Unruhen gewährleistet. Diese Konstellation begründet die Arbeitsgesellschaft. Der Arbeiter bietet seine Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt an und bezieht dafür Arbeitslohn. Nicht Arbeit, sondern Lohnarbeit ist also unser täglich‘ Brot! Und das macht gravierende Unterschiede.
Es zeigt sich nämlich, daß der Arbeitsgesellschaft die Arbeit, jedenfalls die Lohnarbeit ausgeht. Vier, sechs oder auch schon acht Millionen Menschen sind tagtäglich ohne Arbeit und Einkommen und folglich ohne Sicherheit. Massen- und Langzeit-, Dauer- und versteckte Arbeitslosigkeit trotz guten wirtschaftlichen Wachstums und noch besserer Erträge gehören inzwischen zum akzeptierten Selbstverständnis der industriellen Arbeitsgesellschaften.
Der Grund für dieses Phänomen liegt in der Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und Lohnarbeit, bei der menschliche Arbeit durch maschinelle Arbeit ersetzt wird. Diese Produktivitätssteigerung durch Rationalisierung wäre zu begrüßen, würden Menschen dadurch von unwürdiger Arbeit befreit. Werden sie aber nicht! Auf die Straße gesetzt werden die Arbeiter, die einer Maschine weichen müssen, die nach Möglichkeit automatisch funktioniert und rundum gehorcht — und die Drecksarbeit bleibt.
Wenn Lohnarbeit gleichbedeutend ist mit sozialer Sicherheit des einzelnen, dann ist Arbeitslosigkeit gleichbedeutend mit sozialer Unsicherheit, durch die zugleich das friedliche Zusammenleben der Gesellschaft und im Staat gefährdet wird.
Doch dies zeigt nur die eine Seite der Münze. Nicht minder gefährlich ist nämlich Vollbeschäftigung bei Lohnarbeit: Nun wird nicht mehr der soziale, nun wird der Friede mit der Natur gefährdet, denn Lohnarbeit führt ganz unabdingbar zur Störung und allmählichen Zerstörung der ökologischen Bedingungen der Natur. Dabei kommt es nicht darauf an, welches Bild von Natur unterlegt ist. Es kommt allein darauf an, daß Natur nicht mehr so „funktioniert”, wie der Mensch sie zum Leben braucht, und so „funktioniert” sie schon lange nicht mehr.
Natur kann auch nicht „funktionieren”, solange wirtschaftliches Wachstum Naturge- und verbrauch ist. Bei einem Wachstum von nur vier Prozent jährlich steigt das Sozialprodukt einer Volkswirtschaft in einem Menschenalter von siebzig Jahren um das 16fache. Legt man das Bruttosozialprodukt der (alten) Bundesrepublik mit 2,5 Billionen Mark zugrunde, so erreicht es aufgrund dieser Exponentialität im Jahr 2065 einen Wert von ganz grob 40 000 000 000 000 Mark – ungefähr so viel, wie gegenwärtig die gesamte Welt erwirtschaftet! Mit unwiderstehlicher Eindringlichkeit belegen diese Zahlen, daß Lohnarbeit Zerstörung – nicht nur – der Natur bedeutet.
Zusätzliche Erwerbsarbeit, zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit aus Gründen der sozialen Sicherung dringend geboten, muß folglich zu einer progressiven Verschlechterung der „Funktionen” der Natur führen. Dies gilt vor allem, wenn man bedenkt, daß zunehmender Arbeitseinsatz im Gleichklang mit technischen Innovationen verläuft, die Rationalisierung – und damit Rationierung – von Arbeit bedeuten. Vollbeschäftigung ist daher nur bei potenziertem Arbeitsertrag denkbar, der zu potenziertem Naturverbrauch führen muß und nicht nur in der Produktion entsteht, sondern sich im Handel und Transport, beim Konsum und Gebrauch fortsetzt und schließlich als unverdaulicher Müllhaufen endet.
Die Umweltzerstörung weitet sich dann durch den Export noch aus, zu dem die meisten Industriestaaten geradezu gezwungen sind. Exportüberschüsse in einem Land müssen zu Importüberschüssen in anderen Ländern, das heißt zu Verschuldung des Auslandes führen. In besonderer Weise betroffen davon sind die wenig entwickelten Staaten der sogenannten Dritten Welt, die sich nicht nur um eine imitierende Industrialisierung bemühen, sondern zum Abbau der vielfach katastrophalen Auslandsverschuldung auch ihre natürlichen Ressourcen plündern und zur Plünderung freigeben müssen. Aus diesen additiven Umweltnutzungen resultiert die zeitgenössische globale Umweltzerstörung.

V.
Die lohnarbeitszentrierte Gesellschaft steht damit vor der paradoxen Gefahr, daß sie entweder nicht ausreichend viele, angemessene Arbeitsplätze zur Verfügung stellen kann und dadurch die Stabilität des Systems der sozialen Sicherung, auf längere Sicht aber auch die Stabilität des politischen Gesamtsystems gefährdet. Kann die Wirtschaftsgesellschaft aber Lohnarbeit in ausreichendem Umfang anbieten, werden die ökologischen Lebensbedingungen destabilisiert, wodurch wiederum das politische Gesamtsystem, auf Dauer aber selbst die globale Zivilisation als gefährdet angesehen werden muß. Dieses Szenario liegt nicht erst in nebelhafter Ferne, weit voraus – die Apokalypse ist der ganz normale, alltägliche Wahnsinn! Ich bezeichne diese Konjunktion als „Arbeits-Paradoxon”, weil Sicherheit Sicherheit zerstört, und dieser Circulus vitiosus gilt natürlich weltweit. Die Natur erweist sich als limitierender Faktor allen Mühens.

Dies ist die dritte und vierte Ebene des unverstandenen Sozialstaates. Die fünfte und letzte Ebene, in der das Unverständnis des Sozialstaates kulminiert, die aber zugleich die Ansätze zum Umbau enthält, ist seine prinzipielle Labilität.
Der Sozialstaat kann — wenn überhaupt — immer nur ein sehr beschränktes Maß an – materiell definierter — Sicherheit bieten. Das System der sozialen Sicherung ist in all der Zeit in sich keineswegs stabiler geworden; es bleibt den konjunkturellen Krisen der globalen Risikogesellschaft beinahe schutzlos ausgeliefert. Unser Reichtum ist äußerlich und flüchtig, ohne Bestand, weil er sich in materiellen Dingen äußert, die rasch ihren Wert verlieren. Man sehe sich um, um festzustellen, was überdauert; da ist nicht viel. Von den Welt-wundern der Antike stehen noch die Pyramiden von Gizeh; Vergleichbares haben wir schon nicht mehr vorzuweisen, nur unsere atomaren Gifte werden einige Jahrzehntausende länger strahlen.
Wir investieren nur in Werkzeuge, die nach der Schumpeterschen Devise vom innovativen Unternehmer die „schöpferische Zerstörung” vorantreiben. Unter so immensen Kosten, daß nur wenig bleibt, werden die eben erdachten Werkzeuge zerstört, ohne Unterlaß; das macht unser Verständnis von Fortschritt aus. Da wir aber nicht Schöpfer, sondern nur Macher sind, bleibt auf Dauer als unser Bei-trag zu derartigem Fortschritt nur Zerstörung.
Marx hat, ähnlich wie auch Schumpeter, die Gefahren dieses Weges noch erkannt und gefordert, daß wir die Natur wie „boni patres familias” zukünftigen Generationen verbessert zu hinterlassen haben — den Epigonen des Fundamentalismus industriellen Fortschritts ist diese Restriktion jedoch entfallen.
Wir setzen ausschließlich auf die Werkzeuge, gerade im Unverständnis des Sozialstaates. So drängend notwendig sich der Sozialstaat noch immer und immer wieder von neuem erweist, obwohl er als Produkt historischer Not längst obsolet sein könnte, weil überall Wohlstands-Notstand herrscht, als so falsch hat sich der eingeschlagene Weg nun endgültig erwiesen.

VI.  
Was aber bleibt als Weg, wenn der wie ein Werkzeug zur Reparatur der sozialen Unsicherheiten des liberalen Rechtsstaates instrumentalisierte Sozialstaat, der von der Fortschritts-Ideologie der schöpferischen Zerstörung lebt, letztlich die Schöpfung zerstört?
Im Grunde ist die Lösung einfach; sie kann nur lauten: jeder nimmt und bekommt, was er benötigt, so wie die Natur es uns vormacht. Dazu ist genügend vorhanden, wie John Locke uns schon belehrt hat, als er das Recht auf Eigentum begründete. Unter den konkreten Bedingungen des zivilisatorischen Status quo ist dies allerdings leichter gesagt als getan. Die einfache Lösung bedarf daher der Modifikation ohne dadurch ihren Charakter der Eröffnung sozialorganisatorischer Optionen zu verlieren.
Die Idee wird schon seit geraumer Zeit diskutiert, unter verschiedenen Namen, aber mit der gleichen Zielsetzung: ökosoziale Befriedigung, Befriedung und Befreiung nämlich zu erlangen. „Ökologie des Sozialstaates” oder „Soziale Ökologie” nenne ich diesen Lebensmodus, der nicht nur das Überleben sichern, sondern die Bedingungen eines kontemplativen Lebens eröffnen soll. Grundbedingung dieses Modells ist die Gewährleistung eines Mindestmaßes an sozialer Sicherheit durch ein staatlich verbürgtes Garantieeinkommen. Dieses Einkommen erhalten Alle regelmäßig überwiesen, gewissermaßen als Gratifikation für das kollektive Zustandekommen des gesellschaftlichen Reichtums, der sozialer Produktion entstammt, denn, wie Goethe sagt, „was wir sind, das sind wir anderen schuldig”. Diese Grundsicherung soll aber nicht nur als materielle Gabe verstanden werden, sondern zugleich strukturelle Veränderungen der sozialen Rahmenbedingungen ermöglichen. Nur wenn es gelingt, die sozialstaatlichen Strukturen grundlegend neu zu gestalten, wird der mögliche Einwand entkräftet, auch im Garantieeinkommen bleibe das alte instrumentelle Unverständnis des Sozialstaates wirksam.
Dieses Vorhaben scheint sich der Quadratur des Kreises zu nähern, denn bekanntlich hat der Staat nichts, was zu verteilen wäre.
Um diesem Dilemma zu begegnen, ist ein — zunächst — gedanklicher Umbau nötig: der Entwurf der Tätigkeitsgesellschaft. Sie ist dadurch gekennzeichnet, daß nur noch ein (geringerwerdender) Teil des individuellen Zeitbudgets auf erwerbswirtschaftliche Lohnarbeit ver(sch)wendet wird, während das (wachsende) restliche Kontingent durch nicht-kommerzielle, selbst durch nicht-ökonomische Tätigkeiten sozial sinnvoll ausgefüllt wird: durch Eigenarbeit, Familien-, Nachbarschafts-, Kinder-, Kranken- und Altenhilfe, soziale Dienste, durch Kommunikation, Aus- und Weiterbildung sowie Kunst und Kultur — hier sind fortschrittliche Innovationen erlaubt, dies bildet Raum und Rahmen der nützlichen wie der schönen Tugenden.
Die Einnahmen dieser Tätigkeitsgesellschaft entspringen verschiedenen Quellen, die zueinander auf funktionale und strukturbildende Weise in Wechselwirkung stehen und unterschiedlichen Bestimmungen dienen. Grundlage ist das Garantieeinkommen, das durch marktbewertete Lohnarbeit ergänzt werden kann. Dazu kommen Einnahmen bzw. Ausgabenminderungen aus den skizzierten Tätigkeiten sowie — als negative Einkommensquelle — Konsumverzichte, die mir ganz unabdingbar erscheinen. Diese Einnahmen müssen insgesamt zu einer sozio -kulturell angemessenen Lebensführung befähigen, die individuell ganz unterschiedlich ausfallen wird.
Natürlich kostet dies viel Geld und natürlich besteht die Gefahr, daß die Arbeitslust bei guter Dotierung des Garantieeinkommens so sehr abnimmt, daß das erwirtschaftete Volkseinkommen zu dessen Deckung nicht ausreicht. Diese Gefahr erscheint angesichts der sprichwörtlichen Arbeitswut, vor allem aber angesichts der kaufkräftigen Vorteile gering, aber sie bleibt zu bedenken. Der Bemessung des Transfer-Einkommens fällt daher auch die Aufgabe zu, das volkswirtschaftlich notwendige und ökologisch vertretbare Angebot an Erwerbsarbeit auszutarieren.
Der Vorteil einer sozialen Grundsicherung ist also darin zu erkennen, daß materielle Sicherheit nicht mehr (unabdingbar) an Erwerbsarbeit gebunden ist, daß „Essen” von „Arbeit” entkoppelt wird. Dieser Grundsatz gilt — als Ausfluß der Menschenwürde, wie das Bundesverwaltungsgericht urteilte — übrigens schon im Sozialhilferecht, das sozusagen nur noch weitergedacht zu werden braucht.
Damit sind jedoch erst die Grundlagen der Idee skizziert, die nicht nur darauf zielt, die sozialen und die ökologischen Bedingungen     (v)erträglich(er) zu gestalten, sondern darüber hinaus eine Gemeinschaft erstrebt, in der der Mensch das ganze Spektrum seiner Fähigkeiten entfalten kann, weil er sich aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit des instrumentalisierten Sozialstaates überkommener Prägung zu emanzipieren vermag.
Durch die Tätigkeitsgesellschaft wird die Dominanz des ökonomischen Rationalitäts-Theorems wenigstens als Prinzip gebrochen. Das „Gesetz der Ökonomie”, an dem wir unser Handeln orientieren und messen, erweist sich als historisch limitierter Ausschnitt von Rationalität, die als Instrument einer geschichtlichen Epoche des Übergangs ihre Aufgabe er-füllt hat und nun allmählich Rationalitätsformen weichen muß, die nicht mehr — aus-schließlich — ökonomisch definiert sind. Der Bruch mit der ökonomischen Rationalität ist angesichts der elementaren Rationalität der Natur ohnehin unabwendbar. Die ökologische Bewahrung der Welt ist nun einmal conditio sine qua non, der sich nur noch mit einer „Heuristik der Furcht” (Jonas) begegnen läßt.

Die Wirtschaft wird dann wieder die Rolle ausfüllen können, die ihr zukommt: Mittel zum Zweck der Bedürfnisbefriedigung zu sein.
Die marktvermittelte Lohnarbeit wird durch die angestrebte Tendenzwende keineswegs überflüssig. Sie bleibt die finanzielle Grundlage, wird aber in ihrer gesellschaftlichen Wertigkeit spürbar relativiert. Neben das „Recht auf Arbeit”, oder wohl richtiger: den Zwang zur Arbeit, tritt — als sozial und ökologisch sinnvolle Option — ein „Recht auf Faulheit”, das Paul Lafargue, Marxens ungeliebter Schwiegersohn, schon vor mehr als hundert Jahren gepredigt hat. Jedenfalls wird Lohnarbeit als Regel- bzw. als Zwangsverhältnis überwunden. Erst dann können die Bedingungen der individuellen Reproduktion über den Umfang der Arbeit und die Formen ihrer Organisation entscheiden, erst dann bestimmt nicht mehr Arbeit über den Rhythmus des Lebens.
Als Folge dieser Entwicklung sind die Industrieländer dann auch in der Lage, ihre strukturell bedingte globale ökonomische Vorherrschaft abzubauen, und vielleicht könnten sie sogar zum — späten — Vorbild einer sinnvollen Entwicklung werden. Auf jeden Fall aber würde der tendenzielle Rückzug der Industriestaaten der „Armen Welt” die Chancen einer autochthonen Entwicklung eröffnen, die ihnen bisher versagt bleiben mußte, was als wichtige Ursache der kontemporären Umweltzerstörungen auszumachen ist.
Die Umrisse einer kontemplativen Zielen zugewendeten Gemeinschaft werden daran erkennbar, daß gesellschaftliche Anerkennung nicht mehr durch die Anhäufung materieller Status-Symbole erworben wird. Die kontemplative Gesellschaft orientiert sich statt dessen am Wert der sozial verantworteten Selbstbestimmung, die des marktvermittelten Sozialprestiges nicht nur nicht bedarf, sondern als unsozial und unökologisch geradezu verachten kann. Dies erst wäre der post-materialistische Wertewandel, von dem so viel die Rede ist.
Die sich immer deutlicher manifestierende Zwei -Drittel-GeseIlschaft wird durch das garantierte Mindesteinkommen nicht gebannt; sie wird sich eher noch deutlicher konturieren. Das „untere Drittel” wird dann aber nicht mehr stigmatisiert sein; es kann vielmehr zum Vorbild avancieren, das mutig und kreativ genug ist, auf jenem Weg voranzugehen, den eine beständig wachsende Zahl von Menschen schon heute als den „eigentlich” richtigen Weg ausgemacht hat — und manchmal auch schon beschreitet.

VII.
Sicherheit ist keine objektive, materiell quantifizierbare Größe, sondern eine Wahrnehmungsvariable, die sich aus qualitativen Perzeptionen zusammensetzt. Dazu gehört unabdingbar ein Maß materieller Existenzsicherheit, das sich relativ zur Sicherheit der anderen bemisst, also gemeinschaftsbezogen ist. Dazu gehört aber auch ein Maß an Souveränität, die es erlaubt, Vorstellungen zu entwerfen, die über den Menschen hinausweisen, der sich (nur) als Arbeiter definieren (lassen) muß. Dazu zählt nicht zuletzt die Zulassung von Emotionen, im zwischenmenschlichen Umgang und als soziales und ökologisches Erkenntnismittel. Gerade die Reduktion der Emotionalität durch den „Prozeß der Zivilisation” (Elias) dürfte uns so anfällig gemacht haben für das lineare Konzept der eindimensionalen Werkzeuge.
Das Garantieeinkommen bleibt zunächst zwar ein Instrument, doch es befreit von der Dominanz ökonomischer Eigengesetzlichkeit und fördert Strukturen, die der materiellen Befriedigung, der sozialen Befriedung und der emotionalen Befreiung in einer kontemplativen Humanität dienen; daraus kann die Gemeinschaft des genuinen Sozialstaates erwachsen.
Damit ist keineswegs ökologische Sicherheit gewährleistet, die es in der Endlichkeit des Planeten nicht gibt; aber es besteht die Hoffnung, daß wir uns in dieser Endlichkeit einzurichten vermögen. Und die Arbeit, die zu tun bleibt, könnte die Arbeit des Homo ludens sein — so wie die Natur mit verschwenderischer Vielfalt zu allen Zeiten spielend arbeitet. Welches bessere Vorbild einer „nachhaltigen Entwicklung” aber könnten wir uns nehmen?

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