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Erzwungene Arbeits­e­insätze im Sozial­hilfe- und Arbeits­lo­sen­recht

Harald Rein, Christa Sonnenfeld

Grundrechte-Report 1998, S. 148-152

Erzwungene Arbeitseinsätze sind staatlich organisierte Zwangsmaßnahmen zur Niedriglohnarbeit bzw. zu Arbeiten mit Mehraufwandsentschädigung gegenüber denjenigen, die von Sozial- und Arbeitsamt abhängig sind. Diese Begriffsbestimmung ist notwendig, um vom Arbeitsdienst bzw. der Zwangsarbeit während der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus abzugrenzen. Auffällig ist die breite Akzeptanz in der Öffentlichkeit: Der Zwang gegenüber diesem Personenkreis wird gesellschaftsfähig. Wirtschaftsverbände, Politik und Medien haben ein öffentliches Bewußtsein erzeugt, wonach der Angriff auf den Art. 12 GG als Druck auf „Faulenzer“ und „Drückeberger“ nachgerade vernünftig erscheint.

Bei dem Phänomen des gegenwärtigen Arbeitszwangs geht es vor allem um dreierlei:

Der Berufsschutz ist für eine bestimmte Bevölkerungsgruppe aufgehoben.

Billig-Jobs werden durch staatliche Initiativen durchgesetzt und Unternehmen durch Zuschüsse und Förderungen weitestgehend entlastet oder reguläre Arbeitsplätze eliminiert.

Der Zwang besteht darin, daß bei Verweigerung die materielle Existenzgrundlage befristet oder vollständig entzogen wird.

„Gemeinnützige Tätigkeiten“

Nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) ist es möglich, im Rahmen von „Hilfen zur Arbeit“ Sozialhilfebezieher und -bezieherinnen zu gemeinnützigen Tätigkeiten zu verpflichten ( § 19 Abs. 2: Alt. 2 BSHG). Damit sind diejenigen „Hilfen“ gemeint, die unter den Begriffen Arbeit mit Mehraufwandsentschädigung, Prämienarbeit oder Pflichtarbeit bekannt geworden sind. Es werden keine Sozialversicherungsbeiträge bezahlt; statt eines Arbeitsverhältnisses im Sinne des Arbeitsrechts bzw. eines Beschäftigungsverhältnisses im Sinne der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung besteht nur ein öffentlich-rechtliches Beschäftigungsverhältnis, in dem die allgemeinen Regelungen des Arbeitsschutzes Anwendung finden. Die Hilfebezieher und -bezieherinnen bleiben im Sozialhilfebezug und erhalten zusätzlich 1-3 Mark Mehraufwandsentschädigung pro Arbeitsstunde. Hat das Sozialamt Zweifel an der Arbeitsbereitschaft dieses Personenkreises, kann zwecks „Gewöhnung an Arbeit“ oder „Überprüfung der Arbeitsbereitschaft“ die Pflichtarbeit ebenfalls verordnet werden ( § 20 BSHG).

Seit Juli 1996 verpflichtet der Gesetzgeber das Sozialamt, bei Ablehnung der „gemeinn@¼tzigen Arbeit“ durch den Sozialhilfebezieher dessen Sozialhilfe um 25 Prozent zu kürzen. Bei weiterer Weigerung ist eine gänzliche Streichung möglich. Mußten Anfang der achtziger Jahre zuerst Asylbewerber und -bewerberinnen für 1 Mark pro Stunde Schnee schippen, so wurde dieses Instrumentarium rasch auch auf andere im Sozialhilfebezug stehende Menschen ausgeweitet.

Auf Sportanlagen, in Schwimmbädern, bei der Stadtreinigung oder in anderen öffentlichen Einrichtungen wird die Arbeitsbereitschaft eines Teils der Sozialhilfebezieher und -bezieherinnen überprüft. In den Jahren 1996 und 1997 „beschäftigte“ etwa in Frankfurt am Main das Sozialamt nach eigenen Angaben rund 200 Personen im Monat. Da es an einer bundesrepublikanisch einheitlichen Statistik über den Umfang von „gemeinnütziger Arbeit“ fehlt, gibt es wenig aktuelle Zahlen. Nach Angaben des Deutschen Städtetages wurden 1996 bundesweit ca. 94000 Menschen zu solcherart „Hilfen zur Arbeit“ gezwungen. Für die Jahre 1980 bis 1984 konnte in Frankfurt/Main ein Stellenabbau in denjenigen städtischen Betrieben nachgewiesen werden, in denen „gemeinnützige Arbeit“ abgeleistet werden mußte, so zum Beispiel bei der Abfallsammlung, im Straßenreinigungs- und Friedhofswesen. Erzwungene Arbeitseinsätze haben keinerlei beschäftigungswirksame Effekte, der Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt bleibt den meisten Pflichtarbeitern und -arbeiterinnen verschlossen.

Dennoch bezeichnen Kommunen und Städte die Maßnahmen als erfolgreich, da ihr vorrangiges Interesse die Einsparung von Sozialhilfegeldern ist. Bereits 1982 konnte der Sozialsenator von Berlin durch „konsequente“ Anwendung der „Hilfe zur Arbeit“-Paragraphen Einsparung von jährlich 4,5 Millionen Mark verbuchen. Ähnliche Ergebnisse erzielten Frankfurt (9 Mio.) und Lübeck (11 Mio.).

Die oft willkürliche, wenngleich systematisch betriebene Verpflichtung von Sozialhilfebeziehern und -bezieherinnen hat zum Ziel, einen Teil der Betroffenen aus dem Leistungsbezug zu drängen und bei einem weiteren Teil die Nichtinanspruchnahme rechtlich zustehender Sozialleistungen zu fördern.

„Arbeitnehmerhilfe“

Zum 1. Juli 1996 trat das Gesetz zur „Arbeitnehmerhilfe“ in Kraft, das unter anderem die Saisonarbeit und vor allem den Ernteeinsatz enthält. Es gilt grundsätzlich für Bezieher und Bezieherinnen von Arbeitslosenhilfe. Für 1998 wurde allerdings eine Sonderregelung beschlossen, die den Kreis der Adressaten ausweitet: Danach können auch Arbeitslose, die Arbeitslosengeld erhalten, bereits sechs Monate nach Beginn der Erwerbslosigkeit eingesetzt werden.

Die „Arbeitnehmerhilfe“ wird für bis zu drei Monaten für Tätigkeiten in der Landwirtschaft, im Hotel- und Gaststättenbereich, in der Wald- und Forstwirtschaft, bei Messen usw. angeordnet. Wer die Arbeit verweigert, erhält für drei Monate keine Leistungen mehr; bei erneuter Verweigerung wird die Leistung ganz eingestellt.

Die betreffenden Personen erhalten den jeweils unterschiedlichen Lohn in der Landwirtschaft plus „Arbeitnehmerhilfe“ von 25 Mark für jeden Tag, an dem mindestens sechs Stunden gearbeitet wurde, wobei eine wöchentliche Arbeitszeit von mindestens 30 Stunden zugrunde gelegt wird. Dieser Betrag ist eine „Aufwandsentschädigung“ und wird vom Arbeitsamt am Ende der Beschäftigung ausgezahlt. Dies bedeutet, daß bei Unfall, Urlaub oder Krankheit dieses Tagegeld entfällt. Die Arbeitslosenunterstützung wird während dieser drei Monate nicht weiter gezahlt; die betreffenden Personen werden aus der Statistik gestrichen und gelten danach als Neuzugang. Es ist von einem vom Arbeitgeber zu zahlenden Stundenlohn zwischen 5,85 und 10 Mark brutto auszugehen; kontrolliert wird dies nicht, ebensowenig wie Sozialabgaben, Arbeitsbedingungen oder Arbeitsschutz. Für die Bundesanstalt für Arbeit sind diese Modalitäten nicht von Interesse, da es sich formal nicht mehr um Erwerbslose handelt.

Der Einsatz wird in der Regel so organisiert, daß zum Beispiel ein Bauer beim zuständigen Arbeitsamt eine bestimmte Anzahl von Saisonarbeitern ordert; danach werden, nach Auswahl der Behörde, Personen aufgefordert, sich vorzustellen. Der Bauer meldet dann dem Amt die Namen derer, die er tatsächlich beschäftigt.

Von September 1996 bis Juli 1997 wurden die Einsätze bei 4597 Personen angeordnet und tatsächlich bei 2188 Personen durchgeführt. Es ging dabei um Saisonarbeiten beim Erdbeerpflücken, Spargelstechen, bei der Hopfenernte und im Weinbau. Daß es nicht mehr Personen waren, die tatsächlich eingesetzt wurden, hat mehrere Gründe: Zum einen darf der Lohn zusammen mit der Arbeitnehmerhilfe nicht niedriger sein als die jeweilige Arbeitslosenhilfe. Dieses Limit wurde durch die Niedriglöhne in der Landwirtschaft häufig unterschritten, und die Arbeit konnte deshalb verweigert werden. Zum weiteren sperrt sich der Bauernverband noch, weil die Hilfskräfte aus Osteuropa schon lange eingearbeitet seien. Ein weiterer Grund wird in den häufig vorgelegten Krankmeldungen gesehen. Es ist zu befürchten, daß das Bundesministerium für Arbeit die Krankmeldungen mit Hilfe der Kassenärztlichen Vereinigungen überprüfen will – das öffentliche Nachdenken über eine Aufhebung des Arztgeheimnisses für Leistungsbezieherinnen und -bezieher ist bereits im Gange.

Die Besonderheiten dieser Maßnahme sind demnach: Es besteht keinerlei Berufs- und Statusschutz mehr; es werden private Unternehmen beliefert; inwieweit Arbeitsrecht und Arbeitsschutz ihre Geltung finden, wird nicht kontrolliert; und vor allem: Die Arbeiten werden mit Zwang durchgesetzt.

Für die „Arbeitnehmerhilfe“ wurden 1997 bis Anfang Oktober knapp 1,9 Millionen Mark ausgegeben. Im Bundeshaushalt 1998 sind dafür 50 Millionen Mark vorgesehen. Seit 1. Januar 1998 ist die „Arbeitnehmerhilfe“ Teil des neugeschaffenen Sozialgesetzbuches III. Hier verweist der Gesetzgeber ausdrücklich darauf, daß diese Maßnahme direkt durch die Bundesregierung angeordnet werden kann.

Die Grundrechte des Grundgesetz-Artikels 12 verlieren für bestimmte Bevölkerungsgruppen ihre Gültigkeit. Soziale Leistungen müssen mit dem Zwang zur Arbeit „erkauft“ werden. Die Arbeitspflicht erhält Vorrang vor der grundgesetzlichen Bindung des Staates und seiner Institutionen. Die sozialstaatliche Demokratie wird dem Primat des autoritären Rechtsstaats unterworfen: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.

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