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Soziale "Säuberung" per Platz­ver­weis

Rolf Gössner

Grundrechte-Report 1997, S. 120-124

„Chaostage“ 1995 in Hannover: Knapp 3000 Polizei- und Bundesgrenzschutzbeamte sind eingesetzt. Die Polizeiführung setzt auf ein niedrigschwelliges Offensivkonzept – selbst kleine Ordnungsverstöße der angereisten Punks werden geahndet. Die Situation eskaliert. Es kommt zu zahlreichen Gewalttaten. Die Polizei verhängt etwa 2000 Platzverweise bzw. Aufenthaltsverbote. Von den über 2000 Chaos-tage-Besuchern werden etwa 1200 in polizeilichen Gewahrsam genommen. Dabei verstößt die Polizei in Hunderten von Fällen gegen Verfassung und Polizeigesetz, weil sie es unterläßt, unverzüglich die richterliche Entscheidung über die Fortdauer des sogenannten Unterbindungsgewahrsams herbeizuführen.

Die Polizei agierte 1995 mit ihren zahlreichen Aufenthaltsverboten ohne spezielle rechtliche Grundlage praktisch im rechtsfreien Raum – lediglich gestützt auf die Generalklausel im niedersächsischen Gefahrenabwehrgesetz (NGefAG). Auch in anderen Städten und Bundesländern werden seit geraumer Zeit zwangsbewehrte Aufenthaltsverbote gegen bestimmte Personen(gruppen) – etwa gegen Drogen(klein)dealer (nach dem „Dortmunder Modell“) – verhängt, ebenfalls im rechtsfreien Raum, lediglich gestützt auf die polizeirechtliche Generalklausel, was bei einem derart gravierenden Eingriff und angesichts der routinemäßigen Anwendung nicht zu rechtfertigen ist.

1996 hat das SPD-regierte Niedersachsen einen neuen Weg der präventiven Intoleranz beschritten: Erstmalig wurde in einem deutschen Polizeigesetz das sogenannte Aufenthaltsverbot legalisiert.

„Rechtfertigen Tatsachen die Annahme, daß eine Person in einem bestimmten örtlichen Bereich eine Straftat begehen wird, so kann ihr für eine bestimmte Zeit verboten werden, diesen Bereich zu betreten oder sich dort aufzuhalten, es sei denn, sie hat dort ihre Wohnung. Örtlicher Bereich … ist ein Ort oder ein Gebiet innerhalb einer Gemeinde oder auch ein gesamtes Gemeindegebiet …“ ( § 17 Abs. 2 NGefAG).

Diese Regelung ergänzt die bislang schon in ganz Deutschland legalisierte (kurzfristig und kleinräumig angelegte) polizeiliche Platzverweisung. Das Aufenthaltsverbot muß zwar, so sieht es das neue Gesetz vor, „zeitlich und örtlich auf den zur Verhütung von Straftaten erforderlichen Umfang“ beschränkt werden, doch dürfte dies im Präventivbereich äußerst interpretierfähig sein – zumal niemand weiß, welche Straftaten denn von wem wann wo begangen werden. Und welche „Tatsachen“ – Kleidung, Aussehen, Verhalten, Hautfarbe, soziale oder ethnische Zugehörigkeit – könnten die „Annahme rechtfertigen“, eine Person werde möglicherweise Straftaten begehen? Hier ist ein Einfallstor für alltagstheoretische Verdachtsraster der Polizeibeamten geschaffen worden, die diese Befugnisse anzuwenden haben.

Mit dieser vagen Regelung kann die Polizei ohne gerichtliche Anordnung ganze (Groß-)Städte, Stadt- und Gebietsteile gegen unliebsame Individuen und Bevölkerungsgruppen abschotten – nicht nur gegen Punks, die Randale machen könnten, sondern auch gegen Drogenabhängige, denn die könnten auch dealen, gegen Sinti und Roma, denn die könnten klauen, gegen Kurden, denn die könnten gegen das PKK-Verbot verstoßen, überhaupt gegen Ausländer, denn die könnten gegen Strafbestimmungen des Ausländerrechts verstoßen, aber auch gegen Bettler, Obdachlose und Nichtseßhafte, denn die könnten auf Baustellen oder in Hausfluren nächtigen (Hausfriedensbruch) – um nur einige Beispiele zu nennen.

Diese Ermächtigung beschränkt die grundgesetzlich garantierte Freizügigkeit (Art. 11 GG) sowie die Handlungs- und Bewegungsfreiheit (Art. 2 GG). Besonders gravierend ist dieser Eingriff, wenn er sich per Dominoeffekt vervielfältigt: Ein Aufenthaltsverbot in der einen Stadt kann das nächste in einer anderen Stadt oder einem anderen Bundesland nach sich ziehen, denn die Verhängung dieser Maßnahmen wird regelmäßig den Polizeidienststellen anderer Gemeinden per Datenübermittlung mitgeteilt. Auf diese Weise kann es zu Aufenthaltsverboten in mehreren Großstädten kommen, die sich – etwa für Angehörige der Drogenszene – nach und nach zu einem flächendeckenden Aufenthaltsverbot für weite Bereiche eines Landes auswachsen können. Und im Zusammenhang mit der gesetzlichen Möglichkeit, Platzverweise oder Aufenthaltsverbote mit Hilfe von Ingewahrsamnahmen durchzusetzen, kann es passieren, daß Betroffene insgesamt monatelang inhaftiert werden – eine Tatsache, die von der Neuen Richtervereinigung in Baden-Württemberg scharf kritisiert wird. Die Richter weisen auch darauf hin, daß Platzverweise und Aufenthaltsverbote gerade im Drogenbereich die Arbeit von Sozialarbeitern und Drogenhilfsorganisationen stark erschweren. Darüber hinaus können Aufenthaltsverbote auch zu einer Beeinträchtigung der Versammlungs- bzw. Demonstrationsfreiheit führen, können diese im Extremfall sogar aushebeln – besonders im Falle von aktionsorientierten demonstrativen Ereignissen wie Sitzblockaden oder Besetzungen.

Die Chaostage 1996 wurden – wohl aus rechtstaktischen Gründen – erstmals als Versammlung eingestuft, sodann per Allgemeinverfügung großflächig verboten und damit letztlich verhindert. Die „Sicherheit und Ordnung“ in Hannover wurde mit diesem Verbot, mit einem Großaufgebot von über 6000 Polizisten – doppelt so viele wie 1995 – und mit über 2000 Platzverweisen und Aufenthaltsverboten teuer „erkauft“. Dabei hat die Polizei systematisch gegen den Verfassungsgrundsatz verstoßen, daß niemand allein etwa wegen seiner Frisur, Haarfarbe oder Kleidung benachteiligt werden darf:

„Punkertypisches Aussehen“, „Punkerähnliches Aussehen“, „der Punk-Szene zuzuordnen“, „Dem äußeren Anschein dem linken Spektrum zuzuordnen“, „Erscheinungsbild nach ‚Punkerszene‘

(verbessert in ‚rechte Szene‘)“, „hielt sich an einem Ort … auf, welcher von Punkern aufgesucht wird“ …

– so oder ähnlich lauteten die „individuellen Begründungen“ für die Verhängung von Platzverweisen. Das Polizeigesetz wurde hier in eklatant diskriminierender Weise angewandt. Die Platzverweise nach § 17 Abs. 1 NGefAG wurden im Zusammenhang mit dem Versammlungsverbot oft tagelang für sogenannte Verbotszonen – das waren drei Stadtteile – verhängt, obwohl Platzverweise – im Gegensatz zu Aufenthaltsverboten (Abs. 2) – ursprünglich lediglich als kurzfristige, örtlich eng umgrenzte Maßnahmen gesetzlich verankert worden sind („vorübergehend von einem Ort verweisen“). In den vergangenen Jahren wurden Platzverweise jedoch immer mehr zu fungiblen, örtlich und zeitlich ausdehnbaren Instrumenten entwickelt.

Platzverweise, Aufenthaltsverbote und Unterbindungsgewahrsam entpuppen sich nicht nur während sogenannter Chaostage als Instrumente der „Szene(n)bekämpfung“. Es handelt sich hier, wie auch im Drogen- und Obdachlosenbereich sowie bei An- und Versammlungen, letztlich um Instrumente der sozialen und politischen „Säuberung“ von Innenstädten, Konsummeilen, bestimmten Stadtteilen, Wohngegenden und Landstrichen: „Punkerfrei“, „Junkiefrei“, „Pennerfrei“, „Bettlerfrei“ – aber auch: „Kurdenfrei“, wie etwa in Frankfurt am Main. Hier wurde 1995 anläßlich einer Demonstration von Kurden und Anhängern der PKK praktisch eine ganze Großstadt von der Polizei mit einem Netz von Straßensperren und Verkehrskontrollen abgeschottet, um ein erlassenes Demonstrationsverbot durchzusetzen. Oder in Hannover im März 1996, als eine Newrozdemonstration verboten und mit Kontrollstellen auf Zufahrtsstraßen unterbunden wurde. Herausgefiltert und kontrolliert wurden dabei vor allem schwarzhaarige, dunkelhäutige oder südländisch aussehende Menschen.

Es handelt sich bei diesen Maßnahmen um die polizeiliche Bekämpfung von kommunalen Ordnungsstörungen auf dem Wege der Ausgrenzung und Vertreibung von marginalisierten Bevölkerungsgruppen und deren unliebsamen Mitgliedern, die als „Kollektivstörer“ die „Sicherheit und Ordnung“ stören (könnten). Obwohl das Grundrecht auf Freizügigkeit für allgemein präventivpolizeiliche Zwecke nicht eingeschränkt werden darf, hat jede Stadtverwaltung mit Aufenthaltsverboten und Platzverweisen praktisch die Möglichkeit, zwischen „sauberen“ Stadtteilen und solchen zu differenzieren, in die kriminalitätsgefährdete Personen – etwa Drogenabhängige und damit auch das Drogenproblem – abgedrängt werden sollen. Folge dieser „Säuberung“ ist also die Verdrängung in andere Stadtteile oder Städte (wie bei den Chaostagen 1996 von Hannover nach Bremen – vgl. den Beitrag von M. Stucke), jedenfalls nicht der Ansatz einer „Lösung“ der zugrundeliegenden Probleme, sondern letztlich deren Verschärfung und Eskalation. Es handelt sich um eine Strategie der gesellschaftlichen Spaltung in schützenswerte, anständige Konsumbürger auf der einen und störende Bürger minderen Rechts auf der anderen Seite. Es ist der (vergebliche) und mit einer weiteren Aushöhlung der Bürgerrechte verbundene Versuch, die „häßlichen“ Auswirkungen der Zweidrittelgesellschaft, einer verfehlten Sozial- und Jugendpolitik, von rigorosem Sozialstaatsabbau und sozialer Desintegration auf unterster kommunaler Ebene mit polizeistaatlichen Mitteln zu „bewältigen“ – zu verdrängen.

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