Themen / Sozialpolitik

»Und bist du nicht willig, dann brauch ich Gewalt«

24. Februar 1985

Pädagogische Maßnahmen für arbeitslose Jugendliche

aus vorgänge Nr. 73 (Heft 1/1985), S. 51-55

Anders als »normale« Arbeitslose sind Jugendliche einer enormen Pädagogisierung ihrer Lebenslage ausgesetzt. Sie sind nicht einfach ohne Arbeit, ohne Lehrstelle, ohne Geld und lediglich mit dem Arbeitsamt oder einer Umschulungsmaßnahme konfrontiert. Jugendarbeitslosigkeit wird verwaltet und verdeckt durch eine Vielzahl pädagogischer Projekte und staatlicher Maßnahmen. Die Meldung beim Arbeitsamt führt nur bei wenigen Jugendlichen zum Bezug von Arbeitslosenunterstützung, aber bei vielen in die Mühle der »Arbeitslosenmaßnahmen«. Es gibt Motivationskurse, Projekte zum Nachholen des Hauptschulabschlusses, außerbetriebliche Ausbildungs- und Arbeitsmaßnahmen, die Kombination von Arbeit und Hauptschulabschluß und noch vieles andere.
Alle diese Projekte zeichnen sich dadurch aus, pädagogisch betreut und begleitet zu  sein. Während das Ziel von Umschulungsmaßnahmen für Erwachsene in der Qualifikation ihrer Arbeitskraft liegt, werden die Ziele von Maßnahmen für Jugendliche hauptsächlich pädagogisch und psychologisch definiert. So muß den Jugendlichen ihre Situation als Ergebnis von Verhaltens- und Motivationsdefiziten (Pünktlichkeit, Sauberkeit, Konfliktfähigkeit, Höflichkeit…) erscheinen. Damit verlängert Jugendarbeitslosigkeit nicht nur die Unselbständigkeit und Infantilität, sondern unterwirft die Jugendlichen einer zusätzlichen, pädagogischen Definitionsgewalt, die — gekoppelt an staatliche Unterhaltszahlungen — in der Gestalt von Projekten und Maßnahmen unmittelbaren Einfluß auf ihre Lebenslage nimmt. Der gemeinsame Nenner all dieser Projekte: die Jugendlichen sind perspektivlos, weil sie keine Arbeit haben, deswegen ist es besser sie machen »irgendetwas«, als zu Hause oder auf der Straße rumzuhängen.

Im Folgenden beschreibe ich eine Maßnahme, die zur Zeit in einer Stadt des Ruhrgebietes stattfindet.

An der Maßnahme nehmen ca. 170 Jugendliche teil. Ein Teil von ihnen soll den Hauptschulabschluß nachholen. Etwa ein Jahr lang müssen sie täglich 6 Stunden Unterricht in den üblichen Schulfächern über sich ergehen lassen. Unter der ständig formulierten Drohung des Rausschmisses wegen zu hoher Fehlzeiten, können die Schüler monatlich eine Ausbildungsbeihilfe von 250,— DM nach Hause tragen. Mit Wohngeld und ergänzender Sozialhilfe — was eine Fülle von Behördenkontakten und -gängen zur Voraussetzung hat — können sie es maximal zu einem Einkommen bringen, das dem Sozialhilfesatz entspricht. Die Schüler kommen zu 80% von Sonderschulen, haben abgebrochene Lehren, ein Jobberleben oder die pure Arbeitslosigkeit hinter sich. Sie sind zwischen 17 und 23 Jahren alt. Vor dem Beginn des Kurses müssen sie 3 Monate beim Arbeitsamt gemeldet sein. In der Regel waren sie allerdings 1/2  bis 1 1/2 Jahre arbeitslos. Die Vermittlung in die Kurse war teilweise freiwillig, teilweise geschah sie unter der Drohung von Sperrfristen oder dem »Versprechen« einer völligen Untätigkeit des Arbeitsamtes. Die Klassen werden somit aus dem Karteikasten des Arbeitsamtes zusammengestellt.

Der andere Teil ist in einem Programm »Arbeit und Lernen« zusammengefaßt. Vormittags arbeiten die jungen Leute vier Stunden lang als ABM-Kräfte (befristet auf 18 Monate) in verschiedenen städtischen Einrichtungen. Nachmittags wird mit vier Stun den Unterricht der Hauptschulabschluß der 9. Klasse angestrebt. Auch bei ihnen ist der Sozialhilfesatz die Einkommenshöchstgrenze. Für ihre Arbeit erhalten die Jugendlichen 650,— DM brutto. Jede unentschuldigte Fehlzeit bei der Arbeit wird direkt mit einem Einkommensabzug sanktioniert. Mit den Anfahrtswegen zur Schule und Arbeit sind manche täglich bis zu 11 Stunden unterwegs. Auch sie stehen unter der ständigen Drohung, wegen Fehlzeiten im Unterricht oder bei der Arbeit aus der Maßnahme entlassen zu werden und damit jeglichen Anspruch gegenüber dem Arbeitsamt zu verlieren. Die Arbeitsstellen werden per Handzeichen, ohne Informationen über die Art der Tätigkeit verteilt. Bei den Arbeitsstellen gibt es ein enormes Qualitätsgefälle: sie reichen von angenehmer Schreinerarbeit in Kleingruppen über tägliches Bücherabstauben mit Terpentin in Bibliotheken, Putzen von Badeanstalten mit giftigen Chemikalien, Blätterfegen in den Gärten städtischer Bildungseinrichtungen, Hilfsdiensten für Schulhausmeister bis zu begehrten Arbeitsplätzen bei der Feuerwehr und in der Küche von Kindertagesstätten, die von Fall zu Fall auch die Teilnahme an Gruppenarbeit mit Kindern ermöglichen.

Bei den Programmen ist die Betreuung durch Sozialpädagogen und Lehrern auf ABM-Basis zugeordnet. Neben dem Ausfüllen von Anträgen, Urlaubsscheinen usw., Einzelgesprächen mit dem Ziel der Reduzierung der enormen Fehlquoten, besteht die Aufgabe der Sozialpädagogen hauptsächlich darin, zwischen den Unterrichtsstunden den Pausenclown zu spielen und wöchentlich vier Stunden Sozialkunde zu geben. Für diesen Unterricht oder andere Projekte stehen keine finanziellen Mittel oder eigene Räume zur Verfügung. Obwohl der Hauptschulabschluß die Aussichten nicht wesentlich verbessert, die finanzielle Absicherung sehr bescheiden ist und die Lerninhalte und -methoden zum großen Teil mit der Lebensrealität der Jugendlichen wenig zu tun haben, erleben viele die Kurse dennoch positiv.

Birgit ist 22 Jahre alt und wohnt mit ihrem Freund in einer viel zu teuren Wohnung. Mit 16 ist sie zu Hause ausgezogen und hat sich seitdem mit verschiedenen Jobs durchgeschlagen. Sie hat viele schlechte Erfahrungen mit Männern gemacht und ist in der Schule auch schon einmal mit einem blauen Auge erschienen. Eigentlich würde sie gerne ein paar Monate nach Portugal fahren. An Fernsehen, Video und Kleidern hat sie kein Interesse. Wichtig für sie sind Kreativität, individuelle Selbstverwirklichung, harmonische Beziehungen.

Ludger ist krank. Er darf keine schweren Arbeiten verrichten und verbringt einen großen Teil seines Lebens bei Ärzten, Internisten und Vertrauensärzten. Er glaubt den höchst unterschiedlichen Diagnosen der Ärzte nicht und auch nicht, daß er irgendwann wieder gesund sein wird. Er bezweifelt, daß er mit seinen Krankheiten jemals einen Arbeitsplatz bekommen kann.

Eva möchte Schauspielerin werden oder, falls dies nicht klappen sollte, eine Band managen. Andere Überlegungen zu ihrer Zukunft können sie nicht beeindrucken. In ihrer Freizeit lernt sie Breakdance und schreibt ein Buch über eine Popgruppe. (Eva entspricht, das muß dazu gesagt werden, eher dem Gegenteil gängiger Schönheitsvorstellungen).

Ihnen allen bietet die Schule Raum, ihren Träumen nachzuhängen, wenn auch das sub stantielle Angebot mit den komplizierten und differenzierten Lebenssituationen und Zukunftswünschen wenig zu tun hat.  Es gibt auch eine Reihe von Jugendlichen, die durch ihre Beteiligung an der Maßnahme  zum ersten Mal in ihrem Leben über eigenes Geld verfügen. Andere — sie sind der besondere Adressat von Lehrern und Sozialpädagogen, bemühen sich ernsthaft um den
Hauptschulabschluß.

Willi hat eine Fleischerlehre gemacht, ist aber dreimal durch die Abschlußprüfung gefallen. Der Direktor der Berufsschule hat ihm gesagt, er könne es noch einmal versuchen, wenn er den Hauptschulabschluß hat. Die Arbeit als Fleischer hat Willi Spaß gemacht und er meint, daß er den praktischen Teil gut beherrscht. Seine Erfolge in der Schule haben ihm wieder Mut gemacht.

In dem Programm »Arbeit und Lernen« finden sich viele Jugendliche, die zwar gerne und regelmäßig arbeiten gehen, aber den Sinn des Unterrichtes nicht einsehen wollen. Auch die Tatsache, daß kaum jemand mit dem Geld auskommt, wenn er/sie nicht auf finanzielle Unterstützung der Eltern hoffen kann oder Schwarzarbeit macht, trägt nicht  zur Regelmäßigkeit des Schulbesuches bei:

Ivo ist Jugoslawe und lebt in einem Erziehungsheim. Manchmal kommt er zur Schule, manchmal nicht. Er bessert seine magere Beihilfe mit Jobben und Klauen auf. Manchmal haut er aus dem Heim ab, taucht aber nach einiger Zeit wieder auf. Mit den Erziehern des Heimes lebt er auf Kriegsfuß.

Franz mußte seine Lehre abbrechen, weil die Firma pleite war. Besondere Berufswünsche hat er nicht, geht aber gerne arbeiten. Schule interessiert ihn überhaupt nicht, deswegen kommt er nie. Weil er mit dem Geld nicht auskommt, arbeitet er in einer Disco als Rausschmeißer.

Besonders absurd ist die Teilnahme derjenigen, die bereits einen Hauptschulabschluß haben. Sie wurden in die Maßnahme gedrängt, weil das Arbeitsamt keine anderen Möglichkeiten hat und den Kurs füllen wollte.

Marion hat die Hauptschule abgeschlossen. Sie hält den Kurs für baren Unsinn und glaubt ohnehin nicht daran, jemals einen Arbeitsplatz zu bekommen. Sie glaubt, auch eine Lehre würde für sie nicht mehr in Frage kommen, weil sie zu alt sei (sie ist 20). Die Arbeit in der Kindertagesstätte macht ihr ungeheuren Spaß, weil sie nicht nur in der Küche arbeiten muß, sondern auch mit den Kindern zusammen kommt.

Mehmet ist Türke und hat in seinem Heimatland eine höhere Schule abgeschlossen. Er arbeitet daraufhin, in der Türkei die Aufnahmeprüfung für die Universität zu bestehen, um dann später an eine deutsche Hochschule zu wechseln. Dafür lernt er sehr diszipliniert. Auch Mehmet kommt mit dem Geld nicht aus und arbeitet abends und nachts bei McDonalds. Außerdem ist er noch Mitglied in einer türkischen Organisation.

Objektiv können die Kurse die Aufgaben nicht erfüllen, die ihnen zugedacht sind. Auch ein Hauptschulabschluß sichert heute keinen Arbeitsplatz, keine Lehrstelle.  Selbst die Zeit als ABM-Kraft qualifiziert kaum, vermittelt keine spezifischen Berufserfahrungen und wird bei späteren Bewerbungen eher nachteilig sein. Subjektiv werden die Kurse dennoch — das zeigen die Beispiele — höchst widersprüchlich durch- und erlebt. Manche Jugendliche fühlen sich in der Maßnahme wohl und kommen gerne. Auf der anderen Seite reicht die Bandbreite des Verhaltens bis hin zu einer vollkommenen Verweigerung, zur Ablehnung jedweder aktiven Beteiligung, zu unerschütterbarem Desinteresse.
Die proklamierten pädagogisch-psychologischen Ziele sind ebenfalls nicht einlösbar. Anders als reguläre Arbeit wirken die pädagogischen Arbeitsmaßnahmen nicht sinn- und identitätsstiftend, noch begründen sie eine Perspektive über ihre Dauer hinaus.
Durch die der Sozialhilfe angeglichene Entlohnung ist selbst der Tauschwert solcher »Arbeit« äußerst gering.
Die materiellen Vorteile solcher Maßnahmen zu genießen, sich aber den pädagogischen  und Kontrollansprüchen zu entziehen, gehört zum Repertoire jugendlicher Überlebensstrategien in der Krise. Die »Zweckentfremdung«, der eigene Gebrauch unter Modifizierung der Vorschriften und Erwartungen, macht das Leben in pädagogischen Projeken erst erträglich: etwas Geld zur Verfügung haben, einen Freiraum ausleben, Leute kennenlernen, aus persönlicher Isolation herauskommen, faulenzen usw. Diese Verhaltensweisen sind auf das »hier und jetzt« ausgerichtet, sie können keine Zukunftsvorstellungen in sich tragen. Diese illusionslose, pragmatische Verwertungsmentalität zahlreicher Jugendlicher gründet sich auf entsprechende Erfahrungen und eine tiefe Skepsis gegenüber jeglichen Versprechungen.
Die Verbindung zwischen den Arbeitslosenmaßnahmen und den an ihnen beteiligten Jugendlichen wird damit überwiegend formal. Zwar gibt es immer wieder einzelne, »die es schaffen«, die den Hauptschulabschluß nachholen und tatsächlich eine Arbeitsstelle bekommen. Sie dienen allerdings mehr der Bestätigung der Pädagogen als zum Ansporn für die übrigen Jugendlichen.
Die pädagogischen Versuche haben ohnehin für die Lehrer und Sozialarbeiter eine größere Bedeutung als für die Jugendlichen. Für ihr berufliches Selbstverständnis, ihre professionelle Identität wie auch für den Wunsch, den als AB-Maßnahme befristeten Arbeitsplatz langfristig zu sichern, ist der pädagogische Bestandteil der Maßnahmen ausschlaggebend. Die Immunität der meisten Jugendlichen gegen pädagogische Bemühungen und Motivierungskünste bringt die Lehrer und Sozialarbeiter bald dazu, sich mit der physischen Präsenz der Jugendlichen zu begnügen. Wenn sie allerdings mit massiver Verweigerung konfrontiert sind, wenn allmorgendliche Weckanrufe, Briefe, persönliches Betteln, Überreden und Drohen nichts fruchten, wird gelegentlich die Anwesenheit auch erzwungen, die Abwesenheit geahndet. Daß damit Pädagogik zur reinen Kontrolltätigkeit und zum Element von Krisen- und Herrschaftsstrategie wird, muß nicht besonders belegt werden. Verwunderlich sind das hartnäckige Leugnen dieser Tatsache, das Insistieren auf der »Sinnhaftigkeit« solcher Projekte und die Beteuerung, wie vorrangig das Wohl der Jugendlichen sei.
Vielleicht sollten wir uns angewöhnen, die Auswirkungen solcher Maßnahmen auf alle  Beteiligten zu berücksichtigen: schließlich ist auch die pädagogische Intelligenz eine »jugendliche Problemgruppe des Arbeitsmarktes«.

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