Themen / Sozialpolitik

Freiheit oder Gleichheit? - Überle­gungen zu einer falschen Alternative

17. April 1976

aus vorgänge Nr. 20 (Heft 2/1976), S. 45-57

Freiheit wider Gleichheit?

I

In einem längeren Aufsatz schrieb kürzlich Kurt Sontheimer: „Es gehört zum eisernen Bestand linker Demokratietheorie, das einst von Tocqueville am Beispiel Amerikas so meisterhaft analysierte, grundlegende Spannungsverhältnis zwischen der Idee der Freiheit und der Idee der Gleichheit prinzipiell zu leugnen” (1).
Ich schätze Tocqueville als einen unübertroffenen Klassiker politisch-sozialer Analyse, und zu den „linken” Demokratietheoretikern in dem von Sontheimer gemeinten Sinne zähle ich mich eigentlich nicht. Dennoch gibt mir Sontheimers Satz Rätsel auf. Ich verstehe ihn nicht. Als These formuliert: Freiheit und Gleichheit kann man nur mit-, aber nicht gegeneinander haben.

Freilich: Daß Freiheit und Gleichheit einander behindern, mindern oder gar ausschließen, dürfte zum eisernen Bestand rechter Demokratietheoretiker, genauer gesagt konservativer Politiker und Ideologen gehören. Dieser Meinung gab zum Beispiel Helmut Kohl Ausdruck: „Wer CDU wählt, wählt die Freiheit, auch um den Preis von weniger Gleichheit – und wer mehr Gleichheit haben will, muß wissen, daß er als Preis weniger Freiheit in Kauf nehmen muß” (2). Kohl dürfte damit den von Helmut Schelsky so eindringlich erhobenen Vorwurf berücksichtigen, daß der Opposition die Gegenparole „Mehr Freiheit!” zu Willy Brandts „Mehr Demokratie wagen!” nicht eingefallen sei (3).
Will man allerdings aus dem Bann der Schlag-Worte herauskommen,  die sich im politischen Getümmel lediglich als Keulen, made in Neandertal, eignen, so ist Genauigkeit unerläßlich. Denn unter „Freiheit” und „Gleichheit” wird ja sehr Verschiedenartiges verstanden – und vor allem: vage gefühlt.

Die bürgerliche Revolution: egalité und liberté

II

Der Gleichheitsartikel, Art 3 des Grundgesetzes, lautet: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. — Männer und Frauen sind gleichberechtigt. — Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.”

Historisch gesehen weist dieser Artikel zurück auf das Toleranzprinzip, wie es im 17. Jahrhundert von Roger Williams oder John Locke formuliert wurde. Gleichbehandlung der Konfessionen aber meinte und meint: Freiheit des Bekenntnisses. Als Verallgemeinerung des Prinzips wahrhaft epochemachend – in Hegels Worten „weltgeschichtliche Begebenheit” – erweist sich dann die Französische Revolution. Weil sie die ständisch-hierarchische Privilegiengesellschaft aufsprengt, weil sie, wie Hegel es ausdrückt, den Menschen „auf den Kopf” stellt, das heißt je als Menschen erfaßt – und nicht, schicksalhaft und in aller Regel lebenslang vorbestimmt, als Angehörigen einer besonderen Gruppe –, darum enthält die Proklamation der Menschenrechte, so konsequent wie widerspruchsfrei, egalité und liberté. „Es war dieses somit” – nochmals Hegel, in der Philosophie der Geschichte, also keineswegs ein jugendlich jakobinisch schwärmender, sondern der gereifte Hegel  – „ein herrlicher Sonnenaufgang. Alle denkenden Wesen haben diese Epoche mitgefeiert” (4).

Wer die Freiheit polemisch gegen die Gleichheit ausspielt – oder in offenbar (trotz immer neuer Benennungen) nicht abreißender fataler deutscher Tradition: die „Ideen von 1914”  gegen „1789” –, denunziert daher ausgerechnet die grundlegende Errungenschaft der großen bürgerlichen Revolution, der bürgerlichen Epoche schlechthin; er spielt so den Antibürgern, gleich welchen Vorzeichens, bewußt oder unbewußt in die Hände: am Ende auch der faschistischen Konterrevolution der Unfreiheit und Ungleichheit.

Freiheit zum Anderssein

Um den Sachverhalt etwas anders auszudrücken: Der Gleichheitsartikel setzt die rechtlich-politische Gleichheit aller Menschen gegen die zum Prinzip erhobene, rechtlich und politisch ausdrücklich sanktionierte Ungleichheit – das heißt gegen eine Gesellschaft, die Freiheit im modernen Sinne eigentlich gar nicht kennt, jedenfalls nicht anerkennt, sondern nur  Freiheiten als Privilegien von Familien, Ständen, Korporationen. Genau darum enthält der Gleichheitsgrundsatz zugleich die Magna Charta der Freiheit: der Freiheit zur Vielfalt, zum Anderssein, das ermöglicht und gesichert wird – nicht als „natürlicher” Tatbestand, sondern als ein Kunstgriff politischer Kultur –, indem dieses Anderssein aus dem Bereich des rechtlich und politisch Bedeutsamen und Sanktionierbaren verbindlich ausgeklammert, ausgegrenzt, indem von ihm bewußt abstrahiert wird.

In einer mobilen Welt vielfältiger „Gemengelagen”, in der Menschen, Völker, Rassen, Weltanschauungen sich immer weniger kraft „natürlicher” Grenzen voneinander absondern können, ist die Freiheit und Vielfalt von Individuen, ihrer Anschauungen und Lebensformen, überhaupt nur noch unter dem Vorzeichen des Gleichheitsprinzips möglich. Mehr noch: Die „künstlichen” Ausgrenzungen der Unterschiede werden zur Bedingung des zivilisierten Überlebens, wenn nicht des Überlebens schlechthin. Welche Barbarei entsteht, sobald man Gemengelagen gewaltsam zu bereinigen versucht, haben Verfemungen, Vertreibungen, Vernichtungsaktionen in unserem Jahrhundert zur Genüge demonstriert – und demonstriert jede Art von „Apartheid” als praktizierte Unfreiheit und Ungleichheit täglich neu.

„Bürger­li­cher Formalismus”?

Der Einwand liegt nahe – oft genug wird er als Anklage formuliert und als Entlarvung verstanden –, das Gleichheitsprinzip sei ein „nur forma les” oder „formaldemokratisches”, es handle sich um einen Schwindel, um „bürgerliche Formalismen und Fiktionen”. Zugegeben: Norm und Wirklichkeit sind zweierlei; zwischen ihnen klaffen oft Abgründe. Man denke etwa an die Gleichberechtigung oder vielmehr Diskriminierung der Frau. Aber das spricht doch wohl weniger gegen die Norm, als daß es dazu antreiben sollte, sie endlich voll zu verwirklichen, sie zur praktischen Moral zu machen, die sich am Ende von selbst versteht. Im übrigen zeigen gerade die konkreten Beispiele praktizierter Ungleichheit, der Diskriminierung von Frauen, Farbigen, Gastarbeitern und so fort, daß es sich zugleich auch immer um die Sanktionierung handfester Unfreiheit handelt. Wo man nicht formalisiert, nicht von den Unterschieden der Geschlechter, der Hautfarben, der Herkunft, Anschauung, Lebensart abstrahiert – Unterschiede, die es, gottlob, ja gibt! –, wo man einzelne oder Gruppen auf ihr Anderssein als Schicksal gleichsam festnagelt, da eben sind die Freiheit wie die Gleichheit am Ende, und die Unterdrückung beginnt. Das Recht und alle Menschenrechte haben das Formale, das Absehen vom Anderssein zum Fundament. Deshalb ist die modische Abwertung des Formalen – ausgerechnet im Zeichen „linker”, emanzipatorischer Programme – töricht, um nicht zu sagen gemeingefährlich. Mit Tocqueville zu reden:

„Es gibt nichts Beklagenswerteres als die hochmütige Geringschätzung der meisten unserer Zeitgenossen für die Fragen der Form; denn die kleinsten Formfragen haben heute eine früher nicht gekannte Bedeutung erlangt… Die Menschen, die in den demokratischen Zeiten leben, sehen den Nutzen der Formen nicht leicht ein; sie begegnen ihnen mit instinktiver Geringschätzung… Die Formen erregen ihre Verachtung, oft sogar ihren Haß. Da sie gewöhnlich nur auf bequemen und sofortigen Genuß aus sind, stürzen sie sich leidenschaftlich auf jeden Gegenstand ihrer Wünsche; die geringste Verzögerung bringt sie außer sich. Diese ungeduldige Haltung, die sie auch auf das politische Leben übertragen, nimmt sie gegen die Formen ein, durch die sie immer-fort in ihren Plänen aufgehalten und behindert werden. – Genau dies aber, was die Menschen der Demokratien für den Nachteil der Formen halten, macht diese für die  Freiheit so nützlich, denn ihr Hauptverdienst liegt darin, daß sie als Schranke zwischen die Starken und die Schwachen treten, um die einen aufzuhalten und den anderen Zeit zur Besinnung zu geben. Die Formen sind um so notwendiger, je tätiger und mächtiger die Staatsgewalt ist und je gleichgültiger und schwächer die einzelnen wer-den. So benötigen die demokratischen Völker die Formen mehr als die anderen Völker – und naturgemäß achten sie sie geringer”  (5).

Die Grenzendes Formalen  

III

Erst dort also, wo man vorab das Prinzip des Formalisierens, des Abstrahierens von „natürlichen” Unterschieden akzeptiert hat, kann man zugleich und mit Recht über Grenzen des Formalen diskutieren. Dort allerdings muß man es auch tun: Daß die Formen als Schranke zwischen  den Starken und den Schwachen nicht genügen, ist offensichtlich. Schon im 17. Jahrhundert hat Thomas Hobbes den „Idealtypus” der bürgerlichen Gesellschaft erfaßt und in das ebenso großartige wie erschreckende Bild des Krieges oder Wettrennens aller gegen alle gefaßt: „Von diesem Wettrennen aber müssen wir annehmen, daß es kein anderes Ziel, keinen anderen Siegeskranz kennt, als: der Erste zu sein… Und das Rennen aufgeben heißt sterben” (6).

Historisch gesehen folgt die Sprengung von Ständeprivilegien, die Niederreißung von Mauern rechtlich sanktionierter Ungleichheit — seien dies nun Zunftordnungen, Leibeigenschaft, Sklaverei oder was immer — keineswegs nur aus hohen ethischen Motiven, sondern entscheidend aus der Logik ökonomischer Leistungsrationalität auf dem Wege vom Frühkapitalismus zur Industriegesellschaft. Die moderne Leistungsrationalität setzt Konkurrenz und damit die formelle Gleichheit aller Beteiligten voraus; es gibt keinen Leistungsvergleich, keine Konkurrenz zwischen dem Herrn und dem Knecht, weil in Leistungsvergleich und Konkurrenz beide zunächst einmal auf eine Stufe gestellt würden. Die Proklamation der Menschenrechte hat es daher nicht nur, nicht einmal in erster Linie mit einer plötzlich überhand nehmenden Menschenfreundlichkeit der Herrschenden, der zuvor Privilegierten zu tun, sondern mit der Dynamik von bürgerlich-kapitalistischem Leistungsprinzip und Konkurrenz, die anders als auf dem Boden formeller Freiheit und Gleichheit sich nicht entfalten können. In den Auswirkungen handelt es sich sogar um einen Vorgang von äußerster sozialer Härte: Die patriarchalischen Sicherungen und Fürsorgepflichten, die zuvor den Unterschichten zugute kamen, entfallen. Wie Tocqueville es bereits Jahrzehnte vor dem amerikanischen Sezessionskrieg so lapidar wie treffend formuliert hat: „Man hebt in den Vereinigten Staaten die Sklaverei nicht zum Vorteil der Neger auf, sondern zum Vorteil der Weißen” (7).

Soziale Gleichheit

Damit betreten wir ein Gebiet, auf dem heute vor allem die Polarisierungen betrieben werden und die Hysterien sich ausbreiten: das problemreiche Feld  sozialer Gleichheit. Die Problematik hat viele Dimensionen; nur weniges kann hier angedeutet werden. Zuerst geht es um die Entwicklung sozialer Sicherungssysteme, die die Risiken individueller Freisetzung im Leistungs-Konkurrenz-Gefüge abfangen, mindestens in Grenzen halten sollen. Anfangs nur für besonders bedrohte – und als bedrohlich empfundene — Gruppen entworfen, werden die öffentlichen Sicherungssysteme ständig weiterentwickelt, bis sie praktisch die Gesamtbevölkerung erfassen. Dabei handelt es sich nicht nur um Renten- und Versicherungssysteme, sondern mehr und mehr wird die gesamte staatliche Wirtschafts-, Konjunktur- und Strukturpolitik zu einem stets weiter auszweigenden, zunehmend auch vorbeugenden Interventions- und Steuerungsinstrument gesellschaftlicher Stabilisierung mit politischem Verpflichtungscharakter ausgebaut.

Es ist deutlich, daß es sich anders als bei der Rechtsgleichheit, die jedenfalls im Grundsatz ein einziger revolutionärer Akt hervorbringen kann, um einen vielschichtigen, langfristigen, nach vorn offenen Entwicklungsprozeß handelt, in dem immer neue Schwierigkeiten, Ungleichgewichte, Aufgaben auftauchen und dessen Resultate fast immer hinter den anfänglichen Erwartungen enttäuschend zurückbleiben. Nach wie vor gibt es ja in allen Industrieländern, gleich welcher Prägung im einzelnen, klaffende soziale Unterschiede. Blickt man aber vergleichend um ein Jahrhundert oder sogar nur um einige Jahrzehnte zurück, so zeigt sich, wie weit der Prozeß schon fortgeschritten ist.

Dynamische „System“-Stabi­li­sie­rung

Es ist jedoch auch deutlich, daß jeder Schritt vorwärts von Unheils- und  Untergangsprophetien begleitet wird – obwohl es sich eigentlich um Maßnahmen dynamischer „System“-Stabilisierung handelt –, daß also nichts erreicht werden kann ohne die Überwindung massiven Widerstandes im politischen Konflikt. Ob deshalb soziale Gleichheit als Prinzip bereits allgemein anerkannt worden ist, bleibt trotz aller einschlägigen Lippenbekenntnisse fraglich. Man denke an die Frage wirtschaftlicher Verfügungsgewalt, an den Streit um die Mitbestimmung.

Oder um ein anderes, aktuelles Beispiel anzuführen: Die Forderung der Gewerkschaft ÖTV, Löhne und Gehälter nicht linear, sondern um einen einheitlichen Betrag zu erhöhen, begegnet entrüsteter Ablehnung, wird als „Gleichmacherei” denunziert, obwohl es sich doch um einen höchst bescheidenen Schritt handelt, der noch dazu damit begründet werden kann, daß durch Inflation und viele Formen indirekter Besteuerung die Bezieher niedriger Einkommen weit überproportional betroffen werden. Die „Gerechtigkeit” und „Rationalität” überkommener Entlohnungshierarchien bleibt ohnehin unerörtert 8. Warum muß eigentlich Arbeit, die körperlich anstrengend, schmutzig oder monoton ist – oder alles dies zusammen –, grundsätzlich weit geringer bezahlt werden, als eine Tätigkeit, die vielseitig ist, Entscheidungsbefugnisse einschließt, vielleicht sogar individuelle Neigungen zur Entfaltung kommen läßt?
Thomas Jefferson, der das für die Vereinigten Staaten zum Modell gewordene Gesetz zur Herstellung religiöser Freiheit in Virginia verfaßte und durchsetzte, schrieb einmal: „Es stiehlt mir kein Geld aus der Tasche und bricht mir kein Bein, wenn mein Nachbar behauptet, daß es zwanzig Götter gibt – oder gar keinen Gott.” Verhält es sich mit der sozialen Gleichheit so viel anders? Welche Freiheit wird denn durch ein Mehr an sozialer Gleichheit gefährdet, vernichtet oder auch nur eingeschränkt – sofern man insgeheim die eine, unteilbare Freiheit nicht wieder in Freiheiten als Privilegien verkehrt? Was wird mir gebrochen, wenn der Mann, der meine Mülltonne leert, nicht weniger verdient als ich? Eine freilich abgründige Frage; auf sie wird noch zurückzukommen sein.

Chancengleichheit

IV

Einen Sonderfall sozialer Gleichheit bildet das Prinzip der Chancengleichheit. Daß es in unserer Zeit ganz besonders umstritten ist, dürfte kein Zufall sein. Denn in dem Maße, in dem der Status des einzelnen in der entfalteten Industriegesellschaft immer weniger von physischen Eignungen bestimmt wird, immer mehr dagegen von psychischen und geistigen Qualifizierungen, rückt notwendig die Frage ins Zentrum, welche Chancen eigentlich das Bildungssystem vermittelt – oder abschneidet. Je stärker die individuellen Möglichkeiten von Ausbildung und Bildung bestimmt werden, die vom Familienverband – ähnlich wie die soziale Sicherheit im engeren Sinne – immer weniger und überdies nur im Sinne krasser sozialer Ungleichheit erbracht werden können, desto mehr wird das öffentliche Bildungswesen zu einem sozial- und strukturpolitischen Instrument ersten Ranges – und die Ermöglichung oder Blockierung der Chancengleichheit zu einem zentralen Legitimationsproblem der jeweiligen politisch-gesellschaftlichen Gesamtordnung. Von westlichen Kritikern wird zum Beispiel hartnäckig übersehen, daß die Legitimationskraft politischer Herrschaft in der Sowjetunion und in anderen sozialistischen Staaten nicht zum geringsten Teil auf dem hohen Rang beruht, der dort der Entwicklung des Bildungswesens zugemessen wird. Dadurch sind traditionell benachteiligten Schichten – zum Beispiel den Frauen – Aufstiegschancen und Berufsmöglichkeiten eröffnet worden, die sie zuvor nicht besaßen und in westlichen Ländern zum Teil heute noch nicht besitzen.

Befreiung von vorge­ge­benen Zwängen

Wichtig, ja entscheidend für die Beurteilung des Sachverhalts ist nun die  Tatsache, daß auch das Prinzip der sozialen Gleichheit – insofern wie das der Rechtsgleichheit, auf dem es historisch und systematisch aufbaut – grundsätzlich auf das Individuum als Individuum sich bezieht; dies bedeutet, daß von den besonderen Herkunfts- und Gruppenbeziehungen gerade abstrahiert wird. „Ohne Ansehen der Person” nach allgemeinen, formalisierten Kriterien zu urteilen — des Alters, der Erwerbsfähigkeit oder -unfähigkeit, des objektivierten Leistungsnachweises und so fort –: das ist das Ethos des Gleichheitsprinzips. Seine Moral ist es, nicht zu moralisieren, nicht die arische oder proletarische Großmutter oder sonst irgendeine Abkunft und Zugehörigkeit ins Treffen zu führen; genau darum meint Gleichheit ja auch Befreiung des Menschen als Menschen von vorgegebenen, schicksalhaft-„natürlichen“ Unterschieden und Zwängen. Wo dagegen — wie weithin noch immer in Japan — nicht in erster Linie das Individuum als solches Bezugspunkt ist, sondern die konkrete Gruppe, in die es eingebunden bleibt, da entwickelt sich folgerichtig auch der Sozialstaat nur sehr zögernd und fragmentarisch (9).

„Begabung”  – ein Schein­pro­blem

Um den schwierigen und oft mißverstandenen Sachverhalt wieder an einem Bildungsproblem anschaulich zu machen: Mit weltanschaulich aufgeladenem Fanatismus streitet man um den Begriff der Begabung. Viele Vorkämpfer einer auf mehr Chancengleichheit zielenden Bildungsreform meinen, daß Begabung ausschließlich oder doch weit überwiegend durch das Milieu bestimmt werde, besonders durch die frühkindlichen Anregungen und Trainingsmöglichkeiten. Eine Reihe von Forschern – vor allem in den Vereinigten Staaten und in England – haben demgegenüber nachzuweisen versucht, daß Begabung in erster Linie als ein Erbfaktor angesehen werden muß. Diese Forscher sind deshalb teils heftig angegriffen und als „Faschisten” geschmäht, teils triumphierend vorgewiesen worden, um das Prinzip der Chancengleichheit als Hirngespinst von Utopisten abzutun (10). Nun mag es gewiß interessant und für die pädagogische Praxis wichtig sein zu wissen, in welchem Verhältnis Milieu- und Erbfaktoren bei Begabungen sich mischen 11. Für das Prinzip der Chancengleichheit aber folgt daraus gar nichts; es handelt sich schlicht um eine unsinnige Fragestellung falscher Konkretheit. Chancengleichheit soll jedem optimale Entfaltungsmöglichkeiten seiner Anlagen und Neigungen sichern; mit Zielgleichheit aber oder gar mit Gleichschaltung, wie es von dem einen oder anderen Lager offenbar unterstellt wird, hat dies nichts oder nur im Sinne strikter Gegensätzlichkeit etwas zu tun.

Bildung ist, mit Dahrendorf zu sprechen, ein Bürgerrecht, noch genauer ein Menschenrecht, das als ein materielles Rechtsprinzip vom Intelligenzquotienten oder anderen Faktoren des einzelnen ebenso abstrahiert, wie der Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes die Unterschiede des Geschlechts, der Rasse, der Herkunft usw ausgrenzt.
Was besagt es also, daß man nicht jeden, selbst bei noch so sorgfältiger und frühzeitiger Ausbildung, zu einem Einstein wird programmieren können? Es gibt ja auch unterschiedliche körperliche Anlagen, dicke und dünne, große und kleine, blonde, schwarzhaarige und glatzköpfige Leute, und nicht jeden kann man zum Weltmeister im Hammerwerfen trainieren, ohne daß man deshalb auf den Gedanken verfiele, nur Auserwählte hätten das Recht auf die optimale Entfaltung ihrer körperlichen Möglichkeiten. Die Anwälte der Chancengleichheit sollten sich deshalb vor der falschen Konkretheit hüten, mit der sie ungewollt ihren Gegnern nur Argumente zuspielen. Weil Chancengleichheit ein soziales Grundlagenprinzip meint, nicht aber ein Zielprinzip, ist es zugleich in der modernen Gesellschaft ein Fundament der Freiheit.

Der „Numerus clausus”

Vielleicht kann man die Zusammenhänge an einem besonders aktuellen Thema noch weiter veranschaulichen: am Numerus clausus. Daß die wachsenden Zulassungsbeschränkungen der Hochschulen  unter den gegebenen Rahmenbedingungen verheerend sich auswirken, bedarf kaum der Erörterung. Sie züchten Konformismus, Versagensangst, Konkurrenzverhalten, lassen den fremdbestimmten Leistungsdruck ständig anwachsen; man nähert sich dem Gegenpol dessen, was man mit allen institutionellen und inhaltlichen Bildungsreformen eigentlich erreichen wollte. Zu den gegebenen Rahmenbedingungen aber gehört eine traditionsbestimmte, hierarchisch gegliederte Gesellschaft, in der wie in kaum einer anderen der akademische Beruf und das akademisch vorgebildete Staatsbeamtentum entscheidende Mittel waren und sind, um zu materieller Sicherheit und sozialem Ansehen zu gelangen. Daher, durchaus verständlich, die Gier nach dem akademischen Status und die Angst, ihn nicht zu erreichen.

Hätten wir andere, weniger hierarchische Rahmenbedingungen, so würde  man vielleicht einen anderen Aspekt nicht gänzlich aus dem Auge verlieren und auch keine vergleichbaren Verwüstungen im gesamten Bildungssystem befürchten müssen. Der Numerus clausus ist doch auch Ausdruck der Tatsache, daß es endlich gelungen ist, den Weg zur Bildung für Menschen und Schichten etwas leichter begehbar zu machen, denen er bisher versperrt war. Wir besaßen bis vor kurzem im Bildungsbereich beinahe noch eine Ständeordnung aus der Zeit vor 1789; wie es für die einen, die Privilegierten, selbstverständlich war, ihre Privilegien zu vererben – daß ihre Söhne, sei es selbst mit Ziehen und Pressen studieren konnten und Ärzte wurden, weil sie selbst schon Ärzte waren –, so war es den anderen in aller Regel vorbestimmt, als Schuster bei ihrem Leisten zu bleiben. In-sofern könnte der Numerus clausus Ausdruck dafür sein, daß materielle Schichtenkriterien durch formale Auslesekriterien abgelöst werden müssen. Und dies könnte wiederum ein positives Zeichen dafür sein, daß Freiheit und Gleichheit gegenüber den Freiheiten als Privilegien und der Ungleichheit Fortschritte zu machen beginnen. Nur eben: Es zeigt sich die Komplexität des Problems; so wenig, wie man ein Slumviertel allein durch die wohlmeinende Erstellung eines Jugendheims sanieren kann, so wenig kann man eine Gesellschaft allein von ihrem Bildungswesen her reformieren. Allenfalls kann man bestehende Mißverhältnisse bloßlegen.

Daß im übrigen jeder Wandel Betroffenheit und Abwehrreaktionen auslöst, ist verständlich; die Französische Revolution riß die Aristokratie auch nicht durchweg zu Beifallsstürmen hin. Allerdings mutet es – gelinde gesagt – seltsam an, wenn ausgerechnet ein Pädagoge schreibt: „Wenn man einen freiheitlichen Rechtsstaat durch einseitig individualistische Auslegung seiner eigenen Grundsätze von innen her zu Fall bringen will, dann gibt es kaum ein wirksameres Mittel dazu, als eine riesige Menge von höheren Schülern, Studenten und Akademikern mit Berufs-, Einkommens- und Prestigeansprüchen zu schaffen, die unerfüllbar sind“ 12. Soll man etwa gegen die „einseitig individualistische” Auslegung der Grundsätze des freiheitlichen Rechtsstaates wieder kollektive, korporative, gruppen- und schichtenbezogene Barrieren aufrichten? Wäre es nicht vielleicht angebrachter, in der Gegenrichtung die überkommenen Berufs-, Einkommens- und Prestigehierarchien kritisch zu überprüfen?

Gleichschaltung

V

Verfolgt man die soeben angedeutete Alternative noch um einige Schritte weiter, so gelangt man statt zu Freiheit und Gleichheit zur  Gleichschaltung. Dies ist bekanntlich ein faschistischer Begriff; er entstammt dem Bannkreis einer Konterrevolution der Ungleichheit. Es geht darum, bedrohte hierarchische Ordnungen neu zu festigen oder, wo ihre Auflösung bereits begonnen hat, diese rückgängig zu machen, indem man alle „Fermente der Dekomposition” rücksichtslos „ausmerzt”. Ungleichheit soll zementiert, jede Freiheit zum Anderssein vernichtet werden. Damit wird ex negativo noch einmal die Zusammengehörigkeit von Freiheit und Gleichheit demonstriert.
Nicht dem Begriff nach, wohl aber in der Sache, die „Gleichschaltung”  meint, geht es freilich um viel mehr, als um die grobschlächtigen und nur vordergründig-kurzfristig erfolgreichen, im Ergebnis sogar den Intentionen widerstreitenden Praktiken des Dritten Reiches. Denn die Tendenzen zur Freiheitsvernichtung durch Gleichschaltung treten in unserer Epoche unter vielen Vorzeichen auf, unter den „rechten” von Ruhe, Ordnung und Staatssicherheit und unter den „technokratischen” von Schlagkraft und Effizienz ebenso wie unter den angeblich „linken” eines zur dogmatischen Heilslehre heruntergekommenen, verkrusteten und bürokratisch-autoritär verwalteten Marxismus.

Harich: antide­mo­kra­ti­sche Egalität

Um dies wieder an einem zentralen Thema anschaulich zu machen: Der Ostberliner Philosoph Wolfgang Harich hat aus der Diskussion um die „Grenzen des Wachstums” die Schlußfolgerung gezogen, daß ein Kommunismus der Askese statt des Überflusses, der Stabilität statt des Wachstums, ein Kommunismus, der die anarcho-libertären Vorstellungen vom „Absterben des Staates” als Kinderkrankheiten endgültig abstreift, gerade dann zum Zuge kommen kann, wenn ökologische Zwänge jedes weitere Wachstum verbieten. Wichtige Voraussetzungen sieht Harich bereits erfüllt: „Ausgeschaltet sind alle Störfaktoren, die sich im Westen aus dem System der pluralistischen Demokratie, dem Parlamentarismus, der institutionellen Opposition und so weiter ergeben.” Und der zentralistisch-autoritäre sozialistische Staat kann die Bedürfnislenkung erzwingen, „falls nötig, durch rigorose Unterdrückungsmaßnahmen, … und für die Einzelnen gibt es Rationierungskarten, Bezugsscheine, damit basta“ 13. So barbarisch das vorerst klingen mag, so ungewohnt auch im bisherigen Verheißungshorizont sozialistischer Systeme, Harich beansprucht die höhere Rationalität, die tiefere Humanität für sich: die Gleichheit aller in erzwungener Askese als Alternative zur Menschheitskatastrophe.

Keine Gleichheit ohne Freiheit

Die Notwendigkeit, bisherige Wachstumsideologien in West und Ost kritisch zu überdenken, ist nicht zu bestreiten. Allerdings dürfte es für die Diskussion kaum förderlich sein, wenn man sie von vornherein antidemokratisch stilisiert (14). Vor allem jedoch überspringt Harich das zentrale Problem seiner Konstruktion: Wer entscheidet eigentlich, nach welchen Legitimationskriterien der Entscheidungsbefugnisse, über Bedürfnisse und Zuteilungen? In der Situation des verwalteten Mangels wird – eine Elementarerkenntnis poIitischer Ökonomie – Herrschaft nicht etwa beseitigt, sondern im Gegenteil angeeignet, und konsequent genug will Harich ja die Illusion verabschieden, es könne die autoritäre Staatsgewalt abgeschafft oder auch nur gemildert werden. Muß aber die Gleichheit ohne Freiheit deshalb nicht unausweichlich in neue, radikale Ungleichheit einmünden? Muß es nicht zu einem perfekten System bürokratischer Hierarchisierung oder Klassenherrschaft kommen – und mit ihm, statt zur erhofften, bescheidenen Idylle, im Schatten der Macht, zu neuen, bösartigen innergesellschaftlichen wie zwischenstaatlichen Konflikten? Schlägt, um hiermit halbwegs fertig zu werden, die erhoffte Gleichheit nicht notwendig in die gewaltsame Gleichschaltung um, die in der einseitig von „oben” diktierten Bedürfnislenkung ebenso ihren Ausdruck findet wie in deren ideologisch-dogmatischer Bemäntelung?
Es zeigt sich: Wo immer man auf Freiheit leichthin verzichtet, um wenigstens die Gleichheit zu retten, verfällt man einer Illusion, weil man Freiheit und Gleichheit nicht gegen-, sondern nur miteinander haben kann.

Keine Freiheit ohne Gleichheit

Dies gilt natürlich auch und erst recht in der Gegenrichtung, überall dort, wo man unter dem Vorwand der Freiheitsverteidigung die Gleichheit  denunziert, um unter solcher Maskierung Privilegien zu erhalten oder neu zu errichten. Denn wenn die rechtliche und die soziale Gleichheit als Fundamente der Freiheit auf der einen, die Gleichschaltung als Freiheitszerstörung auf der anderen Seite die Alternative unserer Epoche bezeichnen, dann läuft die angebliche Freiheitsverteidigung, sobald sie zur Verteidigung von Ungleichheit mißrät, in Wahrheit zugleich auf die Freiheitsvernichtung in der festgeschriebenen, hierarchisch „geordneten” Gleichschaltung hinaus.

Um es noch etwas anders zu formulieren: Gleichschaltung ist nicht die Fortsetzung der Gleichheit mit nur etwas anderen, vergröberten Mitteln,  sondern deren Todfeind. Denn sie zerlegt die Menschheit in zwei abgründig voneinander geschiedene und zu dieser Scheidung vorbestimmte Teile: in die Wissenden und die Unwissenden, die Gerechten und die Ungerechten, die Kinder des Lichts und die Kinder der Finsternis; sie schafft also oder setzt voraus die radikale, für unüberbrückbar erklärte Ungleichheit – und eben damit auch die radikale Unfreiheit – von Freund und Feind.

Gleichschaltung ist die Aggression, als deren Überwindung sie sich ausgibt. Unter dem falschen Schein der „Gemeinschaft” zielt sie auf die Überwältigung und Einebnung von Freiheit und Vielfalt, alles dessen, was „anders” ist. Gleichheit dagegen macht als formalisierende Rechtsgleichheit die Freiheit zum Anderssein erst möglich, als soziale Gleichheit erst praktikabel.

Aggression und Vertei­di­gung von Privilegien

VI

Aggression: das ist kaum zufällig ein Stichwort unserer Zeit. Aggression aber macht als Gier nach Gleichschaltung, nach Verfemung, Vertreibung, Vernichtung derer, die „anders” sind, die Herausforderung durch Freiheit und Gleichheit in der Tiefendimension sichtbar. Daß einzelne oder Gruppen, die über Privilegien und Entscheidungsmonopole verfügen, diese Privilegien und Monopole erbittert verteidigen  und sich aggressiv gegen jeden wenden, der sie bedroht oder zu bedrohen scheint, ist allerdings verständlich. Man kann das einmal mehr an den verhängnisvollen Wendungen der neueren deutschen Geschichte ablesen. Dahrendorf hat vom „Kartell der Angst” deutscher Führungseliten gesprochen, Erich Fromm von der „Flucht vor der Freiheit”; Eva Reichmann hat Antisemitismus und Judenverfolgung als „Flucht in den Haß” analysiert (15).

Es läuft gewissermaßen ein lernpathologischer Verdummungsprozeß, ein wahnhafter Realitätsverlust ab: Statt durch Reformen überständige Privilegien Schritt für Schritt abzubauen, verstärkt eine bedrohte Machtelite  nur ihre ideologischen und materiellen Abwehrmechanismen und lenkt — im Namen des Volkes und der gleichgeschalteten „Volksgemeinschaft” – die aufgestauten Spannungen auf Minderheiten im Innern und fiktive äußere Feinde ab. Sie entfernt sich damit immer mehr von den Bedingungen der entfalteten Industriegesellschaft und gerät schließlich in Entwicklungssackgassen, an deren Ende die Katastrophe wartet.

Der Mensch braucht „Ansehen”

Aber es hieße den Sachverhalt nur vordergründig betrachten und unzul ässig vereinfachen, wollte man einzig die materiellen Privilegien und Entscheidungsmonopole sehen. Ohnehin bliebe dann unverständlich, wie Angst und Aggressivität auf die Massen der nichtprivilegierten Gefolgschaft – gegen deren Interessen! – übertragen werden können. Das Hinwegerklären eines hartnäckig „falschen Bewußtseins” mittels der „Manipulations“-Hypothese macht es sich zu einfach, ganz abgesehen davon, daß diese Hypothese immer in der Gefahr steht, auf primitive „Verschwörungs“-Klischees zurückzufallen.

In der Tiefendimension geht es wohl um existentielle Probleme des menschlichen Selbstbewußtseins. Der Mensch ist ja das einzige, einzig artige Wesen, das ein – prinzipiell immer labiles, offenes, gefährdetes — Verhältnis zu sich hat. Darum braucht der Mensch „Ansehen”, ein sozial vermitteltes und abgestütztes Selbst-Bewußtsein – und darum kann oder sogar muß der Mensch, nur er, auf die Beschädigung oder Zerstörung dieses Ansehens mit Selbstmord oder Mord reagieren. In der ehrwürdig unheimlichen Geschichte von Kain und Abel, diesem Urmythos von der Aggression, antwortet Kain auf den Entzug „gnädigen Ansehens“ durch Jehova nicht etwa mit Auflehnung, schon gar nicht mit Achselzucken, sondern mit der Jagd auf den Sündenbock, mit dem Brudermord. Die Geschichte hat, leider, noch kaum etwas von ihrer Aktualität verloren.

Selbst­be­wußt­sein auf hiera­r­chi­scher Grundlage

Wenn aber, wie in dieser Geschichte – oder wie in Hegels tiefsinnigem Kapitel „Herrschaft und Knechtschaft” in der Phänomenologie des Geistes – das Selbstbewußtsein „vertikal” auf Über- und Unterordnung, auf Herrschaft und Hierarchie gründet und unvordenklich gegründet war, dann bedeuten Freiheit und Gleichheit, als Wendung in die „horizontale” Dimension, eine elementare Infragestellung dieses Selbstbewußtseins: eine Infragestellung, die beim geringsten Anlaß Panik und Aggression auslösen kann. Und das gilt nicht nur für die Herrschenden, sondern eben auch für die Beherrschten, sofern deren Selbstbewußtsein von der Anerkennung durch die Herrschenden und durch die Identifikation mit ihnen bestimmt war und bestimmt wird.
 Dazu braucht man allerdings zugleich „die da unten“, von denen man sich unterscheidet. Was mir also gebrochen wird, wenn der Mann, der meine Mülltonne leert, weder mehr durch das Einkommen noch durch andere grobe oder subtile Statussymbole von mir distanziert wäre, ist das Wichtigste, worüber ich verfüge: mein herkömmliches Selbstwerterlebnis. Zu seinem Glück fand der ehemalige Herrenmensch inzwischen den Türken, dem durch das „Du!”, mit dem er so buchstäblich wie doppelsinnig angeherrscht wird, nicht etwa Gleichheit und Solidarität, sondern Ungleichheit und Unterwerfung signalisiert wird. – Dringend zu wünschen wäre eine Sozialgeschichte des Selbstbewußtseins, vor allem der Misere deutscher Bürgerlichkeit, der die politische und gesellschaftliche Durchsetzung aus eigener Kraft historisch mißriet und die daher auf jede Form von egalitärer Infragestellung mit Verfolgungswahn und Verfolgung reagiert.

Die Heraus­for­de­rung der Gleichheit

In solcher Perspektive – und nur in ihr – wird die moderne Revolution der Gleichheit als eine ungeheure Herausforderung verständlich; es wird verständlich, warum Tocqueville, der größte Analytiker dieser Herausforderung, in der Einleitung zu seiner Demokratie in Amerika sagen konnte: „Das vorliegende Buch ist völlig unter dem Eindruck einer Art religiösen Schauders geschrieben, welche der Anblick dieser unwiderstehlichen Revolution im Herzen des Verfassers hervorgerufen hat.”

Doch wenn die Revolution der Gleichheit wirklich „unwiderstehlich” ist,  dann in dem Sinne, daß es zu ihr keine tragfähige Alternative gibt: daß sie die Basis bildet ebenso für die Befreiung des Menschen aus Untertänigkeit, Rechtlosigkeit, Ausbeutung, Armut und Unwissenheit, wie für seine geistige Freiheit und die Vielfalt seiner Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung. Dann freilich kann der Herausforderung der Gleichheit nicht begegnet werden durch Zurückweichen, das die Gier zur Aggression erst weckt und ständig wachsen läßt, sondern einzig durch die entschlossen voranschreitende Verwirklichung der Gleichheit, die das sozial vermittelte „Ansehen”, die Bestätigung des Selbst-Bewußtseins aus der „vertikalen” in die „horizontale” Dimension der Solidarität, christlich gesprochen der Brüderlichkeit wendet. Gewiß handelt es sich um einen sehr langwierigen und schmerzhaften, nicht zuletzt in seiner institutionellen Umsetzung höchst komplizierten, schwerlich durch Gewaltstreich abzukürzenden Entwicklungsprozeß. Aber es gibt eben, außer dem Brudermord, keine Alternative.
 Um am Ende zum Ausgangspunkt zurückzukehren und mit Sontheimer noch einmal Tocqueville zu zitieren, allerdings dabei den Satz hinzufügend, den er ausließ: „Es geht nicht mehr darum, die besonderen Vorteile zu retten, die die Ungleichheit der gesellschaftlichen Bedingungen den Menschen verschafft, sondern das neue Gute zu sichern, das ihnen die Gleichheit zu bieten vermag. Unser Ziel kann nicht darin bestehen, unseren Vätern gleich zu werden, sondern wir müssen um die Art von Größe und Glück kämpfen, die uns angemessen ist”. (16)

Anmerkungen

1 Der Streit um die wahre Demokratie – Bilanz einer Theoriedebatte, in: Die Zeit, 9. Januar  1976, Nr 3, S 40.
2 Rede in Witten, zit nach: Die Welt, 8.12.1975.
3 Siehe von Schelsky: Mehr Demokratie oder mehr Freiheit? – Der Grundsatzkonflikt der „Polarisierung” in der Bundesrepublik, zuerst in: FAZ, 20.1.1973, Nr 17, S 7 f; später in: Systemüberwindung–Demokratisierung – Gewaltenteilung, München 1973, S 47 ff.
4 Vierter Teil, Dritter Abschnitt, Drittes Kapitel.
5 Über die Demokratie in Amerika, II, Stuttgart 1962, S 349 f.
6 Human Nature, Kap 9, Abschn 21; English Works, ed Molesworth, IV, S 53.
7 A a O, I, Stuttgart 1959, S 399.
8 Siehe dazu Claus Offe, Leistungsprinzip und industrielle Arbeit – Mechanismen der Statusverteilung in Arbeitsorganisationen der industriellen „Leistungsgesellschaft”, Frankfurt a M 1970.
9 Siehe dazu v Verf: Feudalismus und Managerherrschaft – Japan, in: Soziale Kontrolle und autoritäre Gewalt, München 1971, S 137 ff.
10 Einschlägig besonders die Arbeiten von Hans-Jürgen Eysenck: Vererbung, Intelligenz und Erziehung – Zur Kritik der pädagogischen Milieutheorie, Stuttgart 1975; ders: Die Ungleichheit der Menschen, München 1975.
11 Zur Darstellung der kontroversen Literatur sei verwiesen auf: H. Roth (Hrsg), Begabung und Lernen – Ergebnisse und Folgerungen neuer Forschungen, Stuttgart 1969; D. E. Zimmer, Der Streit um die Intelligenz– IQ: ererbt oder erworben? München 1975.
12 Wolfgang Brezinka: Chancengleichheit – Wundertaler ohne Kurs, in: Die Welt, 24.11.1975.
13 Kommunismus ohne Wachstum? – Babeuf und der „Club of Rome”, Reinbek 1975, S 135, 179, 167.
14 Eine in diesem Sinne problematische Tendenz zeigt auch das Buch des CDU-Abgeordneten
Herbert Gruhl: Ein Planet wird geplündert – Die Schreckensbilanz unserer Politik, Frankfurt aM 1975.
15 R. Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1965, S 297 ff; E. Fromm, Die Flucht vor der Freiheit, Zürich 1945; E. Reichmann, Flucht in den Haß, 4. Aufl Frankfurt aM 1964.
16 A a O, II, S 357 f.

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