Themen / Sozialpolitik

Gleichheit als Bedingung und Grenze der Freiheit

05. Juli 1976

oder: Auch ein Beitrag zu „Freiheit oder Sozialismus”

aus vorgänge Nr. 22 (Heft 4/1976), S. 5-9

Freiheit hat zu allen Zeiten als positiver Begriff gegolten, Gleichheit nie. Freiheit will jeder, Gleichheit wollen nur einige und diese auch nur unter bestimmten Bedingungen, für bestimmte Gruppen, für bestimmte Zeit.
Wer statt Gleichheit Gerechtigkeit sagt, findet mehr Sympathien. Gerechtigkeit will jeder, wie jeder Freiheit will. Für den Begriff der Gerechtigkeit gilt nämlich, was für den Freiheitsbegriff zutrifft: er ist unbestimmt, läßt viele, fast alle Inhalte zu und verbindet sich, wie die historische Erfahrung zeigt, unter Umständen mit seinem Gegenteil. Der Gleichheitsbegriff weist diese inhaltliche Leere nicht auf, er ist logisch bestimmter. Blickt man genauer hin, so sieht man, daß Gleichheit nie die absolute Identität verglichener Objekte meint, sondern stets eine partielle Aussage bedeutet: zwei Objekte sind in bestimmter Hinsicht gleich, in bestimmter Hinsicht ungleich. Gleichheit impliziert den Gedanken der Ungleichheit.
Damit ist eine weitere Einsicht bereits erschlossen: Gleichheit, als absolute Identität verstanden, kann nie mögliches Ziel der Politik sein, ist es auch nie gewesen. Ein schwer zu tilgendes Vorurteil gegenüber allen Formen des Sozialismus ist die Vorstellung, als wolle sozialistische Politik die Menschen absolut gleich machen. Ein anderes Vorurteil ist noch schwerer auszuräumen: Kein linker Theoretiker hat je Gleichheit als Zweck an sich selbst angesehen und politisch gefordert. Gleichheit ist überhaupt keine Sache, die, für sich genommen, einen Wert darstellt, wenn man nicht gleichzeitig angeben kann, in welcher Hinsicht und das heißt gleichzeitig: in bezug auf welche festzuhaltenden Unterschiede sie gelten soll.
Das Thema Freiheit und Gleichheit bietet deshalb sowohl hinsichtlich der logischen wie der politischen Qualität der Begriffe große Schwierigkeiten. Sprüche von der Art des „Soviel Freiheit wie möglich, soviel Gleichheit wie nötig” oder das Bild von den beiden Waagschalen sind verführerisch, aber falsch, weil sie die unterschiedliche logische Struktur der beiden Begriffe vergessen machen und so tun, als ob Freiheit und Gleichheit auf derselben Ebene verrechenbar seien. Der Gegensatz von Freiheit bleibt Unfreiheit, und das Gegenteil von Gleichheit ist Ungleichheit.

Soziologisch bedeutet Gleichheit soziale Homogenität. Auch für soziale Homogenität gilt, was für Gleichheit allgemein zutrifft: keine Gesellschaft ist absolut homogen, sondern immer nur in bezug auf bestimmte Verhaltensweisen, Lebensweisen, Glaubensweisen. Wir kennen in der Geschichte menschlicher Sozietät eine Fülle von Homogenitätsmedien: Gleichförmigkeiten der Eßgewohnheiten, der Tages- und Arbeitseinteilung, der religiösen Vorstellungen, der sexuellen Sitten. Ein Blick auf gegenwärtige Bürgerkriege zeigt die bis heute starke Bedeutung religiöser, kultureller und sprachlicher Homogenitäten, die jedoch gleichzeitig wieder Epiphänomene für soziale und ökonomische Homogenitäten sein können.
Man kann diese oder jene Form sozialer Homogenität mit dieser oder jener Phase der Geschichte eines Volkes funktional in Verbindung bringen: bestimmte Homogenitätsweisen sind für bestimmte historische Aufgaben besonders geeignet, andere nicht. Auch wechselt die Homogenitätsschwelle an sich stark. In Friedenszeiten können bestimmte Homogenitätsfelder weniger stark besetzt sein als in Kriegszeiten, wo allgemein die Homogenität einer Gesellschaft höher liegen muß. Man reagiert im Kriege heftiger auf abweichende Meinungen oder Verhaltensweisen, weil der Gesamtbestand der Gesellschaft gefährdet ist und man fürchten muß, daß solche Differenzen sich zu kriegsentscheidenden Schwächen entwickeln. Der Bürgerkrieg ist die Situation katastrophaler Inhomogenität: der Sinn der Gemeinschaft steht selber zur Disposition, das Gesamtsystem zerfällt in Teilsysteme nach Maßgabe neuer Homogenitätskriterien.

Die Gleich­heits­for­de­rung des Bürgertums

Eine solche Situation hat es im modernen Europa zweimal gegeben: einmaI in Gestalt der religiösen Bürgerkriege, die zur Entstehung des absoluten Staates beitrugen, zum anderen in den bürgerlichen Revolutionen, deren Ergebnis die liberaIen Verfassungsstaaten Europas gewesen sind.
Der absolute Staat beantwortet die Situation religiöser Disparität mit dem Versuch einer neuen Homogenität, die sich rational begründete und sich solchermaßen tautologisch auf die Staatsgesellschaft selbst bezog, ohne den Umweg über transzendente religiöse Verankerungen. Staatsraison hieß die neue politische Homogenitätsformel, die der absolute Staat erfand. Sie bedeutete die vernünftige Einsicht in den politischen Zusammenhang von Schutz und Gehorsam, deren Garant eine neue politische Dreifaltigkeit war: Fürst, Armee und Verwaltung. Staatliche Einheit stand gesellschaftlicher und religiöser Vielheit gegenüber. Jeder sollte nach seiner Fasson selig, auch nach seinen Möglichkeiten reich oder gebildet werden dürfen, sofern er nur die Homogenität nicht verletzte, auf die dieses Staatswesen theoretisch und praktisch gebaut war.
Diese politische Versuchsanordnung hat jahrhundertelang gehalten. Politische und ökonomische Macht des Adels lieferten die soziale Einheit für eine Legitimität, die von allen Ständen anerkannt war. Erst die Emanzipation des dritten Standes sprengte diese gegliederte Einheit, riß politische Repräsentation und ökonomische Macht auseinander und zwang zu einer neuen Besinnung auf die Homogenitätsmedien der Stände. Das Bürgertum, bisher zufrieden mit dem politischen Freiraum der Familie, der Frömmigkeit, der Ökonomie, sah, daß die gesamte StaatsgeseIlschaft zunehmend von bürgerlichem Erwerbsstreben unterhalten wurde und forderte volle politische Repräsentation. Diese Forderung lief wesentlich über das Postulat Öffentlichkeit: beide, fürstliche Politik mit ihren geheimen Räten und bürgerliche Privatheit sollten aufgehoben werden, die politische Homogenität erweitert, und das hieß für das Bürgertum: die ökonomische Identität zur politischen ausgedehnt werden.
Das Bürgertum begab sich mit dieser Forderung auf einen Weg, für den es schlecht vorbereitet war. Kritik war nie seine Sache gewesen, politisches Bewußtsein nicht seine Art von Standesbewußtsein. Zur ldentität des dritten Standes gehörte gemäß dem absolutistischen Staatsmodell Autonomie im privaten und ökonomischen Bereich,
Heteronomie auf dem Felde obrigkeitlicher Politik. Die Forderung nach politischer Autonomie sollte nun mit der Realität ökomomischer Autonomie verbunden werden. Der dritte Stand sollte die gesamte Nation repräsentieren. Von der Revolution erwartete man die Versöhnung von Mensch, Unternehmer und Staatsbürger.
Diese Theorie stand hinter der Verbindung der beiden Begriffe Freiheit und Gleichheit. Freiheit von fürstlicher Bevormundung sollte zur politischen Autonomie führen, die nach dem Modell der ökonomischen gedacht war: Erwerbsbürger sollten von Objekten zu Subjekten eines Staates werden, der allen in gleicher Weise Freien privates Glück garantierte, oder doch das Streben nach ihm.
Die Politisierung des Bürgers blieb damit gebunden an die unter dem Absolutismus bereits erreichte Form von Freiheit: die Beförderung eines privatistisch verstandenen Glückes, das sich in der Familie und in der Familienunternehmung erfüllte. Die liberale Staatstheorie reduziert den Staat auf seine Schutz- und Rechtsfunktionen und macht ihn zum Mittel der vollen Durchsetzung von bürgerlichen Werten, die durch die Revolution nicht verändert wurden. Zwar hält sich das Bürgertum durch die Ereignisse der Revolution und die neue politische Macht selber für verändert, ahnt auch wohl, daß es eigentlich nicht einfach zur privaten Existenz zurückkehren kann, nachdem sich dem Bourgeois der Citoyen hinzugesellte. Dennoch hat der revolutionäre Weg „die Grundlagen der bürgerlichen Klasse nicht verändert, sondern nur deutlicher — als politische und sozialeForm — sichtbar gemacht” (Heinz Schlaffer).

Das zeigte sich beim Aufkommen des vierten Standes. Da nämlich sah das Bürgertum, was es sich selbst mit seinen Revolutionen, seiner Politisierung und „Verstaatlichung” eingehandelt hatte. Nun wurde es vom Proletariat an seinen eigenen Maßstäben gemessen und solchermaßen gezwungen, die von ihm bevorzugte Verbindung von Ökonomie und Politik zu verteidigen. In dem Augenblick, in dem die Identität von Bourgeoisie und Nation durch das Aufkommen des Proletariats infragegestellt wurde, zerbrach auch die Einheit von Politik und bürgerlichem Erwerb. Der liberale Staat, kaum daß er geboren war, zeigte seine mangelnde Fähigkeit zur sozialen Homogenisierung.
Der Beweis dafür, daß das Bürgertum politisch nichts anderes im Sinne hatte, als sich seine Privatsphäre politisch sichern zu lassen, ist die Tatsache, daß Liberalismus und Demokratie in der Praxis nicht notwendig zusammengehen mußten. Für Deutschland zeigt dies die politische Philosophie Kants auf klarste Weise. Kant forderte nicht demokratische, sondern liberale Homogenität, die er mit dem Begriff der Republik faßte. Auf der einen Seite konstatierte er eine Gleichheit aller „vernünftigen Wesen, von welchem Range sie auch sein mögen…: nämlich, in Ansehung des Anspruchs, selbst Zweck zu sein, von jedem anderen auch als ein solcher geschätzt und von keinem bloß als Mittel zu anderen Zwecken gebraucht zu werden. Hierin … steckt der Grund der so unbeschränkten Gleichheit des Menschen.” Diese Einsicht hinderte ihn aber nicht, politisch nur denjenigen volles Bürgerrecht zuzusprechen, die ökonomisch unabhängig, d.h. als Erwerbsbürger autonom waren. Die Freiheit politischer Autonomie kann Kant zufolge Staatsbürgern nicht zuerkannt werden, welche die Voraussetzung des Erwerbsbürgers nicht mitbringen: Eigentum. Eigentum und Freiheit war die Verbindung, die das Bürgertum unter dem Schutz des absoluten Staates geschaffen hatte und bis heute nicht wieder aufgeben will.

Das Scheitern der bürger­li­chen Politik in Deutschland

Das eindrücklichste Beispiel dafür, wie wenig erfolgreich bürgerliche Politik in der Herstellung einer neuen politisch tragfähigen Homogenität war, ist die Entwicklung in Deutschland. Die Geschichte dieses bürgerlichen Nationalstaates stellt einerseits eine Ausnahme hinsichtlich der Entwicklung des liberalen Verfassungsstaates in Europa dar, andererseits zeigen sich in dieser Sonderentwicklung die Geburtsfehler des bürgerlichen Verfassungsstaates besonders deutlich. Die deutschen Revolutionen blieben auf der Strecke, der Nationalstaat wurde über einen siegreichen Krieg von Preußen geschaffen, und das Bürgertum ließ sich vom autoritären Obrigkeitsstaat gegen das Proletariat schützen. Im Unterschied zum französischen Bürgertum gelang dem deutschen weder die politische Emanzipation noch die Schaffung eines Nationalstaates. Freiheit gab es weiter nur im Raum der Gesellschaft, im ökonomischen Erwerbsstreben, in der privaten Sphäre, besonders in der Innerlichkeit des Familienlebens und im Reich der Bildung, der idealistischen Philosophie, der romantischen Musik, der Naturbegeisterung. Nur hier waren „die Gedanken frei”. Dieser restriktive Freiheitsbegriff, der seine Grenzen an einem autoritären Staatsverständnis fand, hatte ein ebenso restriktives Gleichheitsverständnis zur Folge. In Deutschland bezahlte das Bürgertum seine ökonomische Freiheit weiterhin mit der Unterwerfung unter das sogenannte monarchische Prinzip, und dies um so mehr, je stärker das Proletariat auf der Einlösung der demokratischen Rechte bestand, die das Bürgertum dem Obrigkeitsstaat gegenüber zu fordern selbst nicht den Mut fand. Das politisch schwache Bürgertum ließ sich vom autoritären Staat gegen ein Proletariat schützen, dem der Weg in den Nationalstaat dadurch versperrt war, daß dieser Staat nicht demokratisch organisiert war. Proletariat und Nation gerieten in einen Gegensatz, der in anderen Ländern nie so ausgesprochen war. Dort mußte sich das Bürgertum selber gegen das Proletariat schützen und sehen, wie es ideologisch mit der Situation zurechtkam, vom Proletariat ständig mit seinen eigenen politischen Forderungen und Werten zitiert und angegriffen zu werden. Auf diese Weise ist die Linke Frankreichs oder Englands nie aus der nationalen Homogenität herausgefallen: es gab Flügelbildungen, aber eben einer gemeinsamen demokratischen Bewegung.
In Deutschland gerieten dagegen Proletariat und Nation in einen Gegensatz, der für Jahrzehnte latenten Bürgerkrieg bedeutete. Ausgerechnet im politisch rückständigen Deutschen Reich wurde der Marxismus theoretisch voll ausgebildet. Weil der politischen Linken der Weg in einen demokratischen Nationalstaat versperrt war, gab es für sie nur die Möglichkeit, sich in ihrem Kampf gegen das Bürgertum zugleich gegen den Nationalstaat zu wenden. Der Kampf gegen den nationalen Obrigkeitsstaat wurde identisch mit dem Kampf für den internationalen Sozialismus. Gleichheit bedeutete nicht die demokratische Gleichheit von Deutschen, sondern die internationale Solidarität der Arbeiterklasse. Auf diese Weise wurden deutsche Proletarier zu „vaterlandslosen Gesellen”.
Die deutsche Staatsgesellschaft wies somit in jenen Jahrzehnten nur ein Homogenitätsmedium auf: das nationale, eingefärbt von feudalen und bildungsbürgerlichen Elementen. Wer Reserveoffizier und Corpsstudent war, galt als „nationaler Mann”, und der Gleichschritt uniformierter Kolonnen wurde zum Cantus firmus der deutschen Gesellschaft. Sozialismus dagegen galt per se für antikaiserlich, antinational, antivölkisch.
Wie schon bei der Gründung des deutschen Nationalstaates, brachte auch hier ein Krieg die Wende. 1914 vor die Wahl gestellt, sich der Beteiligung an diesem großen nationalen Ereignis zu versagen oder den Weltkrieg als Mittel zur nationalen Integration der Arbeiterklasse zu nutzen, entschied sich die deutsche Sozialdemokratie dafür, auf das Angebot des Kaisers, keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche zu kennen, einzugehen. Man bewilligte Kriegskredite und deutsche Sozialdemokraten gingen für die deutsche Sache ins Feld. Auf diese Weise integrierte sich die Arbeiterschaft wie vorher das Bürgertum in einen nationalen Obrigkeitsstaat, der als kreigführender seine autoritären Züge nur desto deutlicher hervorkehren konnte.
Aber die Sozialdemokratie blieb bis heute mit dem Verdacht nationaler Illoyalität behaftet, so daß auch der diesjährige Wahlkampf der CDU/CSU wieder die beiden geschichtlichen Homogenitäten gegeneinander halten und nationale Homogenität gegen internationalen Sozialismus ausspielen kann.

Die deutsche Geschichte des Themas Freiheit und Gleichheit zeigt, daß es der Bourgeoisie unter Umständen für lange Zeit gelingen kann, die ökonomische Gleichheit durch andere Formen von Homogenität zu substituieren. Die Devise „Ein Volk, ein Reich, ein Führer” war auch ein solcher Versuch, und es gibt bekanntlich eine ganze Theorie, die den Faschismus als eine Überlebensform des Kapitalismus erklären will.
Bei alledem hat sich Deutschland zu einem Sozialstaat entwickelt, der mit seinen Leistungen an der Spitze vergleichbarer Staaten rangiert. Das ist kein Einwand gegen die vorgetragene These: Bismarck ergänzte die Sozialistengesetze mit einem Sozialversicherungssystem, das man vorbildlich nennen muß, auch wenn es in der Tradition des absolutistischen Wohlfahrtsstaates lag, indem er soziale Leistungen als Alimentation und Pazifierung von unpolitischen Untertanen verstand. Diesen Sinn hat Sozialversicherung für viele bis heute. Die gesamte Theorie des Daseinsvorsorgestaates von Ernst Forsthoff steht im Horizont des alten Obrigkeitsstaates. Nicht zufällig zitiert er die folgende Passage aus Bismarcks Gedanken und Erinnerungen mit Zustimmung: „Die größere Besonnenheit der intelligenteren Klassen mag immerhin den materiellen Untergrund der Erhaltung des Besitzes haben; der andere des Strebens nach Erwerb ist nicht weniger berechtigt; aber für die Sicherheit und Fortbildung des Staates ist das Übergewicht derer, die den Besitz vertreten, das nützlichere. Ein Staatswesen, dessen Regiment in den Händen der Begehrlichen, der novarum rerum cupidi und der Redner liegt, welche die Fähigkeit, urteilslose Massen zu belügen, in höherem Maße wie andere besitzen, wird stets zu einer Unruhe der Entwicklung verurteilt sein, der so gewichtige Massen, wie staatliche Gemeinwesen sind, nicht folgen können, ohne in ihrem Organismus geschädigt zu werden.”

Freiheit gibt es nur in einer Gemein­schaft von Gleichen

Freiheit bedeutet in seinem ursprünglichen Sprachsinn „Freihalsigkeit” und hängt etymologisch mit „Freund” zusammen. Freiheit ist nicht zu trennen von einer Gemeinschaft, die solche Freiheit garantiert: als Gemeinschaft von Gleichen nämlich. Nur unter seinesgleichen kann man frei sein. Die rechtliche Bedingung solcher durch Gleichheit garantierten Freiheit nannten die Germanen „Friede”. Dieser sozialgeschichtliche Zusammenhang gilt nach wie vor. Nur innerhalb einer in bestimmter Hinsicht homogenen Gruppe kann ich mich frei bewegen, weiß ich mich angenommen und geachtet, finde ich meine Identität.
Der Liberalismus meinte, mit der Rechtsgleichheit dem Erfordernis sozialer Homogenität genüge zu tun. Es zeigte sich aber, daß in der Rechtsgleichheit eine Menge sozialer und ökonomischer Implikationen und Konsequenzen steckten, die zur Ausweitung auf Chancengleichheit hindrängten. Heute geht der Kampf um die Auslegung dieser Gleichheit. In den Diskussionen wird eines immer deutlicher: die Gleichheit der ökonomischen Position bleibt eine unaufgebbare Forderung moderner Freiheit und ist durch kein anderes soziales Homogenitätsmedien zu ersetzen. In dem Maße, in dem andere Homogenitätsmedien (Religion, traditionale Moralen, ideologische Formierungen) an Kraft verlieren, wird die soziale Sicherheit zum fast einzigen Homogenitätsmedium einer modernen Industriegesellschaft. Die abhängigen Schichten der Bevölkerung reagieren, wie Statistiken beweisen, zunehmend aggressiver auf soziale Unsicherheit und leidvoll erfahrene Fremdbestimmung. Wenn sich die Einsicht erst herumgesprochen hat, daß Bedürfnisse und ihre Befriedigung prinzipiell erweiterungsfähig sind, werden sich die von der Bourgeoisie jetzt noch ideologisch verteidigten Bastionen nicht mehr halten lassen. Die begonnene Diskussion über Inhalt und Grenze des Leistungsbegriffs sind Anzeichen dafür.
Demokratie ist eine Staatsform des Friedens und der Prosperität: in Kriegszeiten geht stets ein Stück Demokratie verloren. Die konservative Kritik am Wohlfahrtsstaat zeigt deutlich den Unwillen über eine Entwicklung, die breiten Bevölkerungsschichten alle diejenigen Annehmlichkeiten bringen soll, deren sich die Bourgeoisie schon seit zweihundert Jahren erfreut — zusammen mit dysfunktionalen Folgen wie zum Beispiel einer stärkeren Angewiesenheit auf psychotherapeutische Hilfe, wie sie Freud damals einer hauchdünnen Schicht der Wiener Bourgeoisie angedeihen ließ.

Bei diesem Prozeß handelt es sich um das, was Hegel mit dem Ausdruck „Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit” umschrieb. Individuelle Freiheit und die Würde der Person lassen sich heute nicht mehr trennen von der Gleichheit sozialer Ausstattung, nachdem die politische Demokratie Gleichheit auf dem Felde verwirklicht hat, auf dem das Thema Freiheit aktuell ist: als Freiheit von nicht durch das Volk legitimierter Herrschaft. Die Friedensordnung, die früher wenigen Gleichen ihre Freiheit garantierte, umfaßt heutzutage die ganze Nation. Alle Bürger sollen in gleicher Weise in ihrer menschlichen Würde geschützt werden, ihr Lebensglück in gleicher Weise finden können; aber nicht in derselben Weise: der konservative Vorwurf, soziale Gleichheit führe mit Notwendigkeit zum totalitären Staat, trifft nicht. Die materielle Gleichheit ist darin eine „abstrakte” Gleichheit, daß sie auf eine konkrete Ausfüllung des individuellen Freiheitsraumes, auf „Totalisierung” gerade verzichtet. Soziale Gleichheit bedeutet Sicherheit in der „Großgruppe” Nation, Solidarität in einer Wertgemeinschaft, die prinzipielle Ranggleichheit der Menschen voraussetzt. In unserer Gesellschaft ist solche Ranggleichheit wesentlich durch ökonomische Größen und soziale Sicherheit bestimmt. Die soziale Verbindung von Freiheit und Gleichheit schließt Totalisierung aus, Politisierung aber ein: in dem Maße, in dem alle Bürger einer Nation in gleicher Weise frei sein sollen, müssen sie in gleicher Weise an der Gestaltung des Gemeinwesens teilnehmen können. Da inzwischen alle Bereiche auch der privaten Existenz von politischen Entscheidungen abhängig sind, erfüllt sich die Autonomie des Individuums in politischer Partizipation.
Ziel von alledem bleibt die Freiheit individueller Selbstverwirklichung. Der Sinn ökonomischer Homogenität erfüllt sich also nicht in sozialer Gleichförmigkeit, sondern in der Chance, als Person in einer Gruppe von Gleichen Identität zu finden. Identität der Person aber schließt völlige Gleichheit von „Individuen” gerade aus. Das politische Ziel einer humanen Gesellschaft ist Freiheit des Menschen unter seinesgleichen.

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Bei uns wird der Bauernkrieg vor 450 Jahren üblicherweise im Zusammenhang mit der Reformationsgeschichte nur am Rande behandelt… Wird solches und vieles andere einfach zugedeckt und vergessen, weil unser Grundgesetz jetzt gewährleistet, wofür Vorfahren gekämpft und gelitten haben? Dann wären es in der Tat nur fremde Siegermächte aus zwei Weltkriegen, die uns demokratisch gemacht haben. Unsere Demokratie kann aber nur dann Bestand haben, wenn wir uns demokratisch gemacht haben. Unsere Demokratie kann aber nur dann Bestand haben, wenn wir uns in sie hineinleben und der eigenen Wurzeln gedenken, die sie bei uns hat… Was uns not tut, wäre ein neuer Lessing der Freiheitsbewegung… Täglich hören wir von Freiheitsbewegungen in den verschiedenen Ländern… Deutsche Terroristen, die sich fälschlich zu Anwälten dieser Bewegungen ernennen, sind auch hier wirksame Helfer derer, die von Freiheitsbewegungen möglichst wenig höären mögen.

Gustav W. Heinemann bei der Verleihung des Lessing-Preises in Hamburg am 2. Oktober 1975

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