Themen / Sozialpolitik

Gleichheit der Menschen in jüdisch-christ­li­cher Überlie­fe­rung

17. April 1976

aus vorgänge Nr. 20 (Heft 2/1976), S. 67-74

Ungleichheit: horizental oder vertikal?

Die faktische Ungleichheit der Menschen ist die Ermöglichung ihrer ökonomischen, politischen und rechtlichen Ungleichheit – das liegt auf der Hand. Aber die Ermöglichung ist noch nicht eine Begründung und Rechtfertigung. Ungleichheit könnte horizontal, im Neben- und Miteinander von unterschiedenen Menschen, bestehen. Daß sie vertikal sich realisiert, in Über- und Unterordnung, in ungleicher Aneignung der Güter und Arbeitsprodukte, das bedarf der Legitimation durch eine Ideologie, die auch die am unteren Ende der Vertikalen Stehenden mit der hierarchischen Konsequenz aus der faktischen Ungleichheit einverstanden sein läßt oder wenigstens nicht-widerständig macht.

Die altori­en­ta­li­sche Königs­ideo­logie

Die Königsideologie der orientalischen Antike, also Ägyptens, der mesopotamischen Großstaaten und ihrer kleineren Vorgänger, erreichte das mit einer Abstammungsmythologie: die Ungleichheit beruht auf ungleicher Abstammung; die einen (die wenigen) stammen von oben, von den oberen Mächten (den Göttern, der Sonne), die anderen (die meisten) von unten, von der Erde. Der König als inkarnierter (Sonnen-)Gott besaß absolute Autorität und Macht; er personifizierte die Gesamtheit des Volkes und war dessen religiöser Vermittler zu den Göttern kraft seiner ontologischen Qualität als Abkömmling von oben. Ob diese Ideologie in den orientalischen Despotien überall und zu allen Zeiten gleichmäßig gelehrt wurde, ist strittig; daß sie vorhanden war als stärkster Ausdruck der Ungleichheit zwischen dem König samt seiner Sippe und den übrigen und damit die Devotion vor dem König bestimmte, dürfte sicher sein.

Das Volk Israel

Ein kleines Volk inmitten der so geprägten Umwelt hat sich gegen diese höchst eindrucksvolle, mit magischen und astrologischen Argumenten gestützte Anschauung verschlossen: das Volk Israel. Es hat jahrhundertelang versucht, ohne König auszukommen; charismatische Führer in Notzeiten genügten ihm. Als es schließlich seine Hemmungen überwand und sich einen König wählte, sprach es von ihm in eigenartig nüchterner Weise. Die alttestamentlichen Berichte vom israelitischen Königtum betonen, daß bei Saul wie bei David das Volk das König-machende Subjekt war; sie lassen keinen Zweifel über den profanen Charakter dieser Institution. Der König ist Mensch und nichts als Mensch. Daran ändert weder
seine Salbung etwas noch die kultische Funktion, die er auszuüben hat. Er ist ein fehlbarer Mensch – vom Gott Israels mit Dienstverpflichtungen gegenüber Gott und Volk beauftragt, deren Verletzung ihm göttliche Verwerfung zuziehen kann. Am deutlichsten wird das an der häufigen und sehr scharfen prophetischen Kritik an. verschiedenen Königen und an der Rechtfertigung der Revolution gegen den Salomo-Sohn Rehabeam (1).

Die Gleichheit aller Menschen im Alten Testament

Die dahinterstehende Grundauffassung von der prinzipiellen Gleichheit aller Menschen hat das Alte Testament durch eine kühne Umfunktionierung eines Ausdrucks aus jener Königsideologie offengelegt. Dieser Ideologie galt der König als das Ebenbild der Gottheit unter den Menschen. Der erste Schöpfungsbericht, entstanden während des babylonischen Exils im Umkreis dieser imponierenden Ideologie, nivelliert den Unterschied zwischen dem König und den Erdgeborenen, indem er jeden Menschen – und zwar ausdrücklich Mann und Frau – zum Ebenbilde Gottes erschaffen sein läßt. Der achte Psalm unterstreicht das, indem er anstelle des Gott-Königs den Menschen schlechthin von Gott unmittelbar unter die überirdischen Machtwesen gestellt sein läßt: „Du machst ihn wenig geringer als himmlische Wesen, und mit Ehre und Hoheit krönst du ihn. Du setzest ihn zum Herrscher über deiner Hände Werk” (Vers 6–7). „Mensch – das klingt groß!” – der Satz, den Maxim Gorki im Nachtasyl einen verwahrlosten Alten sprechen läßt, wiederholt dies (2).
Die grundsätzliche, geschöpfliche Gleichheit aller Menschen beschreibt der zweite Schöpfungsbericht (1 Mose 2,4 ff) im Gegenzug zu dieser hohen Bestimmung zum Ebenbilde Gottes als die Gleichheit der Staubgeborenen: der Mensch ist Erde, aus einem Erdenkloß geformt und wie alle anderen Lebewesen (vgl Psalm 104,29 f) durch Gottes Odem ins Leben gebracht; dann freilich wird auch hier die hohe Sonderbestimmung des Menschen erwähnt durch die Bemerkung, daß er in den Garten Eden gesetzt sei, um ihn „zu bebauen und zu bewahren” (wonach auch die Ermächtigung, sich die Erde „untertan zu machen”, im ersten Schöpfungsbericht zu verstehen ist!).
In Israels Geschichte hat es dann gesellschaftliche Ungleichheit der Menschen genug gegeben – wie überall: Herren und Sklaven, Reiche und Arme, Klassengegensätze, Zurücksetzung der Frauen. Aber immer blieb diese Überlieferung von der geschöpflichen Gleichheit der Menschen ein Stachel gegen die eingerissene Ungleichheit und wirkte mildernd auf das Los der Sklaven und Ausländer, gab dem Erwählungsbewußtsein die Richtung eines heilsamen Dienstes Israels für alle Völker und ließ nie – wie anderwärts in der antiken Sklavenhaltergesellschaft – eine metaphysische Rechtfertigung der Sklaverei oder einer absoluten Königsherrschaft zu (3).

Das Urchris­tentum

Das Urchristentum greift die Gleichheitsproklamation des israelitischen Glaubens auf und beantwortet sie mit radikaler Praktizierung. Für das Verhalten Jesu ist dies grundlegend. Besonders signifikant dafür sind die Frauen in seiner Umgebung — ein unmögliches Verhalten für einen Rabbi! – und die Festmähler mit Prostituierten, Bettlern und Landesverrätern, die allen Ausgeschlossenen die offene Tür zum Reiche Gottes symbolisieren und den „Gesunden” der Gesellschaft sagen sollen, nicht ihre Distanzierung von den „Kranken” der Gesellschaft sei die gottwohlgefällige Haltung, sondern allein ihr helfendes Dasein für diese Kranken (Matth 9,12). Der nachösterlichen Gemeinde ist die universale Bedeutung der Botschaft und der Person Jesu eine zentrale Erkenntnis.
Paulus hat das Verdienst, dies am tiefsten durchdacht und gegen alle Trennungen innerhalb der Menschheitsfamilie zur Geltung gebracht zu haben: Alle ohne Unterschied (Röm 3,23) sind nicht mehr das, wozu sie von Gott geschaffen wurden; alle bedürfen in ihrem Abstand vom sinnvollen Leben einer neuen, grundlegenden göttlichen Hilfe; für alle hat Gott in Christus sich aufgeopfert, „auf daß er sich aller erbarme” (Röm 11,32). Die Gleichheit aller Menschen bekommt hier ihre tiefstmögliche Begründung: nicht nur in der gemeinsamen Zugehörigkeit zur gleichen biologischen Spezies besteht sie, auch nicht nur auf Grund einer Anordnung des Schöpfers. Die Gleichheit der Menschen gründet entscheidend darin, daß der Schöpfer in der Menschwerdung, in dem Menschen Jesus sich ihnen allen und sie alle sich gleichgemacht hat — auch und gerade die an der untersten Stufe der Gesellschaft, da er sich den Sklaven gleichstellte (Phil 2,6 ff): indem er sich allen zum Bruder macht, macht er sie alle untereinander zu Brüdern.

Die Gleichheit aller im Leben der Gemeinde

Der bedingungslose Universalismus dieses „alle” durchzieht das paulinische Denken mehr, als es die immer wieder der göttlichen Liebe Bedingungen setzende Theologie der christlichen Konfessionen wahrhaben wollte. Praktisch bedeutete dies die Relativierung aller Trennungen zu abbauwürdigen, allenfalls nur noch vorläufig hinzunehmenden, und die Bestreitung der Legitimität irgendwelcher Privilegien auf der Basis von natürlichen Unterschieden der Beschaffenheit, der Volkszugehörigkeit und des Geschlechts. Im Leben der Gemeinden soll die Gleichheit aller konsequent praktiziert werden. „Hier gibt es nicht Jude noch Hellene, nicht Sklave noch Freier, nicht männlich oder weiblich, sondern ihr seid einer im Christus Jesus” (Gal 3,28) ist das Programmwort für das praktische Gemeinschaftsleben dieser kleinen Gruppen inmitten der vielfachen Zerrissenheiten der antiken Gesellschaften. Zwischen Juden und Nicht-Juden ist der „Zaun” weg (Eph 2,11 ff), Frauen und Sklaven sind gleichberechtigt mit Männern und Freien (4). Die Urchristenheit ist sich bewußt, mit solcher Lebensweise den ursprünglichen Schöpfungswillen Gottes, das Leben im künftigen Reiche Gottes antizipierend, den Trennungsdeformationen der Gesellschaft entgegenzusetzen. Sie erkennt und bezeugt in ihrer Praxis Gottes Willen als einen Willen der „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit” aller Menschen (5).

Anpassung und Spiri­tu­a­li­sie­rung

Das dauerte nur einen Augenblick. Schon die vorkonstantinische Christenheit, erst recht die Kirche nach der Erhebung des Christentums zur Reichsreligion hat sich dem Druck der bestehenden gesellschaftlichen Ungleichheiten angepaßt und diese legitimiert. Zwar ist — ähnlich wie in Israel — die ursprüngliche Gleichheitsproklamation nicht vergessen, sondern weiter gelehrt worden; sie hat auch moderierend auf die Trennungsverhältnisse gewirkt — weiterhin war jeder Mensch Adressat der evangelischen Botschaft, potentieller Empfänger der göttlichen Gnade durch die Mittel der Verkündigung und der Sakramente und Gegenstand christlicher Caritas —, aber das hat Rassismus, Sklavenhandel, Frauenunterdrückung und Ausbeutung nicht verhindert, und zwar deswegen nicht, weil infolge jener Anpassung die „Gleichheit vor Gott” spiritualisiert, d.h. religiös auf den Bereich des Glaubens, des Kultus und des Jenseits beschränkt, aber nicht mehr für das praktische Gemeinschaftsleben als Gleichheit unter den Menschen geltend gemacht wurde.

Luther: Gleichheit in der Kirche

Zum Ausgleich dieses Widerspruchs, zur Legitimation der bestehenden diesseitigen Ungleichheit bedurfte es theologischer Theorien, auf deren Produktion die Theologen aller Jahrhunderte sich gut verstanden. Ein hervorragendes Beispiel dafür ist Martin Luther, gerade weil er die evangelische Gleichheitsproklamation ernster genommen hat als die mittelalterliche Feudalkirche und damit trotz seiner Grenzen einen Platz in der europäischen Freiheitsgeschichte sich gesichert hat. Ihm wurde der Widerspruch zwischen der urchristlichen Botschaft und der kirchlichen Wirklichkeit deutlich, und er entschied sich für eine konsequente Bestreitung aller hierarchischen Ungleichheit in der Kirche. Antipäpstlich, antihierarchisch, antiklerikal lehrt er das „allgemeine Priestertum” aller Gläubigen, hebt den überkommenen Unterschied zwischen Laien und Klerus als Verstoß gegen den christlichen Glauben auf und statuiert, daß alle Christen gleich sind und ein gleiches, gemeinsames „Amt” haben: ihren Glauben in Wort und Tat zu bezeugen, so daß die verschiedenen „Ämter” in der Kirche nur den Charakter von Dienstfunktionen an diesem einen Amt haben. Denn Christus „kann und will in seiner Kirche kein Haupt noch Herrschaft leiden noch dulden, daß ein Mensch höher und besser sein wolle als der andere“ (6).

Luther: Ungleich­heit in der „Welt“

Kein Wunder, daß einige seiner Zeitgenossen, darunter die Bauern, auf den Gedanken kamen, wenn von der bisherigen Parallelität der zwei hierarchischen Systeme, des religiösen und des gesellschaftlichen, das eine auf den Grundsatz der Gleichheit gebracht werde, könne auch das andere davon nicht unberührt bleiben. Luther sah mit Schrecken diese mögliche Konsequenz und hat sie mit einer scharfen, immer neu wiederholten Unterscheidung von „Christi Reich” (= Kirche) und Weltreich zurückgewiesen — sieht man genau hin, mit bloßen Behauptungen über die Empirie: was in der Kirche möglich sei, sei in der „Welt” nicht möglich, und damit basta. Gegen den dritten der zwölf Artikel der Bauernschaft von 1525, der die Aufhebung der Leibeigenschaft forderte, schreibt er: „Es will dieser Artikel alle Menschen gleich machen, … welches unmöglich ist. Denn weltlich Reich kann nicht stehen, wo nicht Ungleichheit ist in Personen, daß etliche frei sein, etliche gefangen, etliche Herrn, etliche Untertan“ 7 — und kurz und bündig: „Die Leibeigenschaft ist nicht wider das christliche Wesen, und wer es sagt, der lügt“ (8).

Theolo­gi­sche Legimi­tie­rung der gesell­schaft­li­chen Ungleich­heit

Dabei ist charakteristisch, wie die verschiedensten Ungleichheiten — die biologischen, physischen, intellektuellen und die gesellschaftlichen — durcheinandergemengt werden mit dem einen Ziel, die letzteren, die abschaffbaren, den ersteren, den unabschaffbaren, gleichzusetzen und durch diese zu legitimieren: „Unterschied kann man nicht entbehren; es muß einer gelehrt, klug, Regent, Herr sein, können nicht alle gleich sein, das ist wahr. Die Ungleichheit muß stehen. Ein Mann ist stärker denn ein Weib, ein Junges ist schöner denn ein Altes; ein Alter klüger denn ein Junger“ (9). Wie hier Theologie zur Rechtfertigungsideologie des Bestehenden wird, ist mit Händen zu greifen, schon an den Inkonsequenzen und Widersprüchen. Weder erklärt Luther, wieso in der Kirche möglich sein soll, was in der Welt unmöglich ist (was ihm die Altgläubigen damals natürlich sofort entgegengehalten haben), noch läßt er uns wissen, wieso seine Behauptung, Gott habe diese gesellschaftlichen Unterschiede (die „Stände”) „geschaffen”, auf besseren Füßen stehe als die katholische Behauptung, Gott habe auch die Unterschiede der kirchlichen Hierarchie angeordnet. Ignoriert wird der Unterschied zwischen gesellschaftlich notwendiger Arbeitsteilung und der Teilung in unterschiedliche Aneignungsformen der irdischen Güter. Das Amt des Fürsten wird mit schönen, auch für heutige Machthaber beherzigenswerten Worten in seiner Dienstfunktion begründet (10), aber Luther vergißt dabei, daß er das gleiche bei den kirchlichen Ämtern gesagt hat; sind diese als Dienste zu verstehen, die keinen Anspruch auf Besitz- und Herrschaftsprivilegien geben, wieso dann nicht ebenso die weltlichen Ämter? Daß bei diesen noch die Verwaltung der gesellschaftlichen Gewalt (Polizei, Militär) als Unterschied zu den kirchlichen hinzukommt, hat Luther (gegen die damalige kirchliche Sonder-Justiz und die geistlichen Territorialfürsten) mit Recht hervorgehoben; aber auch mit der Gewaltverwaltung lassen sich die Privilegien nicht begründen.

Luthers verhäng­nis­volles Vermächtnis

Auf Luther wird deshalb so ausführlich eingegangen, weil seine Theorie der Unterscheidung der Gleichheit im religiösen und der Ungleichheit im profanen Bereich im deutschen Protestantismus bis heute bestimmend blieb, und weil sie zeigt, wie eine großartige Erkenntnis von emanzipatorischer Bedeutung um ihre Wirkung gebracht werden kann, wenn ihre gesellschaftlichen Konsequenzen geleugnet werden. Luther ist zuerst überwältigt von seiner herrlichen Erkenntnis, trägt sie rücksichtslos, ja, revolutionär vor gegen die kirchliche Ordnung, die ein so wichtiger und ideologisch tragender Teil der Gesellschaftsordnung war –, und bekommt durch das Auftreten „linker” reformatorischer Gruppen (der sogenannten „Täufer”) und besonders durch den Schock des Bauernkrieges einen solchen Schrecken vor den weltlichen Konsequenzen seiner Erkenntnis, daß er nur noch bemüht ist, die Ungleichheiten der „weltlichen Ordnung” vor diesen Konsequenzen abzuschirmen. Die evangelische Freiheit und Gleichheit muß gesellschaftlich folgenlos bleiben: das ist sein verhängnisvolles Vermächtnis.

Hiera­r­chi­sche Ordnung in der Luthe­ri­schen Kirche

Da die Kirche aber nicht im Himmel, sondern auf Erden ist, konnte es nicht anders sein als daß, sobald sich die neue Glaubensgleichheit nicht offensiv gegen die gesellschaftlichen Ungleichheiten wendete, diese auf die kirchliche Gleichheitsproklamation entstellend zurückwirkten: die hierarchische Ordnung der Kirche war auch im lutherischen Bereich nur theologisch, nicht aber praktisch gebrochen; eine Kirche ohne herrschaftliche Machtpositionen, mit demokratischen Formen und wirklicher Gleichberechtigung aller Glieder blieb ein Traum, der erst nach 1918, nach der Trennung von Kirche und Staat, reale irdische Gestalt anzunehmen wenigstens begann, und zwar unter dem Einfluß demokratischer Strömungen, die von der lutherischen Seite (mit abnehmendem Erfolg) bekämpft wurden im Namen des nach Luther angeblich von Gott selbst angeordneten, statischen Unterschieds der beiden Reiche.

Ideolo­gi­sche Recht­fer­ti­gung der Privi­le­gien­ge­sell­schaft

Die ursprüngliche biblische Gleichheitsproklamation kann also nur entweder offensiv und gesellschaftskritisch aufgerichtet werden – oder sie wird so aufgelöst, wie es bei Luther exemplarisch zu sehen ist: statt der geschöpflichen Gleichheit, die jenen biblischen Texten wichtig ist, wird ihm unversehens die geschöpfliche Ungleichheit wichtig zur Legitimation der gesellschaftlichen Ungleichheit (11). Insofern ist jene anfangs erwähnte orientalische Königsideologie nur der schärfste Ausdruck einer übereinstimmenden Grundideologie, die zur Bekämpfung des Zieles einer egalitären Gesellschaft nötig ist: die hierarchische Privilegiengesellschaft sei allein der Realität gemäß, weil diese Realität nach dem Willen Gottes, der Natur, des Schicksals (oder welche letzte Instanz man dafür anführen will) aus Ungleichheit besteht, an der jeder Egalitarismus scheitern werde. Ob amerikanische Anthropologen die Neger als spätere Produkte der Entwicklung von den Hominiden zum Homosapiens und deshalb mit geringerer Intelligenz begabt ansehen – oder ob bei uns Bildungspolitiker den Klassencharakter der dreistufigen Ausbildung mit Berufung auf die natürlichen Begabungsstufen rechtfertigen: dies alles sind nur verschleierte Abwandlungen der Denkweise, die in jener Königsideologie zum Ausdruck kommt und gegen die die biblische Gleichheitsproklamation den schärfsten Protest darstellt.

Gleichheit – nicht Unter­schieds­lo­sig­keit

Was aber heißt hier „Gleichheit”? Natürlich nicht die absurde Behauptung: alle Menschen seien gleich, d.h. ohne Unterschiede. Im Gegenteil, die Ungleichheit der Individuen wie der ethnischen Gruppen, der beiden Geschlechter wie der vielen Kulturen ist der Reichtum des Menschseins, und zu ihm gehört auch die Ungleichheit nicht nur der Arten, sondern auch der Stufen von Begabung und Ausrüstung für den Lebenskampf, also von Stufen der Intelligenz, der Körperkraft, der Gesundheit usw. Gerade diese Stufen-Ungleichheit von Starken und Schwachen macht uns aufeinander angewiesen, und sie verspricht uns den Reichtum des Lebens gerade dann, wenn wir nach dem erwähnten Worte Jesu unsere (physische, moralische usw.) Gesundheit und Kraft in den Dienst des Kranken und Schwächeren stellen.
Die Gleichheit, um die es sich in unserem Zusammenhang handelt, bezieht sich gerade auf diese Ungleichheit. Sie besagt als Grundsatz der jüdisch-christlichen Überlieferung: jeder, der Menschenantlitz trägt, ist in gleicher Weise von Gott geliebt und vor Gott verantwortlich (12); er hat deshalb in gleicher Weise ein Recht zu leben, nicht nur zu vegetieren, sondern wirklich zu leben, sich zu entfalten und sich seines Daseins zu freuen; er hat damit in gleicher Weise Anspruch auf unsere Hilfe zu solchem Leben und ist in gleicher Weise aufgefordert, durch Einsatz seiner besonderen Möglichkeiten in der Hilfe für andere den Reichtum seines Lebens zu finden.
Das hat die christliche Kirche von jeher gut gepredigt. Indem sie aber selbst mit dem Gesellschaftssystem ungleicher Privilegien verflochten war und ihre Predigt auf das Individuelle beschränkt hat, statt sie in einem solchen System gesellschaftskritisch werden zu lassen, hat sie ihrer Predigt die gesellschaftsverändernde Kraft geraubt und durch theologische Theorien, wie z.B. die lutherische, die Privilegiengesellschaft vor diesem Sprengstoff ihrer eigenen Verkündigung bewahrt.

Die Gleich­heits­pro­kla­ma­tion: Heraus­for­de­rung unserer Phantasie

Die Folge davon ist die Beschränkung der Phantasie. Luthers Behauptungen von der Unmöglichkeit des Abbaus der gesellschaftlichen Ungleichheiten sind alle durch die seitherige Entwicklung widerlegt. Die Gleichheitsproklamation ist eine Herausforderung unserer Phantasie: eine egalitäre Gesellschaft zunächst einmal uns vorzustellen, zu wünschen, also als Utopie zu entwerfen, dann diese aber nicht im Jenseits des Wunschtraumes zu lassen, sondern als Kriterium für die Beurteilung unserer Verhältnisse einzusetzen, die Hindernisse der Realisierung nüchtern und genau zu analysieren und die abschaffbaren Hindernisse (historisch gewordene Besitz- und Leistungsprivilegien) von den nicht-abschaffbaren (Arbeitsteilung, Begabungsverschiedenheit, eingewurzelte Neigung, aus den verschiedenen Begabungen persönliche Vorteile zu ziehen und auf Kosten der anderen zu leben — biblisch „Sünde” genannt) zu unterscheiden, die Auswirkung der letzteren auf die Gestaltung der gesellschaftlichen Ordnung soweit wie möglich zu beschränken und die Entwicklung der Produktivkräfte für die Annäherung an das Ziel auszunützen. Es wird vermutlich immer nur eine Annäherung sein, ständig gefährdet durch die Wirkung der nicht-abschaffbaren Hindernisse. Aber wer Phantasie genug hat, unter den allseitigen Deformationen der Ungleichheitsgesellschaft zu leiden, der wird nicht nur im persönlichen Leben die Gleichheit des Lebensrechtes seiner Mitmenschen ernst nehmen, sondern mit dem Ziel ihrer gesellschaftlichen Realisierung sich an die politische Arbeit machen.

Verweise:

1 Vgl Martin Noth, „Gott, König, Volk im Alten Testament”, in: Gesammelte Studien zum Alten Testament, München 1957, 188—229.
2 Hans J. Kraus (Die Psalmen, I, Neukirchen 1960, 73) stellt dagegen die „zwei Grundzüge” der altorientalischen Anthropologie: „1. Mensch im Vollsinne ist allein der König… 2. Der Einzelmensch tritt hinter dem König völlig zurück.”
3 Noth, aa0, 213: „Dieses Wissen aber ließ eine Auffassung vom Königtum als einem Element einer zeitlos gültigen göttlichen Weltordnung schwerlich zu.”
4 „Das Weib schweige in der Gemeinde” hat Paulus nie geschrieben. Die Verse 1 Kor 14, 34—36 sind nach überwiegender Ansicht der heutigen neutestamentlichen Wissenschaft die Glosse eines späteren Abschreibers. Daß allerdings diese Glosse für nötig gehalten wurde und dann in den Text hineinglitt und als apostolische Anordnung weiterwirkte, ist bezeichnend für die offenbar bald nach Paulus einsetzende Entwicklung.
5 „Im Grunde genommen ist das Verstehen des anderen schon in die Welt gekommen durch das Christentum, durch jene Lehre, welche bei den unerhörtesten Verschiedenheiten der Stände, bei dem unerhörtesten Abstand des Machtkreises der einzelnen Individuen in der antiken Welt, bei diesen ungeheuren Gegensätzen des Zeitalters der Sklaverei gepredigt hat die gleiche Gotteskindschaft aller Menschen, die also eine revolutionäre Gleichheitsvorstellung in die Menschen gepflanzt hat — durch das Christentum, das diesen Satz aufgestellt hat als Zeichen, daß, welche Gegensätze die Gesellschaft im einzelnen auch immer zerreißen mögen, die Gemeinsamkeit des Menschlichen alles andere überwinde.“ Karl Renner, zitiert bei: Ludwig Reichhold, Christentum —Gesellschaft—Sozialismus, Wien 1969, S 5.
6 Erlanger Ausgabe der Werke Luthers (EA) 44,2. Ich zitiere die EA nach der Zitierung von Friedrich Lezius in seinem Aufsatz „Gleichheit und Ungleichheit. Aphorismen zur Theologie und Staatsanschauung Luthers”, in: Greifswalder Studien (Festschrift für Hermann Cremer), Gütersloh 1895, 285—326. — Lezius (1859—1927) war ein konservativer baltischer Theologe, der 1914 die ausschweifendsten Annektionsziele für den Ersten Weltkrieg zu Papier gebracht hat; er findet sich mit Luther in der patriarchalischen Ablehnung der Demokratie.
7 EA 24, 282.
8 EA 35, 233.
9 EA 20 II, 293; vgl EA 1, 204: „Ein Fürst ist eine andere Person denn ein Prediger, eine Magd eine andere Person denn ihre Frau, ein Schulmeister eine andere Person denn ein Bürgermeister… Solche Ungleichheit muß bleiben.” — EA 1, 199: „Für die Welt muß die Ungleichheit bleiben, daß der Vater mehr sei denn der Sohn; der Herr mehr denn der Knecht; daß ein König und Fürst mehr sei denn seine Untertanen. Das will Gott also haben, der hat die Stände also geordnet und geschaffen. Wer da wollte eine Gleichheit machen, daß der Knecht soviel gelten sollte als sein Herr, die Magd soviel Gewalt haben als ihre Frau, ein Bauer soviel als sein Fürst, der würde ein sehr löbliches Regiment anrichten, wie man an den aufrührerischen Bauern gesehen hat.” — EA 4, 294: „Item, da soll der Herr im Hause mehr Güter haben denn sein Knecht, und muß doch der Knecht mehr arbeiten denn der Herr. Solche Ungleichheit muß in der Welt Reich sein und bleiben.”
10 Vgl EA 1,328: „Könige und Fürst… wollen sie Christen sein, so müssen sie auch ihren Untertanen die Füße waschen. Denn Gott hat sie in solchen hohen Stand nicht gesetzt, daß sie allein ihre Pracht führen, ihre Wollust suchen und tun sollen, was sie gelüstet, sondern mit allen Gaben, die sie haben, sollen sie ihren Untertanen dienen.”
11 Vgl dazu den guten Überblick bei Helmut Brackert, Bauernkrieg und Literatur, Ed Suhrkamp 782, 1975, Kap II.
12 Im Gegensatz dazu der Hochmut des Zivilisationsmenschen in dem Wort von Ernest Renan: „Ich sehe nicht die Notwendigkeit, daß ein Papua unsterblich sein soll.” Der liberale Bürger reicht  seinen rassistischen Hochmut weiter an Hitler, der in seiner Kulturrede auf dem Nürnberger Reichsparteitag 1938 sagte, der Unterschied der niederen Menschenrassen zu den höheren sei größer als ihr Unterschied zu den Affen.

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