Themen / Sozialpolitik

Gleichheit — Postulat und Realität

17. April 1976

aus vorgänge Nr. 20 (Heft 2/1976), S. 75-85

Erfolge und Rückschläge

Jahrtausendelang war die Geschichte des Menschen nicht viel mehr als  eine Geschichte der Ungleichheit, Unfreiheit und Herrschaft. Laut und vernehmlich ertönte der Ruf nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit erst im 18. Jahrhundert. Die großen Revolutionen von 1776, 1789, 1848, 1917 schienen dann ein neues Zeitalter der Gleichheit einzuläuten. Fast jede Revolution schlug aber früher oder später in die offene oder schleichende Gegenrevolution um, auf jeden Vorstoß der Gleichheit folgte ein Rückschlag. Schien das 20. Jahrhundert noch angetreten, um der Gleichheit zu ihrem Endsieg zu verhelfen, so gab allzubald die enthusiastische Erwartung den Zweifel oder gar der Verzweiflung Raum. Heute ist die Frage, ob aus der Krise unserer Gesellschaft neue Inhalte und Formen der Gleichheit hervorgehen werden oder ob die Krise sich als das Vorspiel eines Zeitalters neuer Ungleichheit und Unfreiheit erweisen wird.

Dispen­sie­rung des Gleich­heits­-­Pos­tu­lats?

Viel spricht für einen negativen Ausgang. Zu den besonders beunruhigenden Symptomen gehört, daß die großen sozialen Bewegungen, die in den Industrieländern Träger egalitärer Forderungen waren, nach bescheidenen Teilerfolgen erschlafft sind. Obwohl es ihnen nicht gelungen ist, der Gleichheit in der Politik, von der Ökonomie und Kultur ganz zu schweigen, zu einem entscheidenden Durchbruch zu verhelfen, ist von Gleichheit heute immer weniger die Rede. So fehlt dieses Postulat sowohl im Godesberger Programm der SPD wie im Grundsatzprogramm des DGB von 1963.
In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UN von 1948 wird zwar das Recht auf Gleichheit erwähnt; in den Vereinten Nationen berufen sich auch gerade die schwächeren Staaten auf das Prinzip der Staatengleichheit. Erfolge in dieser Richtung bewirken aber keineswegs unmittelbar und oft nicht einmal mittelbar größere Gleichheit für die Bürger innerhalb der betreffenden Staaten.

„Kommu­nis­ti­sche“ Ungleich­heit

Die Oktoberrevolution wie die chinesische Revolution hatten zunächst  im Zeichen der Gleichheit gesiegt — charakteristisch für die etablierten  kommunistischen Regimes von heute ist aber nicht nur das Verkümmern der Freiheit, sondern auch das Schwinden der Gleichheit im politischen Bereich; besonders in der Wirtschaft sind die Ungleichheiten seit Jahr und Tag merklich angewachsen und das nicht nur in der Sowjetunion, in der DDR oder Ungarn, sondern sogar auch schon in China und Albanien. Crane Brinton hatte 1931 behauptet, wachsende Standardisierung sei von abnehmendem Egalitarismus begleitet. Santayana hatte damals erklärt, niemals seien die Menschen einander so gleich gewesen und doch so zerstritten. Beide dürften recht behalten haben.
Diese Entwicklung kann sicherlich nicht einfach als Betriebsunfall der Revolution oder Versagen böser Führer abgetan werden. Vielmehr steckt im Postulat der Gleichheit selber ein immanenter Widerspruch: Die Menschen mögen sich mehr gleichen als man lange Zeit zuzugeben bereit war – sie sind und bleiben aber zugleich in nicht unwichtigen Aspekten ungleich. Hinter den verschiedenartig ausgeformten historischen Ungleichheiten, die durchaus ernstzunehmen sind, lauern in der Natur angelegte latente Unterschiede des Geschlechts und des Alters, der Charakterstruktur und des Temperaments. Diese Unterschiede mag man in einem schwierigen Prozeß der Egalisierung abbauen. Ein solcher Prozeß muß aber von einer nach Gleichheit strebenden Bewegung von Einzelnen, Gruppen, Organisationen getragen sein. Wir sprechen dabei bewußt von Bewegung, insofern sich eine solche aktiv gegen überlieferte Haltungen und Vorurteile, Tabus und Dogmen, Interessen und Institutionen der Privilegierten wie aber auch (und das ist ein weiteres ernstes Hindernis!) nicht selten der von diesen mitgeprägten Unterprivilegierten richtet. Da jene wie diese in der Regel passiv oder aktiv, gewaltlos oder gewaltsam Widerstand leisten, scheinen nur Reglementierung und Manipulierung, versteckte oder sogar offene Gewalt Abhilfe schaffen zu können.

Egali­sie­rende Gewalt und neue Privilegien

Daß solche Kampfmittel ausschließlich von den Unterprivilegierten gegen die Privilegierten angewandt und sofort aufgegeben werden, sobald die Privilegien beseitigt sind, wäre an sich denkbar, obwohl auch schon das in der Regel mit viel Blut und Leid verbunden wäre. Bei solchen Unkosten bleibt es aber meist nicht. Allzu oft schießt die egalisierende Gewalt über ihr Ziel hinaus, schafft sie neue Ungleichheiten und Privilegien. So bilden sich innerhalb der für Gleichheit kämpfenden Bewegungen neue Abstufungen und Ränge, institutionalisieren sich bald neue Hierarchien. Die „Ehemaligen” werden zum Teil integriert; vor allem aber tendiert die Gewalt dahin, sich in den Händen der Neureichen, der neuen Potentaten, der neuen Funktionäre und Führer zu konzentrieren. Eine Beschränkung der neuen Privilegierten mag zunächst nur auf Kosten von deren Freiheiten gehen – insofern aber die Freiheit unteilbar ist, trifft das dann auch allzu leicht die anderen. Ökonomische Gleichheit, die durch Machtkonzentration in der Politik, in den Informationsmitteln usw realisiert wird, schafft bald neue Unfreiheit und Ungleichheit. Diese ließen sich abbauen, wenn Gewalt und Herrschaft hinter gewaltfreier Aktion und funktionaler Führung zurückträten, wenn Gleichheit und Freiheit in Brüderlichkeit und Unfreiheit aufgingen. Nur setzt das sowohl neue Gesellschaftsstrukturen wie aber auch neue Menschen voraus. Aldous Huxley hat in seiner letzten großen Utopie Eiland eine solche Gesellschaft mit neuen humanen Institutionen und mit neuen Menschen so plastisch geschildert, daß man ihre Verwirklichung nicht für unmöglich halten möchte.

Wirtschaft­liche Ungleich­heit

Zunächst sei hier aber einmal kurz skizziert, in welchen Bereichen heute Wirtschaftliche die Ungleichheit besonders kraß in Erscheinung tritt. Es geht zunächst um  die Wirtschaft. Wir werden dabei sehen, daß gerade in dieser Sphäre eine weitere Egalisierung möglich und sinnvoll ist. Selbst in den reichsten Industrieländern ist der Graben zwischen reich und arm keineswegs zugeschüttet. Hier wie auf dem Weltmarkt herrscht immer noch eine Ordnung vor, die man mit den Kürzeln Sozial-, Monopol- und Rüstungskapitalismus kennzeichnen kann.
Der Exxon-Gewinn (in der BRD Esso genannt) wurde für 1973 auf 2,4 Milliarden, für 1974 auf 4 Milliarden Dollar geschätzt. An der Spitze der Umsatzliste in den Vereinigten Staaten lagen 1969 General Motors mit fast 23 Milliarden, Standard Oil und Ford Motor Co mit je 14 Milliarden Dollar. General Motors ist auch der größte der 13 Superriesen – Multinationale Korporationen, die alle einen Jahresumsatz von über 20 Milliarden DM erreichten. In Westdeutschland lagen 1974 die August-Thyssen-Hütte, BASF und Höchst mit je über 20 Milliarden DM Umsatz vorn. Die 104 Spitzenunternehmen hatten zusammen einen Umsatz von 463 Milliarden DM; sie beschäftigten 3,73 Millionen „Arbeitnehmer”. Das Bilanzsummentotal der 100 größten Geschäftsbanken der Welt belief sich 1968 auf über 2 Billionen DM, was etwa 60% des amerikanischen Bruttosozialproduktes entsprach. Die Konzentration von Kapital und Macht wird gelegentlich von kapitalistischer Seite offen zugegeben – so in Christ und Welt am 4.9.1964: „Die totale Macht der 100 Männer – 425 börsennotierte Gesellschaften werden von den Banken beherrscht.” 1971 kam das Wirtschaftswissenschaftliche Institut (WWI) des DGB zu der Schlußfolgerung, 88 Konzerne und Großunternehmen hätten rund 50% des Industrieumsatzes und damit den dominierenden Einfluß auf den Wirtschaftsablauf. Ginge diese Entwicklung weiter, so würden wir nach der Berechnung amerikanischer Computer im Jahre 2.000 von 175 amerikanischen sowie von 125 europäischen und japanischen Großfirmen beherrscht werden.

Reich und arm in der BRD

Den Gegensatz von reich und arm hat der Spiegel, 28. 7. 69, sehr plastisch geschildert: 

„Rund 2380 westdeutsche Unternehmer und Kapitaleigner hatten 1965 ein Monatseinkommen von durchschnittlich je 190000 DM. Im gleichen Jahr verdiente ein Drittel der Lohn- und Gehaltsempfänger höchstens DM 500, binnen 12 Monaten soviel wie die Millionäre in 23 Stunden. Deutschlands Kaufhäuser zahlten ihren Vorstandsmitgliedern 1967 höhere Gehälter als alle anderen Branchen, im Monat durchschnittlich DM 45.304. Unterhalb der getäfelten Vorstandsetagen aber arbeiteten in Kaufhäusern die am schlechtesten bezahlten Angestellten der Bundesrepublik. Ihr durchschnittliches Monatsgehalt betrug DM 1014. Das strichen die Herren aus dem Top-Management alle fünf Stunden ein. Insgesamt 15247 Bundesbürger mußten 1966 Vermögen mit mehr als einer Million DM versteuern. Allein Westdeutschlands 34 reichste Männer zogen aus ihrem Besitz Jahreseinkommen von jeweils mehr als 10 Millionen Mark. Diese kleine Gruppe, zu der die Industriellen Friedrich Flick und Herbert Quandt, der Presse-Tycoon Axel Springer und die Feudalsippe derer von Thurn und Taxis zählen, meldete den Finanzämtern 1963 ein Gesamteinkommen von rund 680 Millionen Mark, genau doppelt so viel wie die 29000 Arbeiter und Angestellten der August-Thyssen-Hütte AG in Duisburg-Hamborn zusammen. Fast die Hälfte aller westdeutschen Haushalte konnte bis 1961 von ihrem Arbeitslohn noch nicht einmal DM 2.000 zurücklegen. Der Betrag reicht gerade aus, die Beerdigungskosten des Ernährers zu decken. Rund drei Millionen Familien mit fast 9 Millionen Angehörigen besitzen nichts außer einem bißchen Hausrat und ihrer Garderobe.“

In Nordrhein-Westfalen ist die Zahl der Millionäre 1969—1972 von 5.745 auf 6.678 angewachsen. In der ganzen BRD waren es 1960 7800, 1966 14.000. In der Bundesrepublik gehörten 1960 35% des gesamten Privatvermögens 1,7% aller Haushalte, die restlichen 65% gehörten dagegen 98,3% der Haushalte. Die 1,7% mit über einem Drittel des Vermögens besaßen zudem 70% des ertragreichen Kapital- und Betriebsvermögens. Auf weniger als 1% entfiel mehr als 25% des gesamten Betriebs- und 43% des gesamten privaten Kapitalvermögens. Ein Promille aller Haus-halte verfügte gleichbleibend von 1935—1969 über 14% des gesamten Volksvermögens. Natürlich besitzen heute „Arbeitnehmer”, angefangen vom Arbeiter bis zum höchsten Beamten, Wertpapiere: 18% im Gegensatz zu 30% der Selbständigen, bei denen der Durchschnittswert des Papiers ca 42.204 DM beträgt, während er bei den Arbeitnehmern bei 11.338 DM liegt.

Einkom­mens­ver­tei­lung

Ähnlich ungleich ist die Einkommensverteilung. Zwar soll sich das Nettoeinkommen eines Arbeitnehmers, in stabiler Kaufkraft gemessen, von 1925 bis 1972 von 312 DM monatlich auf 1.060 DM etwa verdreifacht haben. Die Einkommen der Selbständigen nehmen aber relativ stärker zu. Wie das D WI 1973 herausfand, standen 1970 einem selbständigen Haushalt monatlich rund 1850 DM mehr zur Verfügung als 10 Jahre zuvor, ein Arbeitnehmerhaushalt hatte im gleichen Zeitraum nur einen Zuwachs von DM 800. Erklärt wird das unter anderem mit der Zunahme der Steuerlastquote und des Anteils zur Sozialversicherung der Arbeitehmer, während die Steuerlastquote der Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen fast unverändert blieb. Nach einer Studie des Statistischen Bundesamtes von 1974 sind die Privateinkommen aus Unternehmertätigkeit 1960–1972 um 111% von 67 Milliarden auf 141 Milliarden DM gestiegen, die Vermögenseinkünfte der privaten Haushalte um 383% von 6 auf 28 Milliarden DM. Beide Einkommensarten zusammen sind um 133% von 72 Milliarden auf 169 Milliarden DM gestiegen. Dagegen haben sich die Einkommen aus unselbständiger Arbeit um 207% erhöht. Entscheidend ist aber, daß in diesem Zeitraum die Zahl der Selbständigen um ein Drittel zurückgegangen, die der Arbeitnehmer hingegen um 10% gestiegen ist.
Der Spiegel hatte bereits auf die hohen Gehälter von Topmanagern verwiesen. 1972 bezog ein Vorstandsmitglied bei Karstadt fast 600000 DM pro Jahr, ein Regieassistent beim Film oder Fernsehen etwa DM 8400. Das Nettogehalt der westeuropäischen Topmanager variierte 1970 zwischen DM 94700 in Frankreich, DM 78000 in der BRD und DM 50200 in Holland.

Armut in der „Wohl­stands­ge­sell­schaft“

Daß es nach wie vor auch in den hochindustrialisierten Ländern Massenarmut gibt, wird meist vergessen. Selbst in den reichen USA, wo 6% der Weltbevölkerung über 60% aller Güter- und Rohstoffquellen verfügen, leben seit Jahren nach einer sehr vorsichtigen Schätzung über zehn Millionen Menschen unter der amtlich festgesetzten Armutsgrenze und 18 Millionen in abbruchreifen Häusern. Nach anderen Schätzungen müssen bis zu 25% oder gar 30% als arm angesehen werden.

Und das vielgerühmte Wirtschaftswunderland Bundesrepublik? Nach einem Sozialbericht der Bundesregierung von 1970 lag das Nettoeinkommen von 25% aller Arbeiterhaushalte unter DM 800 im Monat. Dem rheinland-pfälzischen Sozialminister Heinrich Geißler zufolge lagen 1974 rund zwei Millionen Haushalte mit 5,8 Millionen Menschen unter den Bedarfssätzen der Sozialhilfe. Sie waren also arm! Fast drei Millionen Haushalte mit sechs bis neun Millionen Menschen leben laut Albert Vietor von der Neuen Heimat in „düsteren Slums”. 1970 hatten sieben Millionen, dh mehr als ein Drittel aller Wohnungen, weder Bad noch Dusche. In jeder vierten Wohnung fehlte die Toilette. Über die Existenz von 1,3 Millionen Rassehunden sind wir genauestens informiert (in Florida wurde 1972 ein Testament für rechtsgültig erklärt, wonach 81 Hunde 18 Millionen Dollar erbten!) – keiner kennt die genaue Zahl der Obdachlosen. Man schätzt, daß über eine halbe Million Menschen in Obdachlosenasylen hausen und 300 000 als Landstreicher in der Bundesrepublik von Ort zu Ort gejagt werden. Besonders benachteiligt sind die etwa 300000 Kinder und Jugendlichen.

Die Dritte Welt

All das ist natürlich noch „nichts” verglichen mit dem Elend in der Dritten  oder besser Zwei-Drittel Welt, das wiederum nur die eine Seite der krassen Ungleichheit in den Lebensbedingungen zwischen Nord und Süd darstellt. Wir können hier auf die Not und den Hunger in den sogenannten Entwicklungsländern kaum eingehen. Es ist auch wohl einigermaßen bekannt, daß zB die Hälfte der Weltbevölkerung unterernährt ist und daß jährlich an die dreißig Millionen am Hunger oder dessen Folgen sterben. Zugleich vernichten wir in den reichen Ländern Gemüse und Obst, denaturieren Weizen zu Futtergetreide, geben Butter in die Seifenfabriken oder verwenden sie als Viehfutter. Am trostlosesten ist wohl der Umstand, daß trotz allen Aufrufen und Ermahnungen, Reden und Beschlüssen die Kluft zwischen den reichen und armen Ländern wächst. (Siehe dazu den Aufsatz von Udo Ernst Simonis „Armut, Unterbeschäftigung und soziale Ungleichheit in Asien und Afrika” in Nr 17 der Vorgänge.)
In 17 lateinamerikanischen Ländern schwankt der Anteil jener, die im Jahr pro Kopf 70 oder weniger Dollar verdienen, zwischen 11 und 17% — so ein Bericht des Wirtschafts- und Sozialrats der UN von 1975. Von den rund 580 Millionen Indern leben 365 Millionen unterhalb der Armutsgrenze; ihr Einkommen pro Kopf und Jahr liegt unter $ 75. Doppelt getroffen sind die Kinder in den armen Ländern. Von den 54 Millionen unter 14 Jahren, die arbeiten müssen, leben 52 Millionen in der Dritten und Vierten Welt. In Sao Paulo sterben jährlich 5000 Kinder unter fünf Jahren an Unterernährung. Aber auch über 800 Millionen Erwachsene — die Mehrzahl in Asien, Afrika und Lateinamerika — sind Analphabeten.

Entwicklungshilfe?

Leisten wir aber nicht reichliche Entwicklungshilfe? Daß es damit nicht so weit her ist, dafür nur eine Zahl: Die echte Entwicklungshilfe kostet jeden Bundesbürger pro Tag den Preis einer halben Zigarette. Dabei wurden immerhin im Jahre 1971 von jedem Bundesbürger im Durchschnitt über 2000 Zigaretten geraucht. Während 1959/60 „nur” 19 Milliarden DM verraucht und vertrunken wurden, betrug diese Zahl 1971 schon 40 Milliarden. Für Blumen gaben wir jährlich über 4 Milliarden aus. Werbung kostete 1969 18 Milliarden DM, 1974 in den USA 58 Milliarden DM und weltweit 92 Milliarden DM. In dieses Bild paßt, daß unsere Großen Unsummen für Pressebälle, Empfänge, Festessen usw ausgeben — nicht selten auf Kosten der Steuerzahler.

Ungleich­heit in Staat und Gesell­schaft

Demokratien rühmen sich, daß in ihnen die Gleichheit zumindest in Staat und Recht vorherrscht. In der Tat, im politischen Bereich genießen die Massen nach jahrzehntelangen Kämpfen mehr Freiheit und Gleichheit als in den Oligarchien alten Stils oder den Autokratien neuesten Datums. Aber noch immer bleibt auch in den Demokratien die Gleichheit eng begrenzt und die Freiheit ernstlich bedroht. Der Einfluß von Plutokraten, Bürokraten, Technokraten durchdringt alle Bereiche des öffentlichen Lebens.
Mit dem Abbau demokratischer Freiheiten und der Machtzunahme der staatlichen Exekutive und Bürokratie vermindert sich auch der Spielraum für die Gleichheit zwischen Bürger und Obrigkeit. In Verband und Verwaltung, Presse und Justiz, Partei und Parlament hat derjenige, der über Besitz und Bildung, Information und Kontakte verfügt, unvergleichlich mehr Möglichkeiten oder sogar Machtpositionen als der einfache Bürger, Bauer oder Arbeiter.
Nach dem WWI des DGB treffen wenige Hundert Personen, die mit den Großunternehmen und Konzernen, den Großbanken und den großen Kapitaleigentümern in Verbindung stehen, die wichtigsten Entscheidungen in den kapitalorientierten Verbänden, in bestimmten Parteien, in der Staatsbürokratie, in der Publizistik sowie im Erziehungs-, Wissenschafts- und Forschungsbereich. So wagen heute im Zeitalter des gleichen Wahlrechts selbst die Arbeitnehmerorganisationen nicht mehr, die Gleichheit zwischen dem einzelnen Arbeiter, Manager und Kapitalisten als solchem zu fordern, sie setzen sich schon dem Vorwurf des „Radikalismus” aus, wenn sie im Stile des Ständestaates die Gleichberechtigung der „Stände” Kapital und Arbeit, die „paritätische” Mitbestimmung, die Gleichheit zwischen den Massenorganisationen der Millionen und den Kapitalzusammenschlüssen der wenigen fordern.

Noch keine Rechts­gleich­heit

Wir wollen hier nur noch auf die Gleichheit und Ungleichheit im Rechtswesen eingehen. In einer Demokratie sollte die Gleichheit vor dem Gesetz eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. Aber immer noch ist das Recht viel zu sehr Instrument eines Staates, der auch als demokratischer Rechtsstaat zugleich Militär-, Polizei- und Gewaltstaat geblieben ist, als daß es wirklich durchgängig und erfolgreich der Gleichheit und Freiheit aller dienen könnte. Besonders wenig hat sich am klassischen Eigentums- und Erbrecht geändert. Aber auch die schüchternen Ansätze zur Verbesserung der Rechtslage des Kindes und der Ehefrau im Familienrecht bleiben hinter modernen Erkenntnissen und humanen Erfordernissen weit zurück.
In diesem Zusammenhang noch ein Wort zur paradox-absurden Behandlung der Frau, die noch immer sogar juristisch (von ihrer politischen, wirtschaftlichen und sozialen Position wollen wir nicht sprechen) keineswegs gleichberechtigt ist. So soll etwa während der Schwangerschaft nicht sie über ihren Körper verfügen – es sind die Männer, die das ihre dazu beitragen, daß die Masse der Frauen der „Versuchung” einer illegalen Abtreibung erliegt. Kürzlich erklärte der Bundestagsabgeordnete Andreas v. Schoeler (FDP) im Bundestag, jährlich trieben 20000 deutsche Frauen im Ausland ab, die Zahl der „illegalen” Abtreibungen in der Bundesrepublik betrüge 300000 jährlich. Ja, die „Sorge“ für den Ungeborenen ist bei uns unübertroffen; nur nimmt die Fürsorge nach der Geburt rapide ab, bis sie den Punkt erreicht, wo Millionen als billige „Arbeitskräfte” verschlissen oder gar als „Menschenmaterial” und „Kanonenfutter” „verheizt” werden.

Straf­pro­zeß­ord­nung und Gerichts­ver­fas­sungs­ge­setz

Die Strafprozeßordnung wie das Gerichtsverfassungsgesetz repräsentieren nach wie vor die Macht und Herrlichkeit des Staates. Der vorsintflutliche Charakter des Strafrechts spiegelt sich in schwersten Strafandrohungen für Aufsässigkeit gegen die Obrigkeit und für grobe Eigentumsdelikte ebenso wie in milden Sanktionen für den Mißbrauch wirtschaftlicher Überlegenheit oder die Mißhandlung Schwacher und Abhängiger wieder. So genießen immer noch Beamte gegenüber Privatpersonen, Gebildete gegenüber Ungebildeten, aber auch Wohlhabende gegenüber Ärmeren die in einer Standes- und Klassengesellschaft selbstverständlichen Vorrechte.
Die alte Forderung des Gothaer und Erfurter Programms der SPD nach Unentgeltlichkeit der Rechtssprechung ist total vergessen. Insbesondere der ärmere Angeklagte steht isoliert und hilflos der konzentrierten Staatsmacht gegenüber — was kann auch sein Rechtsanwalt ausrichten gegen den übermächtigen Apparat der Polizei und Staatsanwaltschaft? Sogar die Sitzordnung im Gerichtssaal macht schon die Ungleichheit der Parteien im Strafprozeß sowie das enge Miteinander von Staatsanwalt und Strafrichter deutlich.

Privilegien im Bildungs­wesen Gleichheit und Freiheit

Wenn wir uns nun der Gleichheit im Kulturbereich zuwenden, so wollen wir uns auf den Komplex der Schulbildung beschränken. Selbst hier sind noch Klassen-, Besitz- und Machtprivilegien deutlich spürbar. Die überlieferte konfessionelle oder „christliche” Drei-Klassen-Schule mag in der Bundesrepublik auf dem Rückzug begriffen sein. Aber auch der Zugang zu den sich langsam vereinheitlichenden Schultypen ist immer noch vor allem von der materiellen, psychischen und intellektuellen Verfassung des Elternhauses abhängig. Wo bleibt die Chancengleichheit, wenn etwa das eine Kind in einer schönen Villa mit Garten, Bibliothek usw in der Obhut liebender Eltern aufwächst, das andere als „Schlüsselkind” in einer Mietskaserne, in der der Fernsehapparat und die Bild-Zeitung die Kultur repräsentieren?
So wundert es nicht, daß die Zahl der Kinder von Arbeitern in den höheren Schulen und Universitäten noch lange nicht dem Bevölkerungsanteil dieser entspricht. Freilich ist der Anteil der studierenden Arbeiterkinder von 4% 1953 auf 12% 1973 angestiegen. Der Abbau von Schulgeld und Studiengebühren, die Zunahme der Stipendien haben hier einiges bewirkt — aber schon ist auch hier die Tendenz wieder rückläufig. Der Abbau der sozialen Leistungen für die Studenten trifft vor allem die ärmeren unter ihnen.
Aber selbst wenn der Zugang zu den Bildungsmöglichkeiten wirklich allen gleichermaßen offen stünde, ergäbe sich hier ein ernstes Problem, auf das Kurt Eisner schon 1896 hingewiesen hat. An die Stelle des Zufalls des Besitzes „würde der Zufall des Besitzes ganz bestimmter, im geistigen Wettkampf überlegener Fähigkeiten treten und damit abermals eine höchst unnatürliche Auslese entstehen”. Statt eines solchen „reinen Bildungsmanchestertums” sollen nach Eisner „alle Bildungsinstitute der Gesellschaft, von dem Kindergarten bis zur Universität jedem Mitglied dieser Gesellschaft eröffnet werden, unabhängig nicht nur vom Besitz, sondern auch von der Fähigkeit. Nur so schrumpft die Ungerechtigkeit auf das Mindestmaß zusammen”.

Gleichheit und Freiheit

Eisner berührt hier einen Fragenkreis, der nicht nur, aber insbesondere auch für die Kultursphäre höchst bedeutsam ist — den des Verhältnisses von Gleichheit und Freiheit. Alle gesellschaftlichen Institutionen sollen nach Eisner auf dem Prinzip der Gleichheit beruhen – jede Auslese schon hier wäre antisozialistisch. „Die Individualisierung beginnt erst, wo die Gemeinschaftsinstitutionen aufhören. Dort auf der Höhe, jenseits der Gemeinschaft und ihrer Einrichtung, oberhalb der Massenvegetationsgrenze hebt erst das freie Spiel der Kräfte an, das nun nicht mehr gesellschaftsfeindlich wirken kann, weil es sich außerhalb der Gesellschaft mit ihren Rechten und Pflichten tummelt, im unumschränkten Machtbereich des Individuums.”
Wir möchten Eisner darin zustimmen, daß gerade im materiell-kulturellen Bereich Freiheit und Individualität besonders wichtig, aber auch leichter zu verwirklichen sind. Gerade hier sollte auch der außerordentlichsten Persönlichkeit ein Maximum an Entfaltung gewährt und gesichert werden. Gerade hier sind die Unterschiede in der Begabung, im Lebensstil, in der Zielsetzung natürlich und besonders wertvoll. Nicht als homo faber und homo oeconomicus und nicht einmal als zoon politikon, sondern als homo sapiens et ludens müßte der Mensch sich freiestens entfalten. Hier sollten seiner Liebe und Phantasie, seinem Spiel und Traum möglichst keine Grenzen gesetzt werden. Vieles, was im wirtschaftlichen Bereich schädlich ist, wäre hier möglich, da hier so manches ohne großen materiellen Aufwand geschaffen werden kann. Spielen und Lieben, Singen und Dichten kann ich ohne viele Tonnen Stahl und Kohle, ohne viele Kilowatt oder PS. Freilich ruht auch diese Kulturwelt auf der harten Basis der materiellen Produktion und letztlich stellt sich auch hier immer wieder das Problem der Verteilung knapper Ressourcen.

Die materiellen Bedürfnisse

Geht es in der Kultur um den freien Überschuß, so müssen wir im wirtschaftlich-technischen Bereich zunächst für die notwendigsten materiel len Bedürfnisse des Menschen und der Menschheit sorgen. Insofern diese für alle dieselben sind, sind sie auch egalitär zu befriedigen – sei es nach Maßgabe objektiv-festzustellender Normen und Indikatoren, sei es mittels freien Angebots nach dem Nulltarif. Sobald das Angebot die Nachfrage deckt, kann man Wasser und Brot, Kartoffeln und Wein, Schuhe und Hemden, Wohnraum und Autobusse, Bibliotheken und Kinos „sozialisieren”, dh alle Menschen können diese Güter und Dienstleistungen gemäß ihren – begrenzten! – Bedürfnissen ohne Entgelt erhalten. Es würden auch dann noch feinere, ausgefallenere, kostspieligere, neuere Güter und Dienstleistungen – vom Pelzmantel und Auto bis zum Sekt und Kaviar – produziert werden, die nur käuflich zu erwerben wären. Um dies zu ermöglichen, sollte die Entlohnung nach dem Leistungsprinzip erfolgen. Daß auch eine solche Gleichheit nach dem Leistungsprinzip ihre Mißstände erzeugt, hat schon Marx in seiner Kritik des Gothaer Programms deutlich gemacht.

„Leis­tungs­ge­sell­schaft“?

Halten wir aber fest: Schon die durchgehende Bezahlung nach einem solchen Maßstab der Arbeitsleistung, so schwierig sie gerade heute in einer komplexen Wirtschaft geworden ist, wäre ein weltgeschichtlicher Fort-schritt verglichen mit dem, was wir heute haben, und was sich zwar als „Leistungsgesellschaft” ausgibt, in Wahrheit aber noch ganz entscheidend eine Gesellschaft ererbter und zufälliger, oft antisozial erworbener Privilegien einerseits, unverdienter und zufälliger Diskriminierungen andrerseits ist. Man denke doch nur an die Vererbung ganzer Wirtschaftsimperien, an die Akkumulation von Grundrente und Kapitalzins, an die Ausnutzung von Monopolpreisen, an systematische Spekulationen und „legalen” Steuer-, Kunden- usw -Betrug. Nur drei Beispiele statt vieler aus dem Bereich der Ausnutzung des Bodenmonopols: Ein Flurstrich im Stuttgarter Westen wurde für 1,5 Millionen gekauft und drei Wochen später für 2,5 Millionen wiederverkauft. 4500 qm „Bauland” waren 1948–1952 für DM 40000 gekauft worden, 1973 wurden 5,3 Millionen dafür verlangt. Der mühelose Wertzuwachs privater Bodenbesitzer seit 1950 ist mit ca. 300 Milliarden DM größer als die Spareinlagen aller privaten Haushalte mit 232 Milliarden DM 1971 — so Bundesstädtebauminister Hans-Jochen Vogel 1973.

Unser Steuer­system fördert die Ungleich­heit

Abhilfe und Egalisierung wären hier möglich — durch Überführung marktbeherrschender Unternehmen in Gemeineigentum, durch progressive Einkommenssteuer, durch radikale Besteuerung größerer Erbschaften und arbeitslosen Gewinns, durch Mindestlöhne, durch Höchsteinkommensgrenzen usw. In der Bundesrepublik haben wir ein Steuerreform, das die Ungleichheit fördert. Wer aber eine radikale Steuerreform vorschlägt oder gar wie die Jusos wagt, eine Einkommensbegrenzung von DM 5000 pro Monat anzuregen (nach Robespierre sollte niemand viel mehr oder viel weniger als 3000 Francs im Jahr einnehmen!) erntet Spott: un und Hohn — gerade auch von jenen Partei- und Gewerkschaftsbürokraten, die ihre hohen Einkommen aus den Beiträgen kleiner Lohnempfänger beziehen.
Daß aber auch die abhängigen Massen krasse Ungleichheit in der Regel hinnehmen, erklärt sich wohl nur so, daß sie als Ergebnis ihrer jahrtausendealten Unterdrückung, ihrer autoritären Sozialisation, ihrer mangelnden Bildung, aber auch als Folge einer noch so begrenzten Beteiligung am „Wirtschaftswunder” ebenso bescheiden, gefügig und servil sind wie ihre Herren und deren Trabanten selbstbewußt, übermütig und aggressiv. Und wenn schon „die da oben” weder die sittliche Fragwürdigkeit der Und gleichheit noch ihre latenten Disfunktionalitäten (Zunahme des Verbre chens, des Terrors, der Selbstmorde, der Depressionen und Neurosen nach der WHO sind in einigen westlichen Ländern ein Fünftel der Einwohne davon betroffen –, Alkoholismus und andere Süchte) sehen wollen oder können, so erst recht nicht „die da unten”, die um ihr täglich Brot (einschließlich des Kühlschranks, Autos usw) ringen und bangen.

Entschei­dungs­fin­dung in der Politik

Die Hoffnung auf eine egalitäre Einflußnahme der Massen in der Politik also begrenzt. Gerade hier in der Politik fallen jedoch die letzten Entscheidungen darüber, ob die Gesellschaft von morgen den Weg zu mehr Gleichheit und Freiheit oder den zu mehr Hierarchie und Autokratie gehen wird. Die Entscheidungsfindung in der Politik stellt aber die moderne, komplexe Gesellschaft vor größte Schwierigkeiten und Widersprüche: Demokratie ist identisch mit Gleichheit und Freiheit, Demokratisierung heißt Egalisierung und Liberalisierung. Während nun aber wie angedeutet im Prinzip in der Wirtschaft sehr wohl der Gleichheit der Vorrang vor den Freiheiten der Privilegierten gewährt werden kann und umgekehrt in der Kultur die Freiheit vor der Gleichheit rangieren mag, geht es in der Politik, im Staat und in der globalen Staatengesellschaft um das subtilste Gleichgewicht von Gleichheit und Freiheit.
Wir haben zwar angedeutet, daß auch hier die Brüderlichkeit das ihre dazu beitragen könnte, den Gegensatz von Freiheit und Gleichheit zu mildern. Das erspart uns aber nicht, nach konkreten Lösungen zu suchen. Immer wieder müssen wir in Theorie und Praxis, in Strategie und Experiment nach neuen Kombinationen von demokratischer Gleichheit und funktionaler Führung seitens der Experten, der Spezialisten und Generalisten, der Politiker und Wissenschaftler, der Künstler und Techniker suchen. Nur so mögen wir uns dem Ziel der freien Gleichheit alles dessen, was MenschenantIitz trägt, nähern.

Von anderen Ländern lernen

Schließlich sollten wir nicht darauf verzichten, zunächst einmal unumwun-den zuzugeben, wie unzureichend die Gleichheit in der Bundesrepublik  und in den anderen größeren Demokratien — von den Diktaturen ganz zu schweigen – verwirklicht ist. Zugleich sollten wir darüber nachdenken, warum einige kleinere Länder, vor allem die skandinavischen Staaten, die Niederlande und die Schweiz (wo der Bundespräsident mit dem Bus ins Amt fährt), auch Jugoslawien, in manchen Bereichen mehr Gleichheit kennen. Könnten und sollten wir nicht von ihnen lernen? Warum errichtet man bei uns nicht Institute, in denen die Entwicklungen in diesen Ländern systematisch studiert werden? Warum sendet man nicht Kommissionen in diese Länder, die uns über deren Schwierigkeiten und Lösungen objektiv informieren? Wir glauben, die Antwort zu wissen: Die Millionen, die das kosten könnte, sind nicht vorhanden – wir brauchen dafür Milliarden für Fregatten, Düsenjäger und Tanks, für die Vergütungen für unsere Minister und Diplomaten, Generale und Generaldirektoren – und für deren Reisen, Empfänge und Feste. Womit wir auch schon wieder beim Problem der Gleichheit, das heißt der Ungleichheit, wären…

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