Themen / Sozialpolitik

Jugend­a­r­beits­lo­sig­keit kontra Berufs­bil­dungs­re­form

06. März 1975

aus: vorgänge Nr. 14 (Heft 2/1975), S. 17-19

Zynisches Triumphgeheul und Kassandrameldungen geistern fast täglich durch die konservative Presse. Ob Welt, FAZ, Bild oder Quick, alle sind sich einig: Die Bundesregierung bekommt jetzt ihre Rechnung. Angetreten, für 1,7 Millionen Lehrlinge die Berufsausbildung zu verbessern, wird sie jetzt mit dem Problem Jugendarbeitslosigkeit nicht mehr fertig. Brachte die Quick schon Mitte Februar die Phänomene auf den Nenner: „Weil die Wirtschaft verschreckt war von den systemverändernden Berufsbildungsplänen, ging das Angebot an Lehrstellen drastisch zurück – jetzt haben wir das Dilemma!”
Was das Problem Jugendarbeitslosigkeit angeht, ist in der Tat für die 15–18jährigen, aber auch für junge Arbeitnehmer bis zu etwa 25 Jahren eine in der bundesrepublikanischen Geschichte unvergleichbare Notsituation eingetreten. Nach den letzten Zahlen der Bundesanstalt für Arbeit liegt die Arbeitslosenquote „jugendlicher Arbeitnehmer” bei ca. 10% (120 000), zieht man die Altersgrenze – wie üblich in den Statistiken – bei 25 Jahren, so ergibt sich bei ca 240 000 Arbeitslosen ein Anteil von 23% an der Gesamtarbeitslosenzahl. Nur zum Vergleich: In der Wirtschaftskrise 1966/67 betrug die Arbeitslosenquote für Arbeitnehmer unter 25 Jahren „nur” 2%.
In der Tat ist also die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit die vordringlichste Aufgabe dieser Bundesregierung, bei der Frage nach wirksamen Strategien ihrer Überwindung ist einerseits nach den Ursachen dieses sich ständig ausweitenden Phänomens, andererseits nach den Zusammenhängen von Berufsbildung und Jugendarbeitslosigkeit zu fragen.
Ist der rasante Lehrstellenrückgang wirklich die Folge „unternehmerischer Unlust an einer Ausbildung, die vom Staat reformiert und damit bürokratisch reglementiert” (H. Martin Schleyer) werden soll? Stimmt die von den Gewerkschaftenzeitweise herausgegebene Parole vom „Unternehmerboykott in der Lehrlingsausbildung”?
Schon ein erster Blick auf die strukturbedingte Entwicklung des Lehrstellenmarktes zeigt, daß die Lehrstellenverknappung kein urplötzlich auftauchendes Problem ist; in den letzten 15 Jahren ging das Angebot an Lehrstellen mehr oder minder kontinuierlich um die Hälfte zurück! So verringerte sich beispielsweise die Zahl der Schmiede-Lehrlinge zwischen 1965 und 1971 von 5121 auf 2683, die der Ernährungsbetriebe von 44 616 auf 38 659, die der Bauberufe von 43 997 auf 22 266 (Mitteilung des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung, Bonn 2/73).
Anhand der Strukturdaten wird besonders deutlich, daß vor allem traditionelle Handwerks- und Dienstleistungsberufe kontinuierlich zurückgehen, Lehrstellenrückgang vor allem in Klein- und Mittelbetrieben zu verzeichnen ist. Berücksichtigt man dabei noch, daß Klein- und Mittelbetriebe überproportional viele Lehrlinge ausbilden (z.Z. allein etwa 400 000 in Betrieben bis zu 10 Beschäftigten, 700 000 in Betrieben bis zu 50 Beschäftigten) so wird der strukturelle Hauptgrund der Lehrstellenverknappung deutlich: Wirtschaftliche Konzentrationsprozesse, die überproportional Klein- und Mittelbetriebe „wegrationalisieren”, sind die Hauptursache der Lehrstellenverknappung.
Neben dieser strukturellen Hauptursache gibt es selbstverständlich noch eine Reihe von anderen Gründen, die den besonders rasanten Rückgang der letzten 3 Jahre erklärbar machen. Nach der Verabschiedung des Berufsbildungsgesetzes 1969 mußten die am schlechtesten aus-bildenden Betriebe ihre Lehrlingsausbildung aufgeben, gesteigerte Ausbildungsvergütungen schreckten besonders Kleinbetriebe von der Ausbildung ab. Viele Firmen gingen dazu über, statt Lehrlinge auszubilden, erwachsene Erwerbstätige anzulernen und umzuschulen, da dies von der Bundesanstalt für Arbeit gut bezahlt wird. Auf alle diese kumulativen Effekte wirkte sich natürlich die aktuelle konjunkturelle Situation verschärfend
aus, auch hat sicherlich die DIHT- und Kammernpolitik mit ihrer Androhung von Ausbildungsboykott den einen oder anderen Betrieb dazu bewogen, die Ausbildung einzustellen.
Festzuhalten bleibt jedoch, daß weder die aktuellen Berufsbildungspläne der Bundesregierung noch der gern zitierte Unternehmerboykott ursächliche Beweggründe der Jugendarbeitslosigkeit sind, daß vielmehr die „unternehmerische Selbstverwaltung” in der BerufsbiIdung und die „sich selbst regulierende Marktsteuerung” versagt haben.
Wenn dennoch in den letzten Monaten Berufsbildungsreform und Jugendarbeitslosigkeit in einen unmittelbaren Zusammenhang gebracht wurden, liegt dies an der für das Kapital momentan so „günstigen” konjunkturellen Situation, die es ihnen ermöglicht, den Bankrott in der Berufsbildung noch einmal abzuwenden.
Mit einen propagandistischen Riesenaufwand (s.o.) wurden die Ursachen der Lehrstellenverknappung und Jugendarbeitslosigkeit auf die „übertriebenen und sachfremden Reformpläne” (DIHT-Pressemitteilung) der Bundesregierung projiziert.
Gleichzeitig gaben Verbände und Kammern unmißverständlich zu verstehen, daß schon noch Lehrstellen und finanzielle Sonderaufwendungen möglich seien (Erpressungsschreiben der Spitzenverbände vom 17.1.75), stellten jedoch an die Bundesregierung einen „Sachkatalog unabdingbarer Forderungen”:

1. Die Normalisierung auf dem Lehrstellenmarkt müsse vor allem durch zusätzliche staatliche Finanzspritzen eingeleitet werden.
2. Rohdes Plan einer Mitbestimmung über Quantität und Qualität der Berufsausbildung müsse zurückgenommen werden.

Nach genügend eindringlicher Intervention vor allem über den um Wähler bemühten kleinen Koalitionspartner (siehe Vorgänge 13/75 S 79ff) entschloß sich dann auch der Bundeskanzler zu einem „Neuüberdenken der ernsten Lage”. Bildungsminister Rohde, von seinem Meister mehrfach öffentlich gerügt, befand nun plötzlich: „Zusätzliche finanzielle Hilfen des Staates” und „öffentliche Anerkennung der Leistung der Wirtschaft in der Berufsausbildung” (BMBW-Pressemitteilung) seien vordringlich nötig.
Ganz auf dieser Linie lagen dann auch parlamentarische Beratungen und Verlautbarungen über die „Bekämpfung der Arbeitslosigkeit”: Regierung und Opposition überboten sich gegenseitig in der Höhe von Lehrlingskopfprämien, die den „ausbildungswilligen” Betrieben gezahlt werden sollen.
Wie immer bei Verteilung von Steuergeldern an die Wirtschaft war dabei die Opposition nicht gerade kleinlich, sie fordert, 80 zusätzliche Millionen über die Betriebe zu verstreuen. Verbunden wurde diese „Politik der großen Scheine” (FR) mit der Liquidierung inhaltlicher Essentials der Berufsbildungspläne. Während die Öffentlichkeit sich noch mit dem Koalitionszwist der Bonner Minister beschäftigte, waren längst entscheidende Weichen gestellt:

1. Die von der Bundesregierung schon erlassenen Richtlinien über die fachliche und pädagogische Eignungsprüfung von Ausbildern wurde auf 1978 vertagt, einem Großteil der betrieblichen Ausbilder („nach 5 Jahren Ausbildungspraxis“) ganz erlassen.
2. 1969—74 bereits verabschiedete Ausbildungsordnungen werden nochmals überarbeitet, um, wie es heißt, „unnötige Härten für Klein- und Mittelbetriebe” zu vermeiden.

Entscheidend bei der Zurücknahme von Qualitätsforderungen eines neuen Gesetzes war jedoch die Umfunktionierung des „Kernstücks der Reform” (Rohde), des Fonds-Finanzierungssystems. Die Regierungskommission unter Prof. Edding hatte ein konjunkturunabhängiges Fondsystem gefordert, durch eine einheitliche Umlage von mindestens 1% der Lohnsumme sollte die Grundvoraussetzung einer quantitativen und qualitativen Berufsausbildung geschaffen werden. Der Fondsgedanke ist allerdings durch den „Kompromiß” zwischen Bundesregierung und Wirtschaft längst pervertiert: Falls das Ausbildungsstellen-Angebot in Zukunft unter eine bestimmte Marke absinkt, sollen Betriebe ab 29 Beschäftigten bis zu 0,25% (!) der Lohnsumme für einen Fonds entrichten. Diese Gelder sollen dann ausschließlich den Betrieben zukommen, die zusätzliche Lehrstellen anbieten.
Nichts ist mehr übriggeblieben von der Diskussion um eine verbesserte Qualität der Ausbildung, keiner der Minister stellt bei dieser Regelung die Frage nach dem Sinn einer Ausbildung, bei der nur die Prämie zählt. Was diesen „Einstieg in ein neues Finanzierungssystem” (Rohde) geradezu gefährlich macht: Statt Jugendarbeitslosigkeit zu bekämpfen, wird er sie aller Voraussicht nach noch verschärfen! Sollte in dem nun schon theaterreifen Streit um die Gesetzesruine in dieser Legislaturperiode doch noch eine Entscheidung fallen, würden die Mechanismen des geschilderten Fonds frühestens 1977/78 greifen. Bis dahin ist bei den getroffenen Regelungen zu befürchten, daß die Betriebe ihre Ausbildungsplätze weiter drosseln, gilt es schließlich vor der Verteilung der Fondsgelder günstige Startpositionen vorweisen zu können.
Egal ob die „neue sozialdemokratische Reformruine” (Arbeitsminister Walter Arendt, Mitte Februar) nun verabschiedet wird oder nicht, fest-zuhalten bleibt auf alle Fälle: Die Unternehmer und ihre Organisationen haben mit der Doppelstrategie durchschlagenden Erfolg erzielt:

1. Notwendige Kosten für die Abwendung des Berufsbildungsbankrotts werden in Zukunft verstärkt auf die öffentliche Hand (und damit die Steuerzahler) abgewälzt, ohne daß die Betroffenen dieser Ausbildung im Gegenzug auch nur ein geringes Maß an echter Mitbestimmung erlangen
2. Die angestrebte Normalisierung des Lehrstellenangebots wird voll auf Kosten der Qualität gehen.

Urteilt die Illustrierte Quick in Sachen Berufsbildungsreform schon am 13.2. genüßlich: „Statt ursprünglich systemverändernden Tendenzen — jetzt eine Minireform!”

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