Themen / Sozialpolitik

Über einige Diffe­ren­zie­rungen des Begriffs „Gleich­heit” — im histo­ri­schen Prozeß gesehen

17. April 1976

aus vorgänge Nr. 20 (Heft 2/1976), S. 58-66

Schlagwort oder Leitwort?

Wolfgang Harich hat im Zusammenhang mit seinem Ruf „Zurück zu Babeuf `konstatiert: „Der Sinn der Weltgeschichte liegt, falls sie überhaupt einen hat, in der fortschreitenden Verwirklichung des Prinzips der Gleichheit aller Menschen”. Es gibt Gründe genug, sich dieser möglichen Sinngebung anzuschließen. Nur: was heißt „Gleichheit”, was hieß im Prozeß der Weltgeschichte je „Gleichheit”? Wenn ein axiomatisch-werthaft besetzter Begriff wie „Gleichheit” nicht zu einem agitatorisch verzerrten Schlagwort verkommen soll, bedarf es der Aufklärung über seine bisher historisch zu verifizierenden Inhalte. Erst dann kann er aktuell wieder Leitwertcharakter für emanzipatorisches Interesse gewinnen.

I

Rechtliche Gleichheit als Absicherung ökono­mi­scher Ungleich­heit

Der Leitwert der frühbürgerlich-frühkapitalistischen Emanzipationsbewegung hieß nicht Gleichheit, sondern Freiheit. Der Begriff der Gleichheit war ein aus dem Freiheits-Verständnis abgeleiteter: Freiheit ist die Gleichheit der Bürger im Staate. Gleichheit ist die gleiche Freiheit der ökonomisch ungleichen Eigentümer als Bürger. Es ging um die Gleichheit der rechtlichen Bedingungen für alle; die faktischen Unterschiede des Eigentums wurden nicht in Frage gestellt, vielmehr sanktioniert. Denn: rechtliche Gleichheit, rechtsstaatliche Sicherung einer möglichst umfassenden staatsfreien Sphäre und durch Normen gebundene Berechenbarkeit des intersubjektiven Verkehrs wie der staatlichen Intervention waren die Voraussetzungen für die Entfaltung der kapitalistischen Produktionsweise und für die Durchsetzung des sie konstituierenden Prinzips des (ungleichen) Privateigentums. Die rechtliche Gleichheit sicherte die ökonomische Ungleichheit ab.

II

Klein­ei­gen­tümer und Klein­pro­du­zenten

Auch die Leveller, die Bewegung der „Gleichmacher” in der englischen bürgerlichen Revolution, wollten – wie ihre Nachfolger auf dem Kontinent, die Jakobiner und die Sansculotten, – nicht „levelling the estates”. Sie bekannten sich ausdrücklich zum Privateigentum, zum status quo der Eigentumsverteilung. Der von ihnen vorgeschlagenen Repräsentative sollte ausdrücklich untersagt sein, „to levell mens Estates, destroy Propriety, or make all things common”. Die (rechtlich abgesicherte) gleiche Freiheit war nicht die Freiheit der (ökonomisch) Gleichen. War es ein Irrtum, daß die Leveller sich Leveller nannten, oder das bewußte denunziatorisch gemeinte Kalkül ihrer bourgeoisen Gegner, sie so zu nennen? Aber warum hatten sie Gegner, wenn sie erklärtermaßen nichts weniger wollten als „communism”? Die Anhänger der Leveller waren überwiegend Kleineigentümer, die – abgesehen von wenigen Ausnahmen, die zu Kapitalisten wurden, – bedroht waren, im Zuge der Entfaltung des Kapitalismus ins Proletariat abzusinken. Ihr Interesse im Übergang von der einen in die andere Produktionsweise war, sich selbst als das Volk schlechthin begreifen zu können und damit den Anspruch zu rechtfertigen, daß sie, indem sie als Kleineigentümer ihre Interessen artikulierten, die wahren Interessen des ganzen Volkes vertraten.
Ihr Gesellschaftsmodell war das der frei bestimmten kooperativen Assoziation von unabhängigen Kleinproduzenten und Kleineigentümern bei prinzipieller ökonomischer Gleichheit (hergestellt durch statisch-ständische Wettbewerbsbeschränkungen oder — wie später bei Rousseau — durch Vorkehrungen für den Ausgleich der ungleichen Entwicklung). Dies war der historische Kompromiß der Kleineigentümer: unter grundsätzlicher Anerkennung des Grundprinzips der kapitalistischen Produktionsweise, des Privateigentums, die Errichtung einer stationären, dauernd im Gleichgewicht zu haltenden Gesellschaft der gleichen Eigentümer. Diese Gleichheit war eine bourgeoise Gleichheit; sie ist in den meisten vormarxistischen Modellen des Kommunismus nur „verproletarisiert”, nicht wirklich aufgehoben worden.

III

Babeuf und das Recht auf gleiche Bedürf­nis­be­frie­di­gung

Die Jakobiner waren gescheitert, weil sie am kapitalistischen Prinzip des Privateigentums festhielten und dessen das Gleichgewicht der egalitären Gesellschaft der Kleineigentümer störende Konsequenzen terroristisch eliminierten. Babeuf  hingegen, der „linksextremistische Opponent Robespierres” (Harich), war der Auffassung, daß alle Menschen von Natur das gleiche Recht besaßen, ihre Bedürfnisse zu befriedigen, und damit Anspruch auf den gleichen Genuß aller Güter (l’égalité des jouissances) hatten. Da das Privateigentum notwendig Ungleichheit zur Folge hatte, war es abzuschaffen. Das einzige Mittel, die tatsächliche reale Gleichheit zu garantieren, war die Gütergemeinschaft aller Mitglieder der Gesellschaft.
Das war nicht mehr kleinbürgerlicher Egalitarismus, sondern Verteilungskommunismus. Es finden sich zwar bei Babeuf  Hinweise auf die Notwendigkeit einer kommunistischen Produktionsgemeinschaft, doch bleiben sie unausgeführt. Auch sucht man bei Babeuf vergebens eine Beschreibung einer auf dem Überfluß an Konsumgütern errichteten kommunistischen Gesellschaft, die auf der Expansion der industriellen Produktion beruht. Babeufs Kommunismus ist vielmehr entsprechend dem von ihm in seiner Zeit vorgefundenen Stillstand in der Entfaltung der Produktivkräfte ein Kommunismus der gleichen Verteilung des Mangels an Gütern.

IV

Marx und die positive Aufhebung des Privat­ei­gen­tums

Karl Marx hat den Verteilungskommunismus als „rohen Kommunismus”, als „gleichmacherischen Kommunismus”, als „Löffelkommunismus” verspottet, ausgenommen von diesem Spott jedoch Babeuf, der – wie im Kommunistischen Manifest zu lesen – in der Französischen Revolution „die Forderungen des Proletariats aussprach”; ausgenommen auch Wilhelm Weitling, dem es nicht „um die Verproletarisierung der Gleichheit ging, sondern um das Gleichgewicht zwischen den Bedürfnissen und den Fähigkeiten des Menschen” (Kalivoda). Hatte schon Weitling den Anspruch der Eigentumslosen gegen die Eigentümer formuliert und damit der bisherigen Tradition widersprochen, die dem kleinbürgerlichen Ideal der Wiederherstellung des wahren Wesens des Menschen folgte, so brach Marx radikal mit dieser Tradition. Marx‘ Kommunismus ist nicht einfach die Negation des Privateigentums, sondern seine positive Aufhebung „als menschlicher Selbstentfremdung und darum als wirkliche Aneignung des menschlichen Wesens durch und für den Menschen”. Dieser Kommunismus ist „… das wirkliche, für die nächste geschichtliche Entwicklung notwendige Moment der menschlichen Emanzipation und Wiedergewinnung. Der Kommunismus ist die notwendige Gestalt und das energische Prinzip der nächsten Zukunft, aber der Kommunismus ist nicht das Ziel der menschlichen Entwicklung – die Gestalt der menschlichen Gesellschaft” (Ökonomisch-philosophische Manuskripte).
Der Kommunismus ist also der Ausdruck der historisch-instrumentellen Vernunft des Menschen, wie auch die Gleichheit als „Grund des Kommunismus” nur seine „politische Begründung” ist. Das Ziel der menschlichen Entwicklung ist die reale, radikal entfaltete Freiheit aller, jedes einzelnen. Dies gibt dem berühmten Satz in der Deutschen Ideologie seinen Sinn: daß die Beseitigung der Arbeitsteilung in der kommunistischen Gesellschaft „es mir ermöglicht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden”. Der Mensch hat die Freiheit zur Wahl seiner Tätigkeiten, die ihn von anderen unterscheiden. Die ökonomisch-soziale Gleichheit des Marxschen Kommunismus wird so zur Voraussetzung der positiven Entfaltung der menschlichen Ungleichheit als Ausdruck totaler menschlicher Freiheit.

Das Reich der Freiheit und das Reich der Notwen­dig­keit

Marx hat später (vgl III. Band des Kapital) diese postulativ-utopischen Aussagen in einer als historisch notwendig gekennzeichneten Entwicklungsperspektive verdeutlicht: Das wahre Reich der Freiheit kann nur auf dem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühen; es liegt jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion, dort, wo die Arbeit, die immer durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört.In der Kritik des Gothaer Programms (1875) ist Marx noch einmal auf die Bedingungen von Gleichheit und Ungleichheit eingegangen. Er polemisiert u.a. gegen den ersten Absatz des Programmentwurfs, in dem es um das Prinzip der gerechten Verteilung des unverkürzten Arbeitsertrages geht. Im Sozialismus oder – wie Marx sagt – „in der ersten Phase der kommunistischen Gesellschaft, wie sie eben aus der kapitalistischen Gesellschaft… hervorgegangen ist”, ist das Recht der Produzenten ihren Arbeitslieferungen proportional, „die Gleichheit besteht darin, daß am gleichen Maßstab, der Arbeit, gemessen wird”. Das bedeutet, daß dieses gleiche Recht seinem Inhalt nach ein Recht der Ungleichheit ist, weil es stillschweigend „die ungleiche individuelle Begabung und daher Leistungsfähigkeit als natürliche Privilegien” anerkennt. Erst in einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft, „nachdem (…) die Arbeit nicht nur ein Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden; nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch die Produktionskräfte gewachsen sind und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen – erst dann kann… die Gesellschaft auf ihre Fahnen schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.”
Marx sieht also erst in der entwickelten kommunistischen Gesellschaft die Reste des bürgerlichen Rechtsverständnisses, wie es sich im Eigentum des Menschen an seiner Arbeitskraft ausdrückt, aufgehoben. Erst sie bringt auch die Aufhebung der Trennung der beiden Reiche der Notwendigkeit und der Freiheit. Harich interpretiert dies in dem Sinne, daß diesen Aufhebungen „die Anerziehung neuer Bedürfnisse und Gewohnheiten des Menschen” vorangegangen sein muß. Dies schlösse eine weitreichende Konsequenz für die Realisation des Marxschen Begriffs der individuellen Ungleichheit auf der Basis der kollektiven Gleichheit (die durch die Vergesellschaftung der Produktionsmittel determiniert ist) ein: Steht also historisch je wieder die Bedürfnisstruktur des Menschen, da formbar und variabel, zur Disposition – und dann wem eigentlich?

V

„Unent­wi­ckelter Kommunismus“

Marx hatte seine Entwicklungsperspektive für den Kommunismus an  industriell entwickelte Gesellschaften geknüpft. Historisch setzte sich die „proletarische” Revolution bisher nur in ökonomisch unentwickelten Ländern durch. Es entstand daher zunächst ein primitiver „unentwickelter Kommunismus” (Stojanovic); ein Kommunismus des nivellierenden Egalitarismus, der asketischen Gleichheit der Revolutionäre. Der Zwang zur Erhaltung dieses einfachen Kommunismus unter den gegebenen ökonomischen Entwicklungsbedingungen auch nach dem revolutionären Kampf brachte eine neue „etatistische Klasse” hervor, die, wie immer noch in China, durch Simulierung revolutionärer Situationen die Ausgangsbedingungen für die asketische revolutionäre Gleichheit und diese selbst wiederherstellt. In der Sowjetunion hat indessen die Herausbildung der „neuen Klasse” zu einer beinahe antagonistisch zu nennenden Zwei-Klassen-Struktur geführt: auf der einen Seite die Industriearbeiter und Kollektivbauern, auf der anderen die herrschende Klasse derjenigen, die sich das Monopol der Verfügung über die Produktionsmittel und über die Verteilung des Mehrproduktes vorbehalten haben. Obzwar rechtlich ohne Anspruch auf Eigentum übt die „neue Klasse” eine unbegrenzte ökonomische Macht aus, „wie sie eine herrschende Klasse noch in keiner kapitalistischen Gesellschaft je hatte” (Kolakowski). So hat die Vergesellschaftung der Produktionsmittel zu einer verstärkten Klassenspaltung und in deren Konsequenz zu einer Aufspaltung der genossenschaftlichen Gleichheit in eine „obere” und in eine „untere” Gleichheit geführt. Diese Aufspaltung verschleiert eine Ungleichheit, wie sie nicht einmal mehr in hochindustriell entwickelten bzw im Übergang zur nachindustriellen Gesellschaft begriffenen kapitalistischen Ländern besteht. Eine weitere Entwicklungsmöglichkeit aus dem unterentwickelten Kommunismus heraus scheint   sich in Jugoslawien zu ergeben. Die Ansätze zu einem als höhere Form des Kommunismus interpretieren Selbstverwaltungssozialismus entwickeln sich zurück in das Gesellschaftsmodell der kleinbürgerlichen Egalität. Das gesellschaftliche Eigentum wird umgewandelt in das Aktionärseigentum der assoziierten Arbeiterkollektive; Marktelemente werden als Regulative restituiert; die Möglichkeit privater Inhaberschaft von kleinen Fabriken zugelassen. Sollte der jugoslawisch Sozialismus — pars pro toto für den Reformkommunismus? — zum klein bürgerlichen Egalitarismus regredieren, so ergäbe sich auch eine neue Perspektive für eine (un)heimliche Konvergenz der Systeme.

VI

Gleichheit und Ungleich­heit in den kapita­lis­ti­schen Indus­tri­e­län­dern

Denn die Gleichheit in den kapitalistischen Industrieländern besteht alle Aussagen essayistisch zugespitzt — in der „Sozialisierung” der Privilegien, in der Angleichung der Einkommen zur großen breiten Mitte hin. Die sozialstrukturell immer dominanter werdende, indessen ökonomisch keineswegs herrschende Klasse ist die „neue Klasse” der Quasi-Kleinbürger (was Mentalität, Einkommenserwartung, also alles, was de Distributionsbereich unmittelbar oder vermittelt angeht, aber keineswegs die Stellung im Produktionsprozeß). Das „Proletariat” ist zur deklassierten Klasse geworden; es hat sich — nach mehr als 150 Jahren Kampf —
gewissermaßen selbst abgeschafft, nicht etwa positiv aufgehoben zum Menschen an und für sich; es ist funktionell in die gesellschaftlichen Randgruppen der Alten, Verarmten, Arbeitslosen, der beschäftigungslose Jugendlichen, der Kranken, der Frauen, der untersten Lohn- und Gehaltsempfänger und der vom Norm-Verhalten Abweichenden abgedrängt. Die neue Mitte sucht hierzulande ihre relative Gleichheit in der Vorstellung von sich selbst als „wir Deutschen, wir Bürger dieses Landes” au: zudrücken (Umfrageergebnis: 78% bzw 82% fühlen sich persönlich angesprochen). Optimierbares Habenwollen und nicht qualitatives Tun können kennzeichnet sie, und Leistung wird erbracht in der Erwartung eines Mehr an individuellem Konsum und Besitz. Zu dieser individuell-konsumptiven und besitzindividualistischen Gleichheit steht im Widerspruch die horrende Ungleichheit in der Verfügungsgewalt über die Verwendung des Mehrwertes. (Allenfalls über den demokratischen Staat besteht mittelbare Einflußmöglichkeit). Seit Marx weiß man, daß der Luxuskonsum der ökonomisch herrschenden Klasse (wie auch die Privilegien der „neuen Klasse” in den sogenannten sozialistischen Ländern) ökonomisch unwesentlich ist, daß die Ungleichheit der Einkommen nur eine Folge der Ungleichheit in der Verfügung über die durch die Gemeinschaft der Arbeitenden geschaffenen Werte ist.

VII

Bedingungen der Gleichheit

Daß es bisher keine Gleichheit im Marxschen Sinne verwirklicht gibt, hat  sozialistische Autoren wie den Praxis-Philosophen Svetozar Stojanovic und auch Leszek Kolakowski veranlaßt, über die Bedingungen der Gleichheit nachzudenken. Absolute Einkommensgleichheit ist ökonomisch undurchführbar; sie kann nur in kleinen Produktions- und Konsumgemeinschaften praktiziert werden. Absolute soziale Gleichheit würde das Prinzip der Individualität negieren und widerspräche einer realistischen Einschätzung der Möglichkeiten der menschlichen Natur. Es wird keine Gesellschaft geben können, die alle Produkte nur den Bedürfnissen gemäß verteilen würde: Die Bedürfnisse werden die Möglichkeiten zu ihrer Befriedigung stets übersteigen. Außerdem würde das Prinzip der Verteilung nach den Bedürfnissen genauso Ungleichheiten hervorrufen wie das der Verteilung nach den Resultaten der Arbeit; es würde den begünstigen, der weniger arbeitet, weil ja alle — unabhängig von dem von ihnen für die Gesellschaft Erarbeiteten — gemäß ihren Bedürfnissen erhalten würden. Stojanovic schlägt deshalb eine Kombination beider Verteilungsprinzipien vor, wodurch beider Schwächen, die zu „Ungleichheit und Ungerechtigkeit in der gesellschaftlichen Verteilung” führen, neutralisiert werden. Die Verteilung der Güter erfolgt nach den Resultaten der Arbeit; Ungleichheiten, die dabei entstehen, werden kompensiert durch solidarische Redistribution für die Entwicklung der materiellen Gleichheit der Gesamtgesellschaft (was in der aktuellen Diskussion mit „Sozialinvestitionen” bezeichnet wird). Dazu bedarf es der Übernahme einiger ethischer Elemente des unentwickelten asketischen Kommunismus und der Institutionen einer entwickelten Selbstverwaltung der Gesellschaft.

VIII

Harich: Gleiche Verteilung des Mangels

Für Wolfgang Harich ist die relative Gleichheit der Verteilung der Güter auf der Basis des wachsenden gesellschaftlich produzierten Reichtums keine Alternative mehr angesichts der ökologischen Krise in Permanenz. Deshalb seine Aufforderung zur Rückkehr der Arbeiterbewegung „nun auf höherer Stufenleiter” zu Babeufs Kommunismus der gleichen Verteilung des Mangels, da die „Springquellen” des kapitalistischen Reichtums, nachdem sie 200 Jahre lang geflossen sind, nun nicht mehr fliessen können.
So entwirft Harich das Projekt eines Kommunismus der Rationierung der Null-Wachstum erlaubt, die Marktbeziehungen ausschaltet, in  Gebrauchswerte aufhören, Waren zu sein, der das Geld abschafft, Leistungsprinzip obsolet werden läßt. Dieser Kommunismus wird nicht die Überflußgesellschaft sein, wie sie sich Weitling und Marx vorgestellt haben; und er wird auch nie ohne staatliche Autorität und kodifiziertes Recht auskommen: „Jeder Gedanke an ein künftiges Absterben des Staates ist daher illusorisch”.

Havemanns asketischer Kommunismus

Harich unterscheidet sich mit diesem Projekt scharf von dem asketisch Kommunismus-Entwurf Robert Havemanns. Für diesen ergibt die soziale Gleichheit in der vernünftigen Verwendung der Güter „das vielfältige Spektrum aller Möglichkeiten des Menschen, die frei entwickelte Individualität, die ganze Einmaligkeit jedes Menschen, die menschliche Ungleichheit also als Negation der Negation unserer ursprünglichen tierhaften Ungleichheit. Menschsein ist eine dialektische Einheit von Gleichheit und Ungleichheit.” Um die soziale Ungleichheit gänzlich aufzuheben, müssen die hierarchischen Strukturen der Gesellschaft aufgelöst werden, muß der Staat absterben.
Havemann will einen asketischen Kommunismus, in den bewußt ein  utopisches Moment aufgenommen ist, gewissermaßen als Zielprojektion. Die Annäherung an dieses Ziel ist geleitet von der Hoffnung auf wachsende Vernünftigkeit des Menschen. Havemanns Kommunismus insofern zukunftsbezogen-offen. Harich dagegen fordert ausdrücklich die Rückkehr des Kommunismus zu seiner vorindustriellen, kleinbürgerlich-bäuerlichen, radikal demokratischen (dh jakobinerhaft-diktatorischen) Traditionslinie. In ihrem Verlauf wurde der kleineigentümerische Egalitarismus Rousseaus zu seiner proletarisch-kommunistischen Konsequenz vorgetrieben, wenngleich seine ethischen Werte nicht verloren gingen. So liegt denn die Analogie nahe: Wie Konsumverzicht im Interesse der frühen puritanischen Bourgeoisie lag (als Voraussetzung der Entfaltung der Produktivkräfte), so muß sich jetzt die Menschheit vieles versagen, weil die Entwicklung der Produktivkraft einen Stand erreicht hat, bei dem der Akkumulationsprozeß an seine absolute Grenze stößt. Fortschreitende Verwirklichung des Prinzips der Gleichheit durch Rückschritt in vorindustriekapitalistische Tradition des Gleichheitsdenkens?

IX

Demokra­tisch-­so­zi­a­lis­ti­sche Alter­na­tiven

Harich fordert „die Linke” in den kapitalistischen Ländern auf, unter Ausnutzung des Pluralismus „sei es auf friedlichem Wege, sei es durch gewaltsamen Umsturz” die Macht im Staate zu erringen und: „dann schleunigst weg mit diesem System und her mit der wahren, der ursprünglichen Demokratie, die in Europa als erste die Jakobiner… verwirklicht haben und die Babeuf mit seiner ,Verschwörung der Gleichen‘ wiederherstellen wollte“.
Vertreter demokratisch-sozialistischer Strategien (wie z.B. Johano Strasser), die sich ebenfalls durch die ökologische Krise herausgefordert sehen, teilen diesen ahistorischen Zynismus nicht. Ihr Konzept ist: Homogenisierung der großen Mehrheit der Bevölkerung durch „mehr materielle Gleichheit” — durch entsprechende Verteilung der Primäreinkommen im Lohnkampf, aber auch durch die Ausweitung des öffentlichen Angebots einer Gleichheit der Chancen zur Verwirklichung der menschlichen Möglichkeiten. Auf diese Weise könnte klassische Klassenidentität (wieder?) erzeugt und funktionell und instrumentell (also im übertragenen Sinne) das Proletariat (wieder?) hergestellt werden; denn das Ganze zielt auf ein Optimum an gesellschaftlicher Konsensbildung als Voraussetzung für demokratisch legitimierte Entscheidungen über die Grundrichtung der gesellschaftlichen Entwicklung: „Ein demokratischer, humaner und pluralistischer Sozialismus ist auch angesichts der ,Grenzen des Wachstums` möglich und notwendig.“

X

Vertei­lungs­gleich­heit und Verfü­gungs­gleich­heit

Materielle Gleichheit ist nicht identisch mit der absoluten Gleichheit der je individuellen Einkommen. Materielle Gleichheit bedeutet überwiegend und vor allem Ausweitung der kollektiven Leistungen der Gesellschaft. In diesem Sinne ist materielle Gleichheit unabdingbar notwendig, denn sie stellt die kollektive Voraussetzung dar für die individuelle Freiheit der Wahl der Selbstverwirklichung, d.h. der Herstellung der größtmöglichen Ungleichheit unter den Menschen.
Doch die Forderung nach mehr materieller Gleichheit reduziert das Problem der Gleichheit auch aktuell auf den Kampf um die Verteilungsgleichheit und bedeutet deshalb kein substantielles Eingehen auf die Problematik der Verfügungsgleichheit. Zu fordern, zu vertreten und schließlich zu praktizieren ist daher eine Kombination der unter dieser Perspektive „bloß” materiellen Gleichheit des Verbrauchs des Produzierten mit der formalen rechtlichen Gleichheit der Verfügung über die Produktionsmittel und der Entscheidung über die Verwendung und Verteilung der geschaffenen Werte und Güter durch die Produzenten (im weitesten Sinne).
Damit stellen sich der nachindustriellen Gesellschaft als einer Übergangsgesellschaft ähnliche Probleme wie der frühbürgerlich-frühkapitalistischen: es geht, es muß gehen auch um die Gleichheit der rechtlichen Bedingungen für alle Produzenten.
Muß? Gleichheit, die ich meine, als Wille und Vorstellung oder als eine Art kategorischer Imperativ? Diese Überlegungen zur Gleichheit sind nur ein Angebot für Differenzierungen, die erst noch zu strategischen Kosequenzen führen mögen, nicht müssen. Ob diese dann Realität verändern werden, ist ebenso offen. Indessen kann man Kolakowski folgen, der für den Sozialismus feststellt, was auch für die Forderung nach Gleichheil gilt: „Es ist dies… eine offene Perspektive, in der es uns freisteht, für das zu optieren, was wir für einen menschlichen Wert erachten”.

Benutzte Literatur

Martin Gralher: Demokratie und Repräsentation in der Englischen Revolution. Meisenheim aG 1973
Wolfgang Harich: Kommunismus ohne Wachstum? Reinbek 1975. Zitate S 62 f, 162, 179 f, 161, 186, 115 f, 206
Robert Havemann: Über die Ungleichheit der Menschen, in: Frankfurter Hefte 21. Jg 1966. Zitat S 187
Robert Havemann: Freiheit als Notwendigkeit, in: Rudi Dutschke, Manfred Wilke (Hrsg): Die Sowjetunion, Solchenizyn und die westliche Linke. Rororo-aktuell Bd 1875. Reinbek 1975
Leszek Kolakowski: Marxismus — Utopie und Anti-Utopie. Urban-Taschenbücher Bd 865. Stuttgai 1974. Zitate S 95, 94
Robert Kalivoda: Der Marxismus und die moderne geistige Wirklichkeit. Edition suhrkamp Bd 37 Frankfurt aM 1970. Zitat S 97.
Jürgen Schlumbohm: Freiheitsbegriff und Emanzipationsprozeß. Kleine Vandenhoeck-Reihe Bd 138 Göttingen 1973
Jürgen Schlumbohm: Freiheit. Die Anfänge der bürgerlichen Emanzipationsbewegung in Deutschland im Spiegel ihres Leitwortes. Düsseldorf 1975
Svetozar Stojanovic: Kritik und Zukunft des Sozialismus. Fischer-Taschenbuch $d 1264. Frankfurt aM 1972Johano Strasser: Grenzen des Wachstums — Grenzen der Freiheit?, in: Technologie und Politik aktuell-Magazin Bd 3 „Welthungerkatastrophe und Agrarpolitik“ (= rororo-aktuell Bd 1942). Reinbek 1975. Zitat S 22

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„Man muss das Geld in Verruf bringen. Es wäre nützlich, daß diejenigen, die höchstens Ansehen oder sogar Macht besitrzen, gering entlohnt werden. Die menschlichen Beziehungen müssen der Kategorie nichtmeßbarer Dinge zugeordnet werden. Öffentlich soll anerkannt sein, daß ein Bergmann, ein Drucker, ein Minister miteinander gleich sind.“

„Indem man das Geld zur einzigen oder beinah einzigen Triebfeder aller Handlungen, zum einzigen oder beinah einzigen Maßstab aller Dinge machte, hat man das Gift der Ungleichheit allenthalben verbreitet. Es stimmt zwar, daß diese Ungleichheit beweglich ist; sie ist nicht an die Personen gebunden, denn das Geld wird gewonnen und verloren; aber sie ist nicht minder wirklich.“

Simone Weil (1.Zitat aus: Unterdrückung und Freiheit. Politische Schriften Hg von Heinz Abosch, München 1975; 2.Zitat aus:Die Entwurzelung. Einführung in die Pflichten dem menschlichen Wesen gegenüber, 1949. Deutsch: München 1965).

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