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Mehr Teilhabe dank Chipkarte?

25. September 2010

Statt in Nachhilfeunterricht, Musikstunden oder Turnverein investiert die Bundesministerin Ursula von der Leyen lieber in Chipkarten, IT-Infrastruktur und einen neuen bürokratischen Apparat, der Verträge mit Anbietern aushandelt und prüft, ob die Eltern auch die richtigen Kurse für ihre Kinder belegen. Fünf kritische Anmerkungen zum Konzept der Bildungskarte

1. Kosten­in­ten­sität und Bürokra­ti­sie­rung

Wenn man einen Blick auf das Stuttgarter FamilienCard-System und auf das ehemalige Berliner Chipkartensystem für Asylsuchende wirft (s. „Die Bildungschipkarte – das Geheimnis des schwedischen Sozialstaates“ – Verweis unten), wird schnell klar, dass das vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) vorgeschlagene Kartensystem weder kostengünstig noch unkompliziert ist – auch wenn das Ministerium weiterhin entschlossen das Gegenteil behauptet. Sowohl die Abwicklung und Kontrolle durch das Jobcenter als auch die Chipkarte an sich stellen ein bürokratisches Monstrum dar, das unnötigerweise Gelder verschlingt, die an anderer Stelle dringend gebraucht und besser eingesetzt wären.

Fragwürdig erscheint auch, dass gerade die Jobcenter dafür verantwortlich sein sollen, die mit ihren momentanen Aufgaben schon überlastet zu sein scheinen und in denen, glaubt man den zahlreichen Erfahrungsberichten, überhaupt nichts unkompliziert abgewickelt werden kann.

Außerdem bleibt beim BMAS-Vorschlag offen, wer letztendlich genau entscheidet, welche Leistungen, in welchem Umfang und durch welchen Anbieter für das Kind erforderlich sind und ob es diesbezüglich Anhörungserfordernisse oder Einwilligungsvorbehalte (wie sie in Bezug auf die Lernförderung schon angedacht sind) geben soll, die den Betroffenen das Leben nur erschweren, anstatt eine unkomplizierte Leistungsabwicklung zu gewährleisten.

Es wäre sinnvoller, die Gelder, die für den Aufbau einer neuen Infrastruktur zum Auslesen der Bildungskarten sowie für das bürokratisch-technische Abwicklungskonzept über das Jobcenter benötigt werden, direkt den Kindern zukommen zu lassen. Das bedeutet vor allem aber auch den Eltern zu vertrauen und diesen die Gelder auszuzahlen, damit sie ihre vorrangige Erziehungsaufgabe wahrnehmen können. Genau dieses Vertrauen aber scheint das BMAS den Eltern nicht entgegen bringen zu wollen und meint, diese bevormunden zu müssen.

2. Entmün­di­gung und Eingriff in die Privat­sphäre

Das vorgelegte Konzept einer Bildungskarte stellt in zweierlei Hinsicht einen eklatanten Eingriff in die Privatsphäre der Eltern dar.

Zum Einen spricht es den Eltern ab, individuelle Entscheidungen und Handlungen frei treffen und wählen zu können. Insbesondere Familien, die auf Leistungen nach dem SGB II angewiesen sind, würden durch die Bildungskarte entmündigt – diese könnten nun nicht mehr frei darüber entscheiden, wann, wo (welcher Anbieter) oder wie genau sie die ihnen zustehenden Mittel verwenden. Insoweit treffen alle Kritikpunkte an Gutscheinsystemen auch für ein Chipkartensystem zu (s. „Bildungspaket und Bildungskarte für Hartz-IV-Kinder“, Verweis unten).

Zum anderen stellt ein chipkatenbasiertes Leistungs- und Abrechnungssystem einen massiven Eingriff in die Privatsphäre und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung dar. Ein Chipkartensystem schafft die Möglichkeit, Daten zu erheben, weiterzugeben, zusammenzuführen und für vielfältige Zwecke zu nutzen, wie in besonderem Maße die Berliner Chipkarte für Asylbewerber gezeigt hat – und dies auch, ohne dass die jeweils betroffene Person Kenntnis von einer Weitergabe oder Nutzung der eigenen Daten, geschweige denn Kontrolle über derartige Vorgänge hat.

3. Stigma­ti­sie­rung und Diskri­mi­nie­rung

Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass eine Bildungskarte stigmatisierende Effekte und dementsprechend auch Diskriminierung zur Folge haben wird. Dies ist insbesondere der Fall, wenn die Einführung nur für bestimmte Personengruppen erfolgt. So wäre bei einer alleinigen Einführung einer Bildungskarte für Hartz-IV-Empfänger und/oder Eltern mit niedrigem Einkommen bei jeder (öffentlichen) Nutzung der Karte für die gesamte Umwelt sichtbar, dass der jeweilige Nutzer einer dieser Gruppen angehört. Dies ist insbesondere dann problematisch, wenn gegenüber den Karteninhabern wie etwa den Hartz-IV-Beziehern, in der Gesellschaft Vorurteile bestehen, die dann zu Benachteiligungen oder letztlich gar Ausgrenzungen aus der Gemeinschaft führen können.

Sollte die Karte, wie vom BMAS vorgesehen, nach und nach für alle Kinder eingeführt werden, um ‚Diskriminierungen‘ vorzubeugen, dann ist damit das Problem allerdings nicht aus der Welt geschaffen. Soweit andere Personengruppen als Hartz-IV-Empfänger frei entscheiden können, ob sie die Karte nutzen, ist davon auszugehen, dass die stigmatisierenden Effekte erhalten bleiben. Wenn – und davon ist auszugehen – sich für diese Personen keine ersichtlichen Vorteile durch die Karte ergeben, gibt es für sie keinen vernünftigen Grund, die Karte zu nutzen.

4. Exklusion und Monopo­li­sie­rung 

Ein weiteres Problem der Chipkarte: Die Bildungskarte ist auch eine Kontroll- und Zugangstechnik, und nicht nur ein ‚einfaches‘ Zahlungsmedium. Bei einer Ausweitung des Konzepts wäre die (soziale) Teilhabe nur noch über die Chipkarte möglich, weil allein die Karte den Zugang zu bestimmten (Dienst-)Leistungen, Waren und Räumen eröffnet. 

Dies könnte auch schon temporär, z.B. bei Verlust der Karte oder Defekten an Kartenlesegeräten usw. zu enormen Problemen im Alltagsleben der darauf angewiesenen Kinder (und deren Eltern) führen. 

Die Betonung der BMAS auf die ‚Anschlussfähigkeit‘ der Karte an andere Systeme und Guthaben lässt noch Schlimmeres befürchten: Sollte die Karte wirklich flächendeckend eingeführt und immer mehr Systeme daran gekoppelt werden, so droht im schlimmsten Falle die soziale Exklusion bei einem Nichtbesitz. Dann hätte man mittels der Karte nicht etwa soziale Teilhabe erzeugt, sondern genau das Gegenteil! Dieses ‚worst case scenario‘ vor Augen, drängt sich einem unweigerlich die Frage auf, ob eine technische Monopolisierung so zentraler sozialer Prozesse in einer demokratischen Gesellschaft, die ihre Existenz nicht zuletzt auf die Mündigkeit ihrer Bürger stützt, überhaupt erstrebenswert ist.

Daneben ist bereits in der ersten Ausbaustufe (bei einer Begrenzung des Kartensystems auf Hartz-IV-Kinder und spezielle Angebote) auch auf der Anbieterseite eine Monopolbildung zu befürchten. So ist davon auszugehen, dass ein erheblicher Teil bereits vorhandener gemeinde- und schulnaher Netzwerke für Nachhilfe durch z.B. ältere Schüler/innen oder Studenten/innen, die sich keine teuren Kartenlesegeräte anschaffen können oder vom zuständigen Jobcenter nicht als Vertragspartner anerkannt werden, vom Markt verdrängt werden. 

Zwar betont das BMAS in dem am 20. September vorgelegten Referentenentwurf an mehreren Stellen, dass ‚zivilgesellschaftliche Strukturen‘ der Vorrang eingeräumt werden soll – jedoch ist zu befürchten, dass dies in der praktischen Umsetzung nicht immer gelingen wird. Als eine erste Hürde stellt sich dabei bereits die Bindung der Anbieter an § 17 Absatz 2 SGB II: Demnach müssen die Anbieter gleichartige Vereinbarungen abschließen, wie sie derzeit zwischen Einrichtungen und Diensten für Leistungen zur Eingliederung und den Agenturen für Arbeit existieren, um überhaupt Leistungen des Bildungspakets für Leistungsempfänger anbieten zu können. Eine Bildungskarte, die unausweichlich auch noch Kosten (und zusätzlichen Organisationsaufwand) für den jeweiligen Anbieter mit sich bringt, stellt insbesondere für die zivilgesellschaftlich organisierte Anbieter (die schließlich keine großen Summen umsetzen) eine weitere Hürde dar.

Durchaus vorstellbar ist, dass bereits bestehende von den Ländern, Kommunen und Städten eingerichtete ‚Bonussysteme‘ wie z.B. die BonusCard in Stuttgart, der Berlinpass oder die im Zuge der Stuttgarter FamilienCard gewährten Leistungen praktisch durch Leistungen aus dem Bildungspaket ersetzt werden. Somit würde zwar nun der Bund mehr bezahlen, die Länder, Kommunen und Städte allerdings weniger bezuschussen – den Hartz-IV-Empfängern und ihren Kindern aber bliebe im Endeffekt nicht mehr Geld als zuvor und folglich auch keine Verbesserung der Teilhabechancen.

5. Daten­schutz­recht­liche Impli­ka­ti­onen und Entstehung panop­ti­scher Effekte

Überaus problematisch stellt sich schließlich der Umgang mit den im Zusammenhang mit einem Chipkartensystem anfallenden Daten dar. Über die rechtliche Ausgestaltung eines solchen Systems wurde vom BMAS bisher noch nichts bekannt gegeben. Hier allerdings stellen sich eine Menge kritischer Fragen – von der Erhebung, Speicherung und Übermittlung der Daten über Zugriffs- und Nutzungsbefugnisse bis hin zur technischen Umsetzung (Datensicherheit). Welche Daten werden gesammelt und wie an wen weitergegeben? Wie lange werden die Daten gespeichert? Wer hat Zugriff? Wie werden die Daten vor unbefugten Zugriffen geschützt? …

Im Vorschlag des BMAS wird immer wieder die ‚Vernetzung‘ durch sogenannte ‚Bündnisse vor Ort‘ betont. Das bedeutet neben einer starken formellen sozialen Kontrolle der Eltern und Kinder auch, dass die anfallenden Daten zwischen vielen Beteiligten ausgetauscht, und und unter Umständen auch zweckentfremdet genutzt und missbraucht werden.

Besonders kritikwürdig erscheint dabei die Rolle, die die Jobcenter – als staatliche Agenten der Abwicklung und Kontrolle – in diesem Netz aus staatlichen und privaten Akteuren einnehmen sollen. Da hier im Endeffekt alle Fäden zusammen laufen, muss davon ausgegangen werden, dass hier auch alle möglichen Daten ‚hängen bleiben‘ und gegebenenfalls sogar eine zentrale Datenspeicherung in den Jobcentern angedacht ist. 

Da zur Infrastruktur der Bildungskarte noch nichts Konkretes verlautbart wurde, kann es zwar nicht mit Sicherheit gesagt werden, jedoch ist eine immense Datensammlung zu befürchten. Möglich scheint sie hier auf jeden Fall zu sein. Und damit nicht genug: Auch über eine Verknüpfung mit anderen Datensätzen (z.B. der Daten von Eltern und Kindern) muss in diesem Kontext nachgedacht werden. 

Leider ist auch beim Bildungskarten-Vorschlag aus dem BMAS nichts von Transparenz und Nachvollziehbarkeit zu spüren. Aus dem Ministerium hört man nur von der Anschlussfähigkeit der Karte und dass bald alle (Kinder) sie bekommen sollen. Dabei sollte immer auch mitbedacht werden, dass es bei den Betroffenen infolge der entstehenden (oder auch nur der vermeintlich entstehenden) Datensammlungen zu ‚vorgreifenden‘ Verhaltensanpassungen und der Internalisierung von Normen kommen kann. Solche sogenannten ‚panoptischen Effekte‘ kommen einer Selbstzensur, die sich an den Erwartungen der ‚Überwachenden‘ ausrichtet, gleich. Sie bedeuten unter Anderem für jeden einzelnen alltägliche indirekte Zwänge und Freiheitsbegrenzungen – und spätestens hier muss man sich die Frage stellen, ob eine Chipkarte ein solches (persönliches wie gesellschaftliches) Risiko wert ist.

Aufgrund der vorgebrachten Bedenken gegen eine Bildungschipkarten-Infrastruktur wäre es besser, man würde von diesem Modell Abstand nehmen und sich stattdessen lieber den wirklich drängenden Fragen der Existenzsicherung widmen, um diese transparent, realitätsgerecht und vor allem zum Wohl der Kinder zu gestalten.

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