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Stellung­nahme zum Gesetz­ent­wurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP – Entwurf eines Gesetzes zur Ermittlung von Regel­be­da­rfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozial­ge­setz­buch

22. November 2010

Die Humanistische Union fordert eine Komplett-Überarbeitung des vorgelegten Gesetzentwurfes. Diese muss in Zusammenhang mit einem transparenten, öffentlichen Diskurs erfolgen: Zunächst müssen alle Zahlen und Fakten auf den Tisch und dann muss fair und realitätsgerecht diskutiert werden, welche Aufwendungen für eine Existenz in Würde und Freiheit notwendig sind. Sachfremde Erwägungen haben dabei nichts zu suchen. Nur so kann ein echtes Existenzminimum, zu dem auch ein Mindestmaß an sozialer Teilhabe gehört, berechnet werden!

Stellungnahme zum Gesetzentwurf der Regierungsfraktionen (Bundestagsdrucksache 17/3404)

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat in seinem Urteil vom 9. Februar 2010 festgeschrieben, welche Neuregelungen durch den Gesetzgeber zu treffen sind, um die Verfassungsmäßigkeit der Regelsatzbemessungen zu gewährleisten. Im zentralen dritten Leitsatz erteilt das BVerfG in Bezug auf die Ermittlung des Anspruchsumfangs dem Gesetzgeber den unmissverständlichen Auftrag „alle existenznotwendigen Aufwendungen in einem transparenten und sachgerechten Verfahren realitätsgerecht sowie nachvollziehbar auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren zu bemessen.“

Nachdem lange Zeit diesbezüglich von Seiten des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) überhaupt nichts geschehen ist, präsentierte Bundesministerin von der Leyen endlich im September einen Referentenentwurf in zwei Teilen: Einen ersten Teil am 20. September 2010, mit dem der gesetzliche Rahmen für die Neuregelungen ab 1. Januar 2011 gesteckt werden soll und der auch das sogenannte ‚Bildungspaket‘ des BMAS enthält, und einen zweiten Teil am 26. September 2010, der vor allem die im ersten noch fehlenden statistischen Grundlagen und die Berechnungen der Regelsätze darlegt.

Die Bürgerrechtsorganisation Humanistische Union (HU) sieht in dem nun von den Regierungsfraktionen eingebrachten Gesetzentwurf die Forderungen des BVerfG jedoch nicht erfüllt – mehr noch: Die HU sieht in diesem einen eklatanten Verstoß gegen die Vorgaben des höchsten Gerichts. Die Bürgerrechtsorganisation hat bereits in Bezug auf den ersten Teil des Referentenentwurfs vom 20. September 2010 festgestellt, dass dieser den Anforderungen, die das BVerfG an eine Neuregelung der Regelsätze gestellt hat, nicht genügt und die in diesem enthaltenen Konzepte äußerst problematisch sind. [1] Diese Kritik setzt sich nun am Gesamtentwurf fort.

Der Gesetzentwurf ist hinsichtlich der Regelsatzbemessung weder transparent noch nachvollziehbar und greift auf alte Verteilungsschlüssel zurück. Daneben ist er bei der Regelsatzbemessung und -fortschreibung von sachfremden Erwägungen getragen, in seinen Wertentscheidungen und deren Begründungen realitätsfremd und in der Argumentation zirkulär, indem er die alten Sätze faktisch als Maßstab für die neuen ansetzt. Außerdem sind einzelne Rechnungen des Entwurfs nicht korrekt und über weite Strecken undurchschaubar.

Im Folgenden wird die Kritik anhand sechs essenzieller Punkte veranschaulicht und präzisiert:

  1. Fehlende Transparenz und Nachvollziehbarkeit
  2. Undurchsichtige Berechnung der Kinderanteile auf der Grundlage alter Verteilungsschlüssel
  3. Sachfremde Erwägungen bei der Regelsatzbemessung und -fortschreibung
  4. Fragwürdige und vorurteilsbelastete Wertentscheidungen
  5. Realitätsfremde Begründungen und zirkuläre Bestimmung des Existenzminimums
  6. Sanktionensystem unterminiert das Existenzminimum
1. Fehlende Transparenz und Nachvoll­zieh­bar­keit

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 9. Februar 2010 ausdrücklich angemahnt, dass eine Neuberechnung der Regelsätze in einem „transparenten und sachgerechten Verfahren realitätsgerecht sowie nachvollziehbar auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren“ erfolgen muss. Dieser Forderung kommt der Gesetzentwurf nicht nach. So werden wichtige Entscheidungen nicht begründet und Zahlen und Quellen nicht eindeutig ausgewiesen.

Die vom Bundesverfassungsgericht ausdrücklich geforderte Transparenz und Nachvollziehbarkeit ist auch bei der Bemessung der Regelsätze nicht gegeben. Vielmehr muss auch hier, wie bei der Vorlage des erstens Teils des Referentenentwurfs vom 20. September 2010, von einem Fehlen von Transparenz gesprochen werden. So wird eine große Anzahl der regelbedarfsrelevanten Positionen im Gesetzentwurf überhaupt nicht in Zahlenwerten ausgewiesen. Auch wenn das Statistische Bundesamt standardmäßig in seinen Veröffentlichungen Werte aufgrund niedriger Validität mit „/“ ausweist, so müssen diese Werte doch im Zug einer transparenten und nachvollziehbaren Regelsatzberechnung öffentlich gemacht werden.

Bei den Berechnungen einiger Abteilungen ist überhaupt nicht nachvollziehbar, welche Werte für einzelne Positionen in die Regelsätze einfließen. Dies ist z.B. der Fall bei der Abteilung 5 (Innenausstattung, Haushaltsgeräte und -gegenstände) der Regelbedarfsstufe 1 (alleinstehende und alleinerziehende Erwachsene) oder bei der Abteilung 9 (Freizeit, Unterhaltung, Kultur) der Regelbedarfsstufe 4 (Jugendliche von Beginn des 14. bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres). Ebenso ist bei allen aus der Sonderberechnung ‚Strom‘ entnommenen mit „/“ gekennzeichneten Positionen ebenfalls unmöglich, die einzelnen angerechneten Beträge nachzuvollziehen. Bei anderen Positionen wiederum lassen sich die einzelnen Werte zwar mit einigem Aufwand aus den Tabellen des Statistischen Bundesamtes erschließen, jedoch nicht (mit Sicherheit) auf ihre Korrektheit in der Regelsatzberechnung überprüfen – z.B. Abteilung 4 (Wohnen, Energie und Wohnungsinstandhaltung mit Sonderauswertung Strom) der Regelbedarfsstufe 1.

Daneben mangelt es auch bei einigen Positionen an Transparenz darüber, zu welchem Anteil diese genau regelbedarfsrelevant sein sollen. Ein schlichter erklärungsloser Verweis auf „nach Warenkorb“, „Wägungsschema“ oder gar auf „gesetzter Wert“ – was durchaus auch den Anschein einer willkürlichen Festlegung hat – ist nicht aussagekräftig genug, um wirkliche Transparenz herstellen zu können. Insbesondere wenn dann auch noch, wie bei Abteilung 5 (Innenausstattung, Haushaltsgeräte und -gegenstände) für die Position ‚motorbetriebene Werkzeuge‘ etc., einmal in Bezug auf die Regelbedarfsstufe 1 das eine, dann aber bei der Regelbedarfsstufe 4 wieder das andere genannt wird, ist die Verwirrung komplett. Hier muss klar sein, um welchen prozentualen Anteil es sich genau handelt und aus welcher Quelle dieser stammt, so dass nachvollzogen werden kann, wie er Zustande kommt.

Den Bürgerinnen und Bürgern auf der Homepage des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales alle Auswertungen und Sonderauswertungen bereitzustellen, ist zwar schön und gut, hat jedoch mit Durchsichtigkeit und Klarheit wenig zu tun, sondern schafft zunächst nur Raum für allgemeine Verwirrung und ist daher scheinbar transparent. Begründungen liefern das BMAS und der Gesetzgeber für seine Entscheidungen an vielen Stellen jedoch nicht – angefangen bei der Abgrenzung unterer Einkommensschichten, über das Heranziehen bestimmter Verteilungsschlüssel bis hin zur Wahl des Mischindexes für die Fortschreibung. Zur Transparenz gehört aber in erster Linie, alle Entscheidungen nachvollziehbar zu begründen. Außerdem müssen alle Zahlen preisgegeben, angewandte Verteilungsschlüssel und Indexe präzise ausgewiesen werden und vor allem auch zur ‚Kürzung‘ verwendete Referenzwerte und die genauen Quellen von diesen durchweg benannt werden.

2. Undurch­sich­tige Berechnung der Kinder­an­teile auf der Grundlage alter Vertei­lungs­sch­lüssel

Separate Verbraucherdaten für Kinder liefert die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe leider nicht. Deshalb greift der Gesetzgeber auf Verteilungsschlüssel zurück, um kinderspezifische Ausgaben abgrenzen zu können. Dies geschieht jedoch in einer Art und Weise, dass nicht nachvollzogen werden kann, wie einzelne regelbedarfsrelevante Positionen zustande kommen. Außerdem sind auch noch Zweifel an der Aktualität der Schlüssel angebracht.
Einige Probleme ergeben sich auch in Folge dessen, dass für Kinder im Zuge der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe separat keine Daten erhoben werden können. Deshalb müssen aus den vorhandenen Datensätzen zu den Verbrauchsausgaben von Paarhaushalten mit einem Kind die nur für das Kind getätigten Ausgaben anteilig herausgerechnet werden. Hierfür werden im Gesetzentwurf diverse Verteilungsschlüssel verwendet. Dabei handelt es sich um einen grundsätzlich vertretbaren Ansatz, der auch versucht, Unterschiede in der Verteilung bei verschiedenen Ausgabeposten zu berücksichtigen.

Allerdings geht hinsichtlich der Verteilungsschlüssel, die zur Berechnung von den ’spezifischen Kindersätzen‘ genutzt werden, aus den bisher vorgelegten Daten nicht eindeutig hervor, welcher der acht verfügbaren Schlüssel für die einzelne regelbedarfsrelevante Position verwendet wurde. Somit kann, wenn überhaupt, nur mit einem erheblichen Aufwand herausgefiltert werden, welcher Schlüssel auf welche Position angewandt wurde. Dies ist vom Gesetzgeber klar darzulegen. Außerdem muss auch offengelegt werden, wie die jeweiligen Schlüssel, insbesondere die, die in sich noch weiter ausdifferenziert sind, zur Anwendung gelangen. Nur so kann Nachvollziehbarkeit gewährleistet werden. So ist zwar klar, dass z.B. für die Position „Nahrungsmittel“ und „alkoholfreie Getränke“ (Code: 0110000- 0120000) der Schlüssel S1 „Ernährung und Getränke sowie Verpflegungsleistungen“ Anwendung finden soll, jedoch kommt man beim Nachrechnen auf keinen der sechs möglichen Schlüsselwerte und kann somit nur mutmaßen, dass hier Werte gemittelt werden oder aber noch weiter ausdifferenzierte Statistiken (zu Alter und Geschlecht) vorliegen, auf deren Grundlage der Anteil des Kindes ausgerechnet wurde. Nachvollziehbar und transparent ist hier jedoch nichts.

Dass die Verteilungsschlüssel teilweise, wie auch der Entwurf betont, ‚äußerst komplex‘ und noch in sich nach Alter, Geschlecht und alte/neue Bundesländer differenziert sind, ist aber in diesem Zusammenhang nicht nur vorteilhaft. Insbesondere die Differenzierung nach Alter sowohl in den Schlüsseln S1 und S2 als auch O (siehe Seite 111 f. des Gesetzentwurfs) scheint problematisch zu sein, denn die Differenzierung findet nicht analog zu den Altersgruppen der Regelbedarfsstufen statt. Darüber jedoch, wie die unterschiedlichen Altersstufen ‚passend gemacht werden‘, schweigen sich die Verfasser des Entwurfs aus. Schließlich scheint ebenfalls der Rückgriff auf Berechnungen und Statistiken von 1998 (zumindest teilweise) auch nicht unproblematisch zu sein. Dass hier Daten von 2003 eingeflossen sind, wie es im Entwurf suggeriert wird, ist dabei schlichtweg irreführend. Die angewendeten Verteilungsschlüssel beziehen sich vor allem auf Berechnungen auf der Grundlage der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) 1998 (vgl. Wirtschaft und Statistik (WiStA, Statistisches Bundesamt): Margot Münnich, Thomas Krebs: Ausgaben für Kinder in Deutschland, WiSta 12/2002, Seite 1080-1100). Gerade die prozentualen Anteile des Kindes an den Ausgaben eines Paares mit einem Kind für Strom und Wohnungsinstandhaltung, die in alte und neue Länder differenziert sind, scheinen der aktuellen Wohnungsmarktlage nicht mehr angemessen zu sein. Hier müsste unter anderem transparent geklärt werden, ob die in der Studie von 1998 zugrunde liegenden Annahmen bezüglich des Wohnraumbedarfs heute überhaupt noch zutreffen. Auf jeden Fall ist die doch recht plumpe Aussage des BMAS: „Die Methodik und die einzelnen Verteilungsschlüssel wurden bereits im Jahr 2002 in einem Fachaufsatz veröffentlicht; sie ist deshalb transparent und wird allgemein als alternativlos anerkannt“ (Seite 111 des Entwurfs) eher mit Vorsicht zu genießen. 1998, als die Berechnungen der Kinderkosten erneut durchgeführt werden sollten, schien es notwendig, aufgrund seit 1988 veränderter Tatbestände ein Gremium einzurichten, das die statistischen-methodischen Regeln kritisch prüfen und bessere, d.h. den Entwicklungen angemessene Lösungen erarbeiten sollte. Auch darüber, ob diese Verteilungsschlüssel angemessen sind, muss im Sinne der Transparenz, wenn schon nicht der Sachmäßigkeit wegen, eine öffentliche Diskussion stattfinden. Zumindest kann jedenfalls erwartet werden, dass für die Wahl bestimmter Schlüssel ernsthafte, nachvollziehbare Argumente vorgetragen werden.

3. Sachfremde Erwägungen bei der Regel­satz­be­mes­sung und -fort­s­chrei­bung

Zu Recht wurde am vorliegenden Gesetzentwurf wiederholt kritisiert, dass regelsatzrelevante Beträge für einzelne Positionen wie Internet, öffentliche Verkehrsmittel oder Erwachsenenbildung zu gering ausfallen. Dies ist eine Folge der alleinigen Bezugnahme auf das Ausgabeverhalten und der Verdrängung tatsächlicher Bedarfe, insbesondere aber auch sachfremder Erwägungen einer auf die Minimierung der Regelsätze ausgerichteten Politik.

Auch bei der ‚Abgrenzung der Referenzhaushalte‘, der ‚Abgrenzung der unteren Einkommensschichten‘ und der ‚Fortschreibung der regelbedarfsrelevanten Verbrauchsausgaben‘ ist ein Mangel an Transparenz zu beanstanden, der sich wie ein roter Faden durch den gesamten Gesetzentwurf zieht. So muss z.B. nachvollziehbar begründet werden, warum in Bezug auf die Abgrenzung der unteren Einkommensschichten bei den Einpersonenhaushalten nur noch die untersten 15 Prozent – wenn überhaupt, denn genau genommen sind es einer Grafik des BMAS (siehe: http://www.bmas.de/portal/48250) folgend nur 13,7 Prozent – der Haushalte herangezogen werden und nicht 20 Prozent (bzw. dem BMAS zufolge exakt: 19,5 Prozent) wie bei den Familienhaushalten. Zumindest dürfen hier aber nicht unterschiedliche Aussagen gemacht werden, so dass zum Schluss niemand mehr weiß, welche Auswahl von Haushalten nun genau die Basis der Berechnungen bildet.

Auch wenn der Gesetzgeber hier eine Begründung schuldig bleibt, so zeigt sich doch recht deutlich, dass es hierbei nicht in erster Linie um eine sach- und realitätsgerechte Ermittlung des zur Existenz notwendigen Minimums gehen kann. Vielmehr muss davon ausgegangen werden, dass sachfremde Erwägungen den Hintergrund für die Entscheidung bilden, nicht mehr die Ausgaben der untersten 20 Prozent der Haushalte auf der Einkommensskala heranzuziehen (wie bei früheren Auswertungen der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS)). Hierbei geht es vielmehr darum, einen ‚Abstand‘ zu Geringverdienern zu schaffen, d.h. Bezieher von ‚Hartz-IV‘ finanziell schlechter zu stellen. Die Ermittlung des zur Existenz notwendigen Minimums darf sich allerdings nicht an der Idee des ‚Lohnabstands‘ messen, sondern muss sich an den realen Bedürfnissen (bzw. ‚Bedarfen‘) und den dafür notwendigen (existentiellen) Aufwendungen orientieren.

Eben dieselben sachfremden Erwägungen scheinen auch den Hintergrund für die Wahl des Mischindexes für die Anpassung der Leistungshöhe zu bilden. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits in seinem Urteil vom 9. Februar 2010 vorgeschlagen, die Fortschreibung entweder an einer „Hochrechnung anhand der Preisentwicklung in den Ausgabepositionen“ oder anhand von Daten aus den Laufenden Wirtschaftsrechnungen des Statistischen Bundesamtes vorzunehmen. Den Vorschlag, die Entwicklung der Preise für die Fortschreibung heranzuziehen, scheint der Gesetzgeber allerdings weder als brauchbar noch als angemessene Übergangslösung angesehen zu haben. Stattdessen setzt der Entwurf auf eine Kopplung der Fortschreibung der Regelbedarfsstufen zu 30 Prozent an die Lohnentwicklung und nur zu 70 Prozent an die Preisentwicklung. Wiederum ist hierbei auch nicht transparent, welche Zahlen genau die Grundlage für die 0,55 Prozent bilden, mit denen die übergangsweise Fortschreibung der regelbedarfsrelevanten Verbraucherausgaben erfolgen soll. Laut Begründung sollte das Statistische Bundesamt extra hierfür einen ’speziellen Index‘ erstellen. Dieser muss nun allerdings offen gelegt werden, ebenso wie eindeutig dargelegt werden muss, wie lange genau diese Übergangsregelung greifen soll.

Auch scheint die Höhe von 0,55 Prozent des Fortschreibungsmechanismus auf den ersten Blick zu gering auszufallen. Wie dieser genau zustande kommt, ist nicht nachvollziehbar, jedoch erscheint die alleinige Berücksichtigung der „bundesdurchschnittliche[n] Entwicklung der Preise [und] der Nettolöhne im Vorjahr“ (erster Teil des Referentenentwurfs vom 20. September 2010, Seite 119) nicht ausreichend, werden doch Daten von 2008 bei den Berechnungen zu Grunde gelegt. Demnach (vorausgesetzt man akzeptiert den Mischindex) müsste zur Einführung der neuen Regelbedarfsstufen eine Fortschreibung eigentlich zweimal – zum 1. Juli 2009 und zum 1. Juli 2010 – erfolgen. Dadurch würden die Regelbedarfsstufen noch einmal angehoben.
Dafür, dass es nur darum geht, die Regelsätze möglichst gering zu halten, spricht vor allem auch die Abgrenzung der Referenzhaushalte, bei der im Endeffekt nur all jene Haushalte als Basis der Regelsatzberechnung ausgeschlossen wurden, die noch den alten ‚Hartz-IV‘-Satz bezogen haben. Jede Person, die folglich auch nur einen Euro mehr bezogen/bekommen hat – dies betrifft insbesondere sogenannte ‚Aufstocker‘ – sind somit weiterhin in den 13,7 Prozent der Haushalte enthalten, aufgrund derer die neuen Sätze berechnet werden sollen. Und auch sogenannte ‚verdeckte Arme‘ bleiben ebenfalls in den Referenzgruppen enthalten. Damit wird erreicht, dass die Regelbedarfsstufen auf einem möglichst geringen Niveau zementiert werden.

Dies schlägt sich schließlich alles in den Positionen der EVS 2008 nieder, die bei der Berechnung der neuen Regelbedarfsstufen noch als regelsatzrelevant eingestuft wurden. Dementsprechend fallen einige dieser Posten offensichtlich in Umfang und Höhe viel zu gering aus. So ist beispielsweise der für alleinstehende und alleinerziehende Erwachsene (Regelbedarfsstufe 1) als regelsatzrelevant anerkannte Betrag für Internetnutzung („Kommunikationsdienstleitungen – Internet-/Onlinedienste) mit 2,28 Euro erkennbar viel zu gering und absolut unrealistisch. Dasselbe gilt für den Betrag von 1,39 Euro, der den Bildungsbedarf („Gebühren für Kurse u.ä.“) von Erwachsenen im Regelsatz repräsentieren soll. Hierin kommt in keiner Weise der tatsächliche Bildungsbedarf Erwachsener zum Ausdruck – vielmehr wird in diesem Betrag sichtbar, dass bei den ausgewählten Referenzhaushalten in diesem Bereich bereits ein Defizit besteht.

Außerdem ist der als regelsatzrelevant anerkannte Betrag für die Nutzung des Öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) mit 18,41 Euro (bzw. 20,41 Euro inklusive „auf Reisen“) offensichtlich viel zu gering angesetzt – wo den Empfängern von Leistungen nach dem SGB II schon nicht die Nutzung eines Personenkraftwagens (PKW) zuerkannt wird. Damit sind vielerorts nicht einmal zehn Einzelfahrscheine mit öffentlichen Verkehrsmitteln pro Monat bezahlbar, geschweige denn, dass davon eine Monatskarte finanziert werden könnte. Hier wird absolut an der Realität vorbei gerechnet.

4. Fragwürdige und vorur­teils­be­las­tete Wertent­schei­dungen

Dass bei der Ermittlung eines Existenzminimums, das auch Teilhabebedürfnisse mit einschließt, Wertentscheidungen getroffen werden müssen, steht außer Frage. Bisher haben sich das Bundesministerium für Arbeit und Soziales bzw. die Regierungsfraktionen vorbehalten, diese im Alleingang zu treffen. Hier bleiben jedoch einige Fragen offen. So erweisen sich die Wertentscheidungen teilweise als realitätsfremd und scheinen von landläufigen Vorurteilen gegen ‚Hartz-IV‘-Empfänger geprägt zu sein. Dabei werden die vom Bundesverfassungsgericht geforderte Berücksichtigung eines ‚Mindestmaßes an Teilhabe‘, wie auch die konkrete Lebenssituation der Leistungsberechtigten nicht ausreichend beachtet.

Bei der Regelsatzbemessung dürfen Vorurteile keine Rolle spielen, denn hier geht es um eine realitäts- und sachgerechte Bemessung eines für die Existenz notwendigen Minimums. Vorurteile wie etwa ein unterstellter übermäßiger Alkoholkonsum bei ‚Hartz-IV‘-Empfängern sind nicht nur sachfremd, sondern vor allem auch der Realität in keiner Weise angemessen. Eine Durchsicht der bei der Berechnung der Regelbedarfsstufen ausgeschlossenen Positionen der Einkommens- und Verbrauchstichprobe verstärkt jedoch den Eindruck, dass es dem Gesetzentwurf nicht gelingt, sich derartigen Voreingenommenheiten zu entziehen. Dies spiegelt sich vor allem auch im Ausschluss von alkoholischen Getränken und Tabakwaren wider. Zwar handelt es sich hierbei um sogenannte ‚Genussgifte‘ – zu diesen gehören allerdings auch Tee, Kaffee, Zucker und Gewürze. Bei der Einstufung als nicht regelsatzrelevant geht es also weniger darum, was diese sind, sondern vielmehr darum, womit diese assoziiert werden. Zudem scheint hier, ebenso beim Ausschluss von „Schnittblumen und Zimmerpflanzen“, „Unterhaltung eines Gartens“ und Haustiere, die angelegte Messlatte für regelsatzrelevante Ausgaben eher von einem Sanktionsdenken als von einer realitätsgerechten Suche nach einem zu einem würdigen Leben notwendigen Mindestmaß getragen zu sein.

Dabei erweisen sich einige Wertentscheidungen bei genauerer Betrachtung als außerordentlich realitätsfremd. So z.B. der Ausschluss der Position „Personenkraftwagen und Motorrad“ aus den Regelsätzen: Man stelle sich hier einmal das Beispiel einer auf dem Land wohnenden alleinerziehenden Mutter mit drei oder vier Kindern vor – allein die notwendigen täglichen Besorgungen und Einkäufe werden für diese ohne PKW unmöglich, einmal ganz abgesehen davon, dass ihre Kinder mit erheblichen Einbußen hinsichtlich ihrer Möglichkeit auf soziale Teilhabe rechnen müssen. Nachdem diesbezüglich im Sinne eines laufenden, nicht nur einmaligen, besonderen Bedarfs bisher keine Leistung vorgesehen zu sein scheint, kann man diese Entscheidung nicht gerade als realitätsgerecht bezeichnen. Wie das Beispiel zeigt, kann jedenfalls nicht im Generellen davon ausgegangen werden, dass ein Auto nicht zur Existenzsicherung benötigt wird. Besonders auch die Entscheidung, dass Haustiere nicht regelsatzrelevant sein sollen, stellt sich als nicht realitätsgerecht dar. Gerade Haustiere können als Mittel zur sozialen Teilhabe fungieren und bergen insbesondere auch für Kinder die Möglichkeit, wichtige Erfahrung hinsichtlich des Erlernens von Empathie und Verantwortungsbewusstsein zu machen. Um solche essentiellen die Sozialisation betreffenden Dinge allerdings zu berücksichtigen, müsste der Gesetzgeber die gesamte Realität von Leistungsberechtigten einmal in den Blick fassen, anstatt ständig nur in die eigene Geldbörse zu schauen.

Um allerdings einen solchen ‚Blick über den Tellerrand‘ überhaupt zu ermöglichen, muss die Debatte – so auch die Forderung der Bürgerrechtsorganisation Humanistische Union – endlich auf eine andere Ebene geführt werden. Sie muss losgelöst von ‚Hartz-IV‘-Klischees und stattdessen in Rückbezug auf die im Grundgesetz verankerten gemeinsamen Werte dieser Gesellschaft, insbesondere Artikel 1 geführt werden. Hier steht: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – und das bedeutet in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 1 des GG (Sozialstaatsprinzip): Jenen, die am Rand der Gesellschaft stehen, neben der Sicherung der nackten Existenz auch ein Recht auf soziale Teilhabe und mithin auch auf Wohlbefinden zuzugestehen. Dies würde schlussendlich nicht nur dem Einzelnen zu Gute kommen, sondern auch der Gesellschaft insgesamt.

Solchen Gedanken allerdings scheint der Gesetzgeber, wenn überhaupt, dann jedenfalls zu wenig Bedeutung beizumessen. Stattdessen vermittelt der vorliegende Entwurf den Anschein, dass es den Verfassern nur darum geht, die Regelsätze möglichst gering zu halten. Nicht zuletzt ist in diesem Kontext auch die Angemessenheit der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) als Grundlage für die Ermittlung eines Existenzminimums in Frage zu stellen. Diese erfasst schließlich neben Einkommens- nur Verbrauchsausgaben. Das Heranziehen der EVS als Grundlage für die Regelsatzberechnungen, ist letztlich von der impliziten Annahme getragen, dass mit dem erfassten Verbrauch auch gleichzeitig die lebensnotwendigen Bedürfnisse gedeckt werden. Diese Annahme lässt sich anhand der vorliegenden Daten (zumindest in Bezug auf die unteren 15 Prozent der Haushalte auf der Einkommensskala) nicht bestätigen – eher das Gegenteil ist der Fall: Regelsatzrelevante Ausgaben, die in bestimmten Bereichen offensichtlich in Umfang und Höhe viel zu gering ausfallen, widerlegen die Annahme, dass hier von tatsächlichen Aufwendungen (Verbrauch) auf die existenznotwendigen Aufwendungen (Bedürfnisse) geschlossen werden kann. Nur auf Grundlage von Daten zum Verbrauch und Konsum bestimmter Güter und Dienstleistungen, kann keine Aussage über die tatsächlichen Bedürfnisse gemacht werden, an denen alleine sich letztendlich ein Existenzminimum messen lässt.

5. Reali­täts­fremde Begrün­dungen und zirkuläre Bestimmung des Existenz­mi­ni­mums

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 9. Februar 2010 unter anderem gefordert, dass eine Neuberechnung der Regelsätze in einem „sachgerechten Verfahren“ und „realitätsgerecht“ erfolgen muss. Der vorliegende Gesetzentwurf der Regierungsfraktionen erweist sich jedoch in seinen Wertentscheidungen und insbesondere auch in deren Begründungen als äußerst realitätsfremd. Zudem ist er in der Argumentation zirkulär, indem er die alten – nicht verfassungsgemäß ermittelten – Sätze faktisch als Maßstab für die neuen ansetzt.

Der vom Bundesverfassungsgericht ausdrücklich herausgestellte Gedanke, dass auch „ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben“ (vgl. erster Leitsatz des Urteils vom 9. Februar 2010) durch die Regelsätze gewährleistet werden muss, scheint bei den Entscheidungen des Gesetzgebers regelmäßig in den Hintergrund zu geraten. Dies geht besonders aus den Begründungen zu den gefällten Wertentscheidungen hervor – insofern der Entwurf solche überhaupt liefert. So wird bei etlichen Positionen nur darauf verwiesen, dass diese auch bereits bei der Sonderauswertung der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) 2003 als nicht regelsatzrelevant eingestuft wurden, was im Endeffekt einer Nicht-Angabe von Gründen gleichkommt. Ansonsten wiederholen die Verfasser hauptsächlich gebetsmühlenartig in ihren Begründungen, dass diese oder jene Position nicht regelbedarfsrelevant sei, da sie nicht der Existenzsicherung diene. Der Aspekt der sozialen Teilhabe wird dabei vollkommen ausgeblendet und die tatsächlichen Entscheidungsgründe werden verschwiegen.

In einigen Fällen neu gestrichener Posten, d.h. neuer nicht regelsatzrelevanter Positionen der EVS 2008 (im Vergleich zur EVS 2003), bietet der Entwurf allerdings auch konkretere Begründungen der Wertentscheidungen an. Diese jedoch erweisen sich teilweise als außerordentlich realitätsfremd. Wirft man z.B. einen Blick auf die Begründung des Ausschlusses von „Chemische Reinigung, Waschen, Bügeln und Färben“, so wird zum einen mit der Seltenheit solcher Ausgaben argumentiert und zum anderen auf das Vermittlungsbudget der Jobcenter verwiesen. Insbesondere dieser Verweis aber geht an der Realität vorbei, denn es ist kaum vorstellbar, dass ein Jobcenter in der Praxis in jedem Einzelfall derartige Ausgaben zu übernehmen bereit ist. Ähnlich ist auch die Begründung in Bezug auf die Position „Fremde Reparaturen an Handwerkzeugen“ fadenscheinig. Hier wird zum einen unterstellt, dass Empfänger von Leistungen nach dem SGB II hochwertige Werkzeuge, bei denen allein die Reparatur wirtschaftlich vertretbar wäre, sowieso nicht besitzen und zum anderen behauptet, dass andere Werkzeuge nicht repariert werden müssen. Gerade aber Menschen mit einem eng gesteckten finanziellen Rahmen sind in der Regel darauf angewiesen, vorhandene Gegen­stände und Werkzeuge möglichst lange zu nutzen und gegebenenfalls auch zu reparieren, da ihnen eine Neuanschaffung wirtschaftlich nicht möglich ist. Gleiches gilt auch für die Position „Anfertigung und fremde Reparaturen von Heimtextilien“. Der Verweis auf Leistungen die für eine Erstausstattung der Wohnung gewährt werden können, untermauert dabei die Argumentation des Gesetzgebers nicht. Gerade auch, wenn einmal neu Gekauftes kaputt geht – und dies insbesondere auch vor dem Hintergrund, dass für ‚Hartz-IV‘-Empfänger noch nicht einmal eine Haftpflicht- und/oder Hausratsversicherung im Regelsatz vorgesehen ist – ist eine Reparatur von alltäglichen Gebrauchsgegenständen als absolut notwendig einzustufen.

Nicht nur die in diesen Beispielen hervortretende einseitige Sichtweise des Entwurfs scheint hier das Problem zu sein. Jenes, was eine derartige Sichtweise begünstigt und viel grundlegender problematisch ist, ist, dass das Konzept der Entwurfsverfasser von Beginn an in der Argumentation zirkulär ist, indem es die alten Sätze als Maßstab für die neuen ansetzt. Dies wurde in der Begründung zu § 3 des zweiten Teils des Referentenentwurfs vom 26. September 2010 deutlich, hier schreibt das BMAS auf Seite 68: „Methodisch knüpft die Regelung des § 3 an das Existenzminimum an. Sie schließt sicher alle Haushalte für die Bestimmung der Referenzgruppe aus, die lediglich über ein Einkommen verfügen, dass zur Sicherung des Lebensunterhalts notwendig ist. Nur diejenigen Haushalte, für die gewährleistet ist, dass sie von Einkünften oberhalb des Existenzminimums leben, werden in der Referenzgruppe berücksichtigt. Aus der Gesamtgruppe des Datensatzes sind deshalb diejenigen Haushalte ausgeschlossen, die lediglich über Transferleistungen verfügen, die das Existenzminimum decken.

Damit wird implizit ein Existenzminimum anhand der bisherigen Regelsätze, die definitiv nicht verfassungsgemäß berechnet wurden, festgesetzt („Transferleistungen […], die das Existenzminimum decken.“). Dieses als ‚objektiv‘ behandelte Existenzminimum soll nun die Basis für die Abgrenzung der Referenzhaushalte bilden. Das Problem ist nur: Ein so definiertes Existenzminimum ist nicht objektiv. Genaugenommen ist das Existenzminimum zu diesem Zeitpunkt (der Argumentation) überhaupt noch nicht bekannt und somit absolut willkürlich gesetzt – insbesondere wenn man bedenkt, dass die alten Regelsätze aufgrund von ‚Schätzungen ins Blaue‘ und ‚freihändigen Setzungen‘ zustande kamen und mittels der dafür völlig ungeeigneten Rentenwertentwicklung fortgeschrieben wurden. Auch wenn in der Begründung des Gesetzentwurfs der Regierungsfraktionen der zitierte Satz gestrichen wurde, so zeigt die neue Begründung für § 3 zur Abgrenzung der einbezogenen Haushalte, dass hier wiederum am ‚Lohnabstandsgebot’ festgehalten wird,: „Ansonsten bestünde die Gefahr, dass sich die Regelbedarfe zumindest zum Teil nach Haushalten mit mittleren Einkommen bestimmen und damit Leistungsberechtigte nach dem SGB XII und dem SGB II ein monatliches Budget zur Verfügung gestellt würde, das über dem Einkommen von Personen liegt, die im unteren Einkommenssegment für ihren Lebensunterhalt selbst sorgen. Unmittelbare Wirkung wäre ferner, dass die Zahl der Leistungsberechtigten drastisch ansteigt und das menschenwürdige Existenzminimum als Maßstab verloren geht“ (Seite 142 des Gesetzentwurfs). Wo aber genau das Existenzminimum anzusetzen ist, kann gerade nicht mithilfe einer reinen und letztendlich beliebigen Einkommensschichtung festgelegt werden, denn ob untere Einkommensgruppen tatsächlich und generell ein existenzsicherndes Einkommen erzielen, ist zumindest fraglich. Das Lohnabstandsgebot kann nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts jedenfalls keinerlei Maßstab mehr dafür bilden, das Existenzminimum zu bestimmen.

Auf die Art und Weise, wie es im Gesetzentwurf geschieht, lässt sich kein echtes Existenzminimum berechnen. So wird schlussendlich nur Armut zementiert und die Möglichkeit dafür geschaffen, die neuen Regelbedarfsstufen unterhalb des für ein würdiges Leben notwendigen Minimums setzen zu können. Welche Aufwendungen zu einem echten Existenzminimum in Übereinstimmung mit Artikel 1 des Grundgesetzes (GG) zu rechnen sind, muss zunächst einmal in einer öffentlichen Diskussion erörtert werden. Nur auf einer solchen Basis kann eine realitätsgerechte Ermittlung von Regelsätzen bzw. Regelbedarfsstufen überhaupt erfolgen.

6. Sankti­o­nen­system unter­mi­niert das Existenz­mi­nimum

Bislang und auch nach dem vorliegenden Gesetzentwurf der Regierungsfraktionen werden die Regelleistungen um 10, 30, 60 oder sogar um 100 Prozent gestrichen, wenn die Leistungsbezieher ihren Verpflichtungen nicht oder nicht ausreichend nachkommen, z.B. bei sogenannten Meldeversäumnissen, Verstößen gegen die Eingliederungsvereinbarung oder bei der Ablehnung einer vermeintlich zumutbaren Arbeit. Nach Auffassung der Humanistischen Union ist es mit dem Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum unvereinbar, Leistungen, die genau dieses unbedingt Erforderliche abdecken, ersatzlos zu kürzen.

Die alte und die geplante neue Rechtslage sehen vor, dass der Träger bei Kürzungen der Regelleistungen ab 30 Prozent ersatzweise Sachleistungen oder Dienstleistungen erbringen kann. Es handelt sich um Ermessensentscheidungen der zuständigen Sachbearbeiter. Erst wenn Kinder in der betroffenen Bedarfsgemeinschaft leben, müssen dem Gesetz nach Ersatzleistungen erbracht werden. Bei erwerbsfähigen Jugendlichen zwischen 15 und 25 Jahren wird bei einer Pflichtverletzung der Regelsatz komplett gestrichen, bei wiederholter Pflichtverletzung werden sogar die Zahlungen für Unterkunft und Heizung eingestellt. Auch hier gibt es lediglich „Kann-Vorschriften“, nach denen Sach- oder Dienstleistungen erbracht werden.

Die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums kann nicht allein vom Wohlverhalten der Betroffenen abhängig gemacht und in das Ermessen von Sachbearbeitern gestellt werden. Entgegen dem Wortlaut des Gesetzes kann der Sachbearbeiter jedoch kein Ermessen ausüben, wenn durch die Kürzung das Existenzminimum gefährdet würde, denn in diesem Bereich ist der Staat verpflichtet, Leistungen zu erbringen. Das Ermessen ist folglich auf Null reduziert. Hier ist der Gesetzgeber gefordert, eine explizite Regelung zu schaffen, die die Träger dazu verpflichten, bei allen Kürzungen der Regelleistung einen Ersatz in Form von Sachleistungen oder geldwerten Leistungen anzubieten. Den Betroffenen muss freistehen, dieses Angebot anzunehmen oder von anderer Seite wie Familienangehörigen, Freunden vorübergehend Unterstützung zu erbitten.

Bei einer vollständigen Kürzung der Unterkunftskosten bei Volljährigen, aber noch unter 25-Jährigen, droht schlimmstenfalls die Obdachlosigkeit. Dieses ist mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht vereinbar. Auch hier besteht gesetzgeberischer Nachholbedarf. Es ist unzumutbar, dass Betroffene bislang erst durch gerichtliche Klagen ihre Leistungen erhalten und die Sozialbehörden in diesen Fällen zur „verfassungskonformen“ Auslegung gezwungen werden müssen. Eine gesetzliche Klarstellung ist daher geboten.

[1] Siehe die erste Stellungnahme der Humanistischen Union vom 25.9.2010 (Link unten)

Weitere Informationen und Positionen der Humanistischen Union zur Sozialpolitik unter: https://www.humanistische-union.de/themen/soziales/hartz4

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