Fritz Bauer - Stationen eines Lebens

Lebensweg und -werk Fritz Bauers wurden von zwei Weltkriegen geprägt: Als Student in Heidelberg, München und Tübingen gehörte er zur Nachkriegsjugend des Ersten Weltkriegs, die in der zweiten Hälfte der Weimarer Republik den Weg in ein aktives Berufsleben suchte. Als Remigrant, der als rassisch und politisch Verfolgter des NS-Regimes 1936 nach Dänemark und 1943 mit den dänischen Juden nach Schweden flüchten mußte, zählte er nach 1949 zu der Minderheit politischer Flüchtlinge, die nach dem Zweiten Weltkrieg in der westdeutschen Nachkriegsjustiz am Neuaufbau eines demokratischen Rechtsstaats beteiligt waren.

Fritz Bauer wurde am 16. Juli 1903 als Sohn des Textilgroßhändlers Ludwig Bauer und dessen Ehefrau Ella, geborene Hirsch, in Stuttgart geboren. Sein Großvater mütterlicherseits, Gustav Hirsch, wurde 1848 als siebtes Kind von Leopold und Therese Hirsch in Wankheim geboren. Er stammte aus einem streng orthodoxen Elternhaus.

Leopold Hirsch, Altwarenhändler und Kaufmann, seit 1837 Vorsteher der Jüdischen Gemeinde, beantragte als erster seit der Vertreibung der Tübinger Juden in der Mitte des 15. Jahrhunderts die Aufnahme in den Tübinger Bürgerverband. Sein erfolgreicher Rechtsstreit wurde zum Präzedenzfall und Leopold Hirsch zum Vorreiter der Emanzipation in Württemberg.

Gustav Hirsch ist es erspart geblieben, die Emigration seiner Tochter Ella, die 1902 den Kaufmann Ludwig Bauer in Stuttgart heiratete, und seiner Enkelkinder Margot und Fritz Bauer zu erleben. Die Familie väterlicherseits spiegelt ebenso die Geschichte einer angestrebten, letztlich gescheiterten deutsch-jüdischen Assimilation. Ludwig Bauer, freiwilliger Grenadier des Regiments Königin Olga 1894/95, Kriegsteilnehmer des Ersten Weltkriegs 1914 bis 1918 und seit 1935 Ehrenkreuzträger, war mit seinen beiden Brüdern Besitzer einer Textilwarenhandlung in der Stuttgarter Innenstadt, die ebenso wie das eigene Haus – und das Tübinger Geschäft – 1938 unter Wert verkauft werden mußten. Ludwig und Ella Bauer emigrierten nach Dänemark.

Von 1912 bis 1921 besuchte Fritz Bauer das Eberhard-Ludwig-Gymnasium in Stuttgart und begann nach dem Abitur ein Studium der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften in Heidelberg, München und Tübingen. Im Dezember 1924 legte er seine erste Juristische Staatsprüfung in Tübingen ab, trat im selben Monat sein Referendariat an und promovierte 1925 bei Karl Geiler in Heidelberg zum Dr. jur. mit einer Dissertation über „Die rechtliche Struktur der Truste“.

Begeistert las der Student Fritz Bauer in den Wäldern rings um das Heidelberger Schloß Gustav Radbruchs 1910 erschienene Einführung in die Rechtswissenschaft und machte dicke Unterstreichungen: „Der Neigung zur Reglementierung und Rationalisierung ein Gegengewicht zu bieten, ist die historische Aufgabe des Juristen aus Freiheitssinn, vom Amtsrichter, der Übergriffe der polizeilichen Verordnungsgewalt als solche kennzeichnet, bis zum Verteidiger, der die Kunst gegen unzüchtige Richter schützt. Diese Juristen sind die Vorposten des Rechtsstaats gegen unseren angeborenen Hang zum Polizeistaat.“ „Ich habe gewußt, wohin ich gehören möchte“, kommentierte Fritz Bauer später seine Erinnerungen. Die Verbindung von juristischer, auch richterlicher Tätigkeit betrachtete er schon in seiner Jugend als selbstverständlich. Im Februar 1928 legte er seine zweite Juristische Staatsprüfung ab, wurde Gerichtsassessor bei der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Stuttgart und schließlich im April 1930 beim Amtsgericht Stuttgart jüngster Amtsrichter Deutschlands. Fritz Bauer war Mitbegründer des Republikanischen Richterbunds in Württemberg, 1930 wurde er Vorsitzender der Ortsgruppe Stuttgart des „Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold“.

Im April 1933 wurde Fritz Bauer aufgrund seiner politischen Aktivitäten von der Gestapo verhaftet, in das KZ Heuberg und später in die Ulmer Strafanstalt verbracht, und erst Ende 1933 wieder entlassen. Er mußte 1936 nach Dänemark flüchten, wo er in Kopenhagen – wie auch 1943 im Exil in Schweden – in politischen Exilkreisen aktiv wurde. Gemeinsam mit Willy Brandt gründete er in Schweden die Sozialistische Tribüne als theoretisches Organ der sozialdemokratischen Partei im Exil. Von 1945 bis 1949 kehrte Fritz Bauer nach Dänemark zurück, wo er vorübergehend in der Wirtschafts- und Finanzverwaltung und vor allem in der Redaktion der Flüchtlingszeitung Deutsche Nachrichten tätig war.

Die Rückkehr nach Deutschland fiel Fritz Bauer nicht leicht, doch in Dänemark fand er keine seinem juristischen und wirtschaftswissenschaftlichem Format angemessene Stellung. Drei Jahre bemühte er sich um eine Rückkehr, bis er 1949 zum Landgerichtsdirektor, dann zum Generalstaatsanwalt in Braunschweig berufen wurde. In der SPD und Gewerkschaftskreisen wurde er zu einer bedeutenden Gestalt und war Mitglied der „Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Juristen“ und des „Rechtspolitischen Ausschusses“ sowie Mitherausgeber der theoretischen Zeitschrift der SPD Die neue Gesellschaft. In Frankfurt am Main zählte er zu den Mitbegründern des Ortsverbandes der „Humanistischen Union“. Der Hessische Ministerpräsident Georg August Zinn rief Fritz Bauer 1956 als Generalstaatsanwalt nach Frankfurt am Main, wo er bis zu seinem plötzlichen Tod im Jahr 1968 lebte.

Fritz Bauer machte die Gedankenwelt des republikanischen Rechtsdenkens von Weimar, das er in der Emigration im Kampf gegen das NS-Regime aufrecht erhielt, für den Aufbau einer demokratischen Ordnung fruchtbar. Die Verfahren gegen die nationalsozialistischen Verbrecher waren für ihn Prüfsteine der Herausbildung eines neuen Rechtsbewußtseins, verbunden mit der Aufforderung an die Gesellschaft zur Selbstaufklärung. Wie kaum ein anderer trieb er die juristische Aufarbeitung der Verbrechen des NS-Regimes voran. Zahlreiche Bücher und Aufsätze dokumentieren vor allem sein Engagement für die Begründung einer neuen Rechtsauffassung innerhalb der deutschen Nachkriegsjustiz der 50er und 60er Jahre. Die NS-Prozesse waren für ihn Bestandteile eines demokratischen Neubeginns, wobei die normative Abgrenzung vom NS-Unrechtsstaat verbunden war mit einer systematischen Interpretation des Widerstandsrechts und der Widerstandspflicht eines jeden gegenüber diktatorischer Staatsgewalt. Diese Auffassung vertrat er nicht nur in seinem Plädoyer im „Remer-Prozeß“ von 1952, sondern ebenso hinsichtlich der Beteiligung der deutschen Justiz an der NS-Euthanasie und der Täterschaft bei den Morden der Einsatzgruppen und in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern. Mit dem „Remer-Prozeß“, der in der bundesdeutschen Öffentlichkeit starke Resonanz fand, brachte er den spektakulärsten Prozeß zur Wiederherstellung der Integrität der Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime in Gang.

Fritz Bauer plädierte für die Anerkennung formaler Demokratieprinzipien, für eine umfassende Reform des Strafrechts und Strafvollzugs. Bei der Bewertung der Gewaltverbrechen in den Konzentrationslagern insistierte er, daß der Begriff des gesetzlichen Unrechts nicht nur die objektive Seite des Tatgeschehens bezeichnete, sondern auch die subjektive Tatseite einschließen müsse, indem er fragte: „Sind diejenigen, die in Auschwitz waren, dabeigewesen, weil sie selber Nazis waren oder nicht?“ Aus seiner Sicht mußte „die Bejahung des durch keinen Gesetzgeber antastbaren Kernbereich des Rechts – ein Minimum an Menschenrechten wie das Recht auf Leben“ auch die Bejahung eines „Kernbereichs an Rechts- und Unrechtsbewußtsein bei einem jeden nach sich ziehen“. Diese Sicht stand im Gegensatz zur Tendenz der zeitgenössischen Rechtsprechung, die Einsatzgruppenführer, administrative Leiter von Konzentrationslagern und am Anstaltsmord beteiligte Ärzte, das ausführende Personal der Vernichtungslager als bloße Gehilfen in einem ihnen fremden Geschehen zu qualifizieren.

Neben zahlreichen anderen Nachforschungen übernahm die Dienststelle Fritz Bauers 1959 die Ermittlungen gegen den „Euthanasie“-Professor Werner Heyde, dem die Ermordung von 100.000 behinderten und kranken Menschen angelastet wurde. Im Jahr 1960, die Vorbereitungen zum Auschwitz-Prozeß hatten bereits begonnen, wurde auf seinen Hinweis Adolf Eichmann in Argentinien gefaßt und vom israelischen Geheimdienst nach Jerusalem gebracht. Ein Ermittlungsverfahren gegen Staatssekretär Globke im Bonner Bundeskanzleramt, Kommentator der Nürnberger Rassegesetze, gegen den Beschuldigungen erhoben worden waren, an NS-Verbrechen in Griechenland beteiligt gewesen zu sein, brachte Fritz Bauer Kritik der Medien und der hessischen CDU ein, die sich wiederholen sollte. Man warf ihm eine Politisierung der Justiz vor; aber die hessische Landesregierung wehrte die Kritik ab und stellte sich hinter den Generalstaatsanwalt. So auch kurz vor der Eröffnung des Auschwitz-Prozesses. […]

Der Auschwitz-Prozeß war eines der wichtigsten Anliegen Fritz Bauers. Im Februar 1959 stellte er den Antrag, der Bundesgerichtshof möge die Zuständigkeit des Landgerichts Frankfurt am Main für alle in Auschwitz begangenen Straftaten begründen. Am 20. Dezember 1963 begann im Frankfurter Römer das Auschwitz-Verfahren „gegen Mulka und andere“. Unter den Augen von allein 20 000 Zuschauern im Gerichtssaal kam das in Auschwitz geschehene akribisch genau zur Sprache und fand in den Medien, in Ausstellungen und auf der Bühne in Peter Weiss‘ Oratorium Die Ermittlung seinen Niederschlag. Erstmals gewann die Auseinandersetzung mit dem Holocaust in Deutschland eine öffentliche Dimension.

Der Auschwitz-Prozeß war noch nicht abgeschlossen, als die Voruntersuchung für einen neuen Prozeß begann, der sich gegen die Teilnehmer einer reichsweiten Justizkonferenz von 1941, die juristischen Erfüllungsgehilfen der „Euthanasie“-Morde richten sollte. Geplant war ein exemplarischer Prozeß gegen die in die Verbrechen verstrickte Justiz – doch der Prozeß fand nie statt. Zwei Jahre nach Fritz Bauers Tod wurde das Verfahren gegen die Justizelite wegen Beihilfe zum Anstaltsmord eingestellt, ohne daß eine Auseinandersetzung mit der Anklageschrift Fritz Bauers stattgefunden hätte. Die NS-Verbrecherprozesse hatten für Fritz Bauer über die Selbstaufklärung der Gesellschaft hinaus einen demokratischen Sinn: Ihre entscheidende Lehre bestand in der Bereitschaft zu einem eindeutigen Nein gegenüber staatlichem Unrecht. In der Wahrnehmung des Widerstandes bestand für ihn die andere Handlungsmöglichkeit – im Gegensatz zu der Auffassung, die Individuen seien im NS-System zu willenlosen Rädchen einer ihnen äußerlichen Vernichtungsmaschinerie herabgesetzt worden. Die innere Beziehung von Unrechtsstaat und Widerstandsrecht arbeitete er in seinem Plädoyer im Remer-Prozeß heraus: Gruppen der Arbeiterbewegung, der bekennenden Kirche, einzelne Vertreter der katholischen Kirche, der Bürokratie und der Wehrmacht hatten sie wahrgenommen. Fritz Bauer betrachtete dieses oppositionelle Handeln gegen den Unrechtsstaat als einen den demokratischen Rechtsstaat konstituierenden Akt. In der bundesrepublikanischen Justiz der 50er und frühen 60er Jahre machte dieses Rechtsdenken ihn zum Außenseiter. Zweifellos gilt es heute, die innerjuristischen und gesellschaftlichen Geltungs- und Blockierungsbedingungen eines humanen Rechts in den Blick zu nehmen, die dem Anliegen Fritz Bauers enge Grenzen setzten.

Fritz Bauer starb in der Nacht vom 30. 6. auf den 1.7. 1968 in seiner Wohnung in Frankfurt/Main.

Dr. Irmtrud Wojak

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