Reportage versus Reflexion? Über zwei aktuelle Publikationen zur Theorie und Empirie politischer Skandale
Skandale haben Konjunktur — nicht nur am Boulevard, wo sie im regelmäßigen Turnus die Auflagenhöhen der yellow press in die Höhe treiben, oder in äquivalenten Fernseh-Formaten. Zuletzt sorgte die „Affäre Friedman“ für einen erhöhten Wellengang im Medien-Pool – in schöner Regelmäßigkeit fällt dann auch die Frage nach dem Verfallsgrad von politischer Klasse und Kultur. Doch sind politische Skandale weit mehr als nur spektakuläre Anlässe zur öffentlichen Entrüstung und Empörung, sie geben auch Auskunft über die aktuelle Verfasstheit von politischem und medialem System. Der Berliner Journalist Thomas Ramge hat gerade eine einschlägige „Best of“-Sammlung der politischen Skandale vorgelegt, die schlaglichtartig „eine andere Geschichte der BRD“ erzählen will.
Thomas Ramge: Die großen Polit-Skandale. Eine andere Geschichte der BRD, Campus Verlag: Frankfurt/New York 2003, 270 S., ISBN 3-593-37069-7; 21,50 Euro
Ramges Tour durch die öffentlichen Leiden, die mindestens ein, gelegentlich auch zwei oder mehr Länder aufwühlten, beginnt in ‚Bonn bei Röhndorf‘, der bundesdeutschen Hauptstadt von Adenauers Gnaden – 270 rastlose Seiten später endet sie mit Helmut Kohls großer Spendengala unter dem Titel „Bimbes“. Aus dem reichen Skandalfundus der Republik hat der Autor nicht etwa gierig das „dreckigste Dutzend“ ausgewählt – aus gutem Grund fehlen zum Beispiel die Eskapaden eines Rudolf Scharping. Durchweg werden härtere Maßstäbe an den politischen Skandalbegriff angelegt, zudem sind die Teilkapitel keine bloße Aneinanderreihung politischen Fehlverhaltens, sondern bisweilen über handelnde Personen, Ämter und Schauplätze clever miteinander verzahnt. Die sehr unterhaltsame, gelegentlich aber auch anstrengende Montagetechnik wird von szenischen Einstiegen in die Materie unterstützt („Otto John verhielt sich schon seit einigen Tagen sonderbar“ (S. 26)), damit reißt Ramge seine Leser geradezu in den Sog der Ereignisse. Auch wenn nahezu alles schon einmal irgendwie, irgendwo, irgendwann zu lesen war: Nicht nur die aufgeheizte Atmosphäre in Berlin rund um den Schah-Besuch im Jahr 1967 kann gar nicht oft genug rekapituliert werden. Auch die Überschrift dazu sitzt: „Ein Schuss in viele Köpfe – Der Tod von Benno Ohnesorg“ (S. 88).
Allerdings: Detailreichtum, Sprachgefühl und Verve, welche die Lektüre der „Polit-Skandale“ auch ohne ein gutes Glas Rotwein und prasselndes Kaminfeuer zum Vergnügen werden lassen, bergen auch ihre Gefahren. Manches Mal opfert Ramge die dem Gegenstand angemessene Distanz einer unbändigen Lust am Reportieren und läuft dadurch Gefahr, aus der Skandalgeschichte eine Skandalrevue werden zu lassen. Zwar deutet schon das Vorwort auf die personality-getriebene Anlage des Buches hin, doch enthebt auch der Vermerk, keine wissenschaftliche Skandalforschung oder -prognostik betreiben zu wollen, den Autor nicht davon, am bedeutungsschweren Untertitel von der „anderen Geschichte der BRD“ gemessen zu werden (dies gilt im übrigen auch für Lektorat und Verlag). Immerhin führt Ramge eine Minimaldefinition des Skandalbegriffs ein: „Ein politischer Skandal ist ein kommunikativer Prozess. Das Fehlverhalten eines Politikers, einer Partei oder der politischen Klasse wird erst zum Skandal, wenn die Öffentlichkeit sich über ein undemokratisches Vergehen empört und Konsequenzen fordert“ (S.7). Leider kommen sich der personenbezogene Ansatz und dieses Öffentlichkeitspostulat gelegentlich in die Quere. Da es nun mal spannender ist, eine undichte Stelle im Kanzleramt durch Hinterzimmer, Dienstwagen und Parkanlagen zu verfolgen, muss das – für eine Skandalisierung unentbehrliche, für den Leser aber tendenziell eher langweilige – Publikum ins zweite Glied zurück weichen. Dadurch erfährt dieses für die Entwicklung und Eskalation von Skandalen lebensnotwendige Element eine Abwertung – auch und gerade Polit-Skandale leben jedoch nicht allein vom abweichenden Verhalten der Protagonisten oder ihrer Gegenspieler, sondern auch von den Reaktionen der Öffentlichkeit sowie ihrer allgemeinen Einbettung in politische Prozesse und Strukturen.
Geschickt vertiefen lässt sich die Lektüre dieses gut lesbaren Sachbuchs in Kombination mit Karl Otto Hondrichs Essayband Enthüllung und Entrüstung. Eine Phänomenologie des politischen Skandals. Nähern sich beide Texte auch aus grundverschiedenen Perspektiven der Thematik an (hier das Sachbuch mit Reportage-Charakter, dort die Aufsatzsamm lung mit philosophischem Einschlag), so kommen sie doch zu ähnlichen Schlüssen und ergänzen die im anderen Werk jeweils unscharfen Bereiche. So lässt sich etwa das von Ramge sehenden Auges in Kauf genommene „Theoriedefizit“ durch die Komplementärlektüre beheben:
Karl-Otto Hondrich: Enthüllung und Entrüstung. Eine Phänomenologie des politischen Skandals, Suhrkamp Verlag: Frankfurt am Main 2002, 166 S., ISBN 3-518-12270-3, 9,00 Euro
Der Frankfurter Soziologe skizziert in seinem Essayband, der verschiedene ältere Publikationen zu „Skandalthemen“ in überarbeiteter Form zusammenfasst, einen ähnlichen Dreischritt wie Ramge: „Unter Skandalen verstehe ich moralische Verfehlungen von hochgestellten Personen oder Institutionen, verbunden mit einer Enthüllung dieser Verfehlungen und mit weithin geteilter Empörung.“ (S. 40) Schrittweise erweitert Hondrich diese Basisannahme, indem er Skandale als wesentliches Element zur Markierung „gesellschaftlicher Grenzen zwischen Lebenssphären“ interpretiert: „Als Instrument der Herrschaftskontrolle und des Machtwechsels packt der Skandal spontaner und oft wirksamer zu als reguläre Wahlen. Er deckt Grenzüberschreitungen auf – und wird so zum Grenzwächter zwischen den Sphären der Politik, der Wirtschaft und des privaten Lebens.“ (S. 18)
Auch in einem allgemeineren Sinne leistet der Skandal wichtige Dienste an der und für die Gesellschaft, wenn laut Hondrich auch die Vergewisserung oder Neuformulierung von Normen maßgeblich durch Skandale beschleunigt wird. Insgesamt überwiegt bei ihm – ebenso wie bei Ramge – die Einschätzung, dass Skandale weit mehr als nur ein Indikator gesellschaftlicher Missstände und Verfallserscheinungen sind. In Hondrichs hybridem Ansatz aus theoretischer Annäherung und Skizzierung exemplarischer Skandalfälle (herangezogen werden vor allem Umwelt- und Parteispendenskandale) wird der politische Skandal als gewissermaßen „natürlicher Regelverstoß“ in sozialen Handlungszusammenhängen gedeutet, der gesellschaftliche Lernprozesse motiviert und dadurch auch eine Form von Normalität erlangt.
Auch ohne einen ähnlich abstrakten Überbau eröffnet Ramges „Skandalgeschichte“ allerdings tiefer gehende Einsichten in die strukturgebende Kraft politischer Skandale. So breitet seine kluge Auswahl der Fall-Beispiele beinahe die ganze institutionelle Palette der Bundesrepublik vor der Leserschaft aus: Schon der Parlamentarische Rat barg ein erhebliches Skandalpotenzial (Adenauer), ebenso das Kanzleramt (Globke, Guillaume) und erst recht die Ministerposten auf Bundesebene (Strauß, Krause, Wörner). Natürlich waren auch die Parteien (stellvertretend für viele: Kohl), der Verfassungsschutz (John) und das Militär (Kießling) mit von der Partie, genauso ist die Ebene der Bundesränder vertreten (Filbinger, Barschel). Schließlich ergänzen die Verflechtungen von Industrie und Politik (Flick) sowie der repressive Umgang mit zivilgesellschaftlichen Impulsen (Ohnesorg) das Spektrum der politischen Skandal-Player. Es fehlen in dieser Chronik nicht viele angesehene Ämter und Institutionen, um die Skandalgeschichte der Republik lückenlos zu füllen und damit die These einer Skandalrepublik zu erhärten – allenfalls die Gerichtsbarkeit und das Staatsoberhaupt werden in der Reihe vermisst. Und es ist nicht so, dass man an diesen Stellen allzu lange suchen müsste.
Eines fällt dann aber doch ins Auge: Skandalierer und Skandalierte sind samt und sonders Männer. Was folgt daraus? Sind Frauen skandalresistent? Oder sind sie zu unwichtig, um reichweitenstarke Skandale erzeugen zu können? Wäre dann aber nicht schon diese Vermutung ein Skandal? Wenn Ramges Annahme stimmt, dass „ein Rückblick auf die großen Skandale der Bundesrepublik viel über die politische Geschichte Deutschlands aus(sagt)“ (S. 10), wäre dann nicht auch zumindest ein Seitenblick auf die „Beinahe-Skandale“ oder die Gründe für ihren „skandalösen“ Misserfolg nötig? Doch soll hier nicht die Stecknadel im Heuhaufen gesucht werden — Die großen Polit-Skandale ist ein lesenswertes Buch. Ramges aus der Skandalpraxis abgeleitetem Resümee – „Skandale stiften Identität. Sie verbinden diejenigen, die sich empören“ – würde Hondrich schnell zustimmen. Die von ihm konstatierte „Lust am Skandal“ hat ihn auf eine „Entdeckungsreise zu den Quellen soziomoralischen Lebens geführt“ (S. 23). Während der Soziologe dabei den großen Moralkompass in der Hand hält, hat der Sachbuchautor den handlichen Wanderführer im Gepäck. In Kombination ergeben beide Texte die dichte Beschreibung einer im Wortsinne reizvollen Dimension von Politik.