Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 174: Die Grenzen Europas?

Idealisten am Werk

Paul Berman teilt die Passion des Joschka Fischer.

Aus: vorgänge Nr. 174, (Heft 2/2006), S. 136-138

Das neue Werk von Paul Berman ist ein echter Leckerbissen. Sein Autor ist ein führender amerikanischer Intellektueller, Historiker der Neuen Linken, linksliberaler und Irakkriegsbefürworter. Er beschäftigt sich mit dem charakterlichen und politischen Werdegang einiger Leitfiguren der europäischen 68er. Im Vordergrund dabei: Joschka Fischer und der Weg der deutschen Linken seit 1968. In Deutschland ist Berman spätestens seit seinem 2004er Werk „Terror und Liberalismus“ bekannt, welches sogar von der Bundeszentrale für politische Bildung lizenziert wurde. Hier hatte er auf überzeugende

Paul Berman Idealisten an die Macht Die Passion des Joschka Fischer; Siedler Verlag München 2006; 283 Seiten 19,95 Euro

Weise die Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus in eine Entwicklungslinie mit den großen Totalitarismen des 20. Jahrhunderts gestellt und dagegen einen von links kommenden progressiven Liberalismus mobilisiert.
Alleinstellungsmerkmal Bermans ist es, erstmals einem breiteren Publikum die tiefen Spaltungen und scheinbar unnatürlichen Allianzen vorzustellen, zu die der 11. September 2001 auf Seiten der Linken, der Linksradikalen und der Linksliberalen geführt hat. Denn nahm man den Befund ernst, das der radikalislamische Fundamentalismus im Grunde für alles das steht, was die Linken von jeher an Faschismus, Unfreiheit und Unterdrückung bekämpft hatten, dann brachte sie das auch automatisch in die unbequeme Genossenschaft eines George W. Bush und der NATO. Im Deutschland zu Zeiten des Irakkriegs musste man dann eigentlich eher außenpolitische Statements Angela Merkels als etwa Gerhard Schröders gutheißen. Umgekehrt beinhaltet die Bush-Doktrin einen radikalen Bruch mit der republikanischen außenpolitischen Tradition der USA, welche eher definiert ist durch Isolationismus und die Bereitschaft, sich mit Diktatoren und Unterdrückern, solange es den eigenen Interessen entgegenkommt, zu arrangieren. Die weltweite Verbreitung von Demokratie und Menschenrechten, notfalls mit Gewalt, knüpft vielmehr an die idealistische Tradition Woodrow Wilsons und auch Jimmy Carters an, und hat dabei in ihrer Aggressivität wie Daniel Cohn-Bendit hier polemisch zusammenfassend formuliert, geradezu etwas „Bolschewistisches“.
Bermans Buch ist voll von diesen Querverweisen und ideologischen Überkreuzentwicklungen und wirkt in seiner Vogelperspektivischen Erzählweise erfrischend ungewohnt. Denn Meinungswechsel und Modifizierungen sieht der Autor entgegen einer in Deutschland weit verbreiteten Haltung nicht etwa als Verrat oder als Zeichen von Unglaubwürdigkeit an, sondern als Willen zur Weiterentwicklung und als Eingestehen von Fehlern und Irrtümern angesichts widerlegender Geschehnisse und Einsichten. Ein Linkssein, dass derart ohne Scheuklappen auskommen will, dass es ihm sogar egal ist, ob man überhaupt noch von „links“ sprechen kann, solange nur die damit verbundenen Werte zur Durchsetzung gelangen – so in etwa kann man das Anliegen des Autors zusammenfassen. Klar, das dabei bei aller Erfrischung grobe Vereinfachungen und Widersprüche kaum zu vermeiden sind.
Die Grundfrage, an der Berman in konsequentem Moralismus das Leben und die Politik Joschka Fischers aufspannt, mit der er ihn ständig anerkennend und halb bewundernd begleitet, an der er ihn am Ende jedoch scheitern lässt, ist einem spezifisch französischen Umfeld entlehnt: Wäre jemand im besetzten Frankreich des Zweiten Weltkriegs ein Mitglied der Résistance gewesen oder aber ein schändlicher collabo, ein Kollaborateur? Für Berman gelten die Menschenrechte, gelten die Pflicht zum Widerstand gegen staatliches Unrecht überall und immer – und deshalb wird er am Ende Fischer (den er unter dem unheilvollen Einfluss Gerhard Schröders sah) und die Gegnerschaft gegen den Irakkrieg als ein Nichtunterstützen der „irakischen Résistance“ überführen, als ein Nichteingreifen gegen ein offensichtlich mörderisches Regime, in dem Staatsterrorismus und Folter zum Alltag gehörten. Zuvor jedoch untersucht Berman Fischers Vergangenheit, wie sie angesichts der 2001 im Stern veröffentlichten Straßenkämpferfotos in Deutschland mit großer Intensität von allen politischen Lagern diskutiert wurde. Insbesondere der sukzessive Abschied vom unbedingten Pazifismus hin zur Bejahung humanitärer Interventionen gerade vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte wird anschaulich verdeutlicht. Den Kosovo-Krieg von 1999 feiert Berman als Höhepunkt dieser Entwicklung. Endlich, so Berman, taten deutsche Soldaten mal etwas ganz anderes: Sie kämpften für etwas „Gutes“ im Ausland.
Neben Joschka Fischer werden unter anderem der grüne Europaabgeordnete und deutsch-französische 68er-Veteran Daniel Cohn-Bendit, der „Ärzte ohne Grenzen“ – Gründer Bernhard Kouchner, der ehemalige polnische Dissident und heutige Herausgeber der Gazeta Wyborcza Adam Michnik und der französische Philosoph und Essayist André Glucksmann porträtiert. Immer wieder wird dabei die Entwicklung nachgezeichnet, welche diese Protagonisten von ihrer frühen Rebellion ausgehend später in verantwortlichen Positionen genommen haben. Die beiden großen Wasserscheiden sind hierbei der Kosovo-Krieg und der Irak-Krieg. Im Umfeld des Kosovokrieges trafen sich derart viele ehemalige 68er in hohen Ämtern wieder, dass Berman schon von einem „Krieg der 68er“ spricht. Neben Joschka Fischer als deutscher Außenminister waren dies etwa Bernhard Kouchner als Leiter der UN-Übergangsverwaltung des Kosovo, Javier Solana als NATO-Generalsekretär oder der deutsche General Klaus Reinhard als NATO-Kommandeur. Berman attestiert ihnen, dass sie die richtigen Lehren aus der Geschichte zogen, sich angesichts des Wütens Milosevics nicht hinter einem bequemen Pazifismus versteckten, sondern ihre humanitären Ideale offensiv durchsetzten – und dies obwohl dieser Krieg völkerrechtswidrig ohne UNO-Mandat geführt wurde und, wenn man so will, den eigentlichen, das Aggressionsverbot der UN-Charta aushöhlenden Sündenfall, darstellte.
Diese Synthese aus militärischer Macht und den idealistischen Werten von 1968, ja der Linken überhaupt, sei dann im Irakkrieg tragisch gescheitert. Berman ist überzeugt, wären Frankreich und Deutschland nicht aus der Einheitsfront des Westens ausgeschert, hätte eine viele wirksamere Drohkulisse gegenüber Saddam aufgebaut werden können. Auch hält er nichts von den vielen konstruierten Vorwänden, den Krieg zu führen. Weder die Massenvernichtungswaffen noch eine unterstellte Verbindung zwischen Al Quaida und dem Saddam-Regime sei als Kriegspropaganda notwendig gewesen. Lediglich der ehrliche und berechtigte Verweis auf ein unmenschliches Folterregime, welches Menschenrechte mit Füßen trete und schreckliche Massaker etwa an den Kurden verübt hat, wären als Kriegsgrund ausreichend gewesen. Nach dem Ende der Hauptkampfhandlungen am 1. Mai 2003

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