Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 201/202: Verfassungsschutz in der Krise?

Reichs­tags­brand­stif­tung am 27. Februar 1933 – Wer war es?

Anmerkungen zu der andauernden Kontroverse. Aus: vorgänge Nr. 201/202 (1/2-2013), S. 143-156

Während politische Wirkung und Funktion des Brandanschlages auf den Reichstag weitgehend erschlossen sind, bleibt die Frage nach Urhebern, Anstiftern und Täter(n) des Reichstagsbrandes auch nach 80 Jahren virulent. Immer noch ist die zeitgeschichtliche Forschung in zwei Lager gespalten, die ihre Theorien vom einzelnen Täter bzw. Täterkollektiv verteidigen. Dieter Deiseroth nutzt das Instrumentarium der strafrechtlichen Beweiserhebung und -prüfung, um die von beiden Seiten vorgelegten Argumente einer kritischen Prüfung zu unterziehen.

Alles geklärt?

Der im Februar 2013 im deutschen Fernsehen ausgestrahlte Film „Nacht über Berlin“ zum Reichstagsbrand mit Jan Josef Liefers und Anna Loos in den Hauptrollen erreichte mit 5,9 Millionen Zuschauern starke 17,7 Prozent Marktanteil. Das konnte die an Einschaltquoten orientierten Fernsehmacher nicht überraschen. Denn der Reichstagsbrand ist nach wie vor einer der umstrittensten politischen Kriminalfälle der Weltgeschichte. Über kaum ein Ereignis des 20. Jahrhunderts haben die deutschen Historiker so intensiv und erbittert gestritten[1]. Diese Debatte hält bis heute gerade auch in den fachwissenschaftlichen Publikationen an.
Der Präsident des Deutschen Bundestages, Dr. Norbert Lammert (CDU), bezieht in diesem Streit öffentlichkeitswirksam Position: Er bewirbt auf seiner aktuellen dienstlichen Homepage mit einer eigenen Rezension das 2008 von Sven Felix Kellerhoff, Redakteur für Zeitgeschichte der Welt, publizierte Buch „Der Reichstagsbrand. Die Karriere eines Kriminalfalls“. Dieses hatte Lammert in Berlin im Haus der Parlamentarischen Gesellschaft von dem prominenten Zeithistoriker Prof. Hans Mommsen bereits publikumswirksam vorstellen lassen. Autor Kellerhoff hält in seinem Buch das „Rätsel des Reichstagsbrandes“ nunmehr für gelöst: ,,Nach 75 Jahren Streit steht am Ende eine einfache Wahrheit: Marinus van der Lubbe war ein Einzeltäter.“ (S. 139). Kellerhoff beansprucht dabei, selbst eine letzte große Lücke der Ursachenforschung geschlossen zu haben. Seine These: Nachdem Marinus van der Lubbe „mit seinen auf den ersten Blick ungenügenden Mitteln wie Kohleanzündern, Kleidungsstücken und Tischdecken“ im großen Reichstagsplenum „vor allem die Portieren am Präsidententisch und gegenüber am westlichen Ausgang des Plenarsaals“ in Brand gesteckt hatte, was er in seinen Vernehmungen immer wieder eingeräumt hatte, sei es eher durch einen Zufall zum „Phänomen Backdraft“ gekommen, als „der Polizeileutnant Lateit, der Hausinspektor Scranowitz und die Feuerwehrleute … durch das Öffnen der Türen zum Plenarsaal die explosionsartige Ausweitung des Feuers“ ausgelöst hätten (S. 138 f.). Wegen der geöffneten Türen habe sich „ein starker Luftzug ins Innere“ gebildet. Dessen Sauerstoff habe sich dann „in wenigen Sekunden bis mehr als einer Minute“ mit den heißen Rauchgasen im Plenarsaal vermischt und zu einer zündfähigen Mischung geführt, so dass sich eine „Rauchgasexplosion“ mit Temperaturen von bis zu 1000 Grad entwickelt habe, die zu dem Großbrand und zum Einsturz der Kuppel geführt habe.
Hans Mommsen, selbst seit Jahrzehnten in die Kontroversen um den Reichstagsbrand aktiv involviert, schrieb zu Kellerhoffs Buch ein Vorwort. Darin stellt auch er heraus, ,,dass an der alleinigen Täterschaft van der Lubbes nicht gezweifelt werden kann“ (S. 7). Im Umgang mit Skeptikern der Alleintäter-These ist Mommsen dabei nicht zimperlich. In Bezug auf den angesehenen Schweizer Fachhistoriker Walther Hofer, den renommierten Zeithistoriker Karl-Dietrich Bracher und andere Forscher ist bei Mommsen von einer ,,Fälscher-Mafia“ die Rede; dem Münchner Institut für Zeitgeschichte (IfZ) wirft er vor, es habe sich „immer wieder zum Kumpan der Fälscher-Mafia“ gemacht und „sich nicht gescheut, Fälscher zu decken“ (S. 10).
Zum 80. Jahrestag des Brandes hat sich Kellerhoff erneut mit zahlreichen Beiträgen in verschiedenen Medien zu Wort gemeldet. Gegenüber Zweiflern an der Alleintäter-Theorie kennt auch er kein Pardon. So hat er etwa dem Drehbuchautor Rainer Berg und dem Regisseur Friedemann Fromm des hochgelobten ZDF-Films „Nacht über Berlin“ vorgehalten, sie hätten nicht zur Kenntnis genommen, „dass die seriöse Geschichtswissenschaft praktisch einmütig den holländischen Anarchisten Marinus van der Lubbe für den Einzeltäter hält“. „Nur noch ein paar wenige, oft recht aggressive Publizisten“ hielten „mit kruden Verschwörungstheorien dagegen“ und diffamierten ihre Kritiker. Berg und Fromm trauten sich keine seriöse Positionierung zu; denn sie hätten ganz bewusst die Täterfrage offen gelassen[2].

Drei Grund­rich­tungen der Debatten

Führende NS-Vertreter sprachen bereits in der Brandnacht von einem „kommunistischen Aufstand“, zu dem das Entzünden des Reichstags das Fanal gewesen sei. Beweise für angebliche Pläne für einen Aufstand der Kommunisten sind indes nie erbracht worden und haben nach heutigem Erkenntnisstand auch nie existiert. Der Reichstagsbrand hatte den Kommunisten nicht genutzt, sondern im Gegenteil – voraussehbar – ihre verstärkte staatliche Verfolgung nach sich gezogen. Der vom Reichsgericht als Brandstifter zum Tode verurteilte Marinus van der Lubbe stand mit der KPD nicht in Verbindung und hatte sich auch mit den niederländischen Kommunisten damals längst überworfen.
Von vielen anderen wurde dagegen unmittelbar im Anschluss an den Reichstagsbrand vermutet, dass das Feuer auf Weisung oder jedenfalls mit Billigung führender NS-Politiker gelegt worden sei, um einen Vorwand für die Verfolgung politischer Gegner und die vollständige Etablierung der NS-Machtpositionen zu erhalten. Die von Nazi-Gegnern vor allem aus dem Umfeld der KPD im Exil in Westeuropa herausgegebenen ”Braunbücher”[3] sowie eine im Herbst 1933 in London tagende Internationale Juristenkommission hatten bereits damals Indizien zusammen getragen, die auf eine Brandstiftung aus dem Verantwortungsbereich der Nazis hindeuteten. Diese zweite Theorie prägte jahrzehntelang die fast unangefochtene Einschätzung im In- und Ausland.
Das Reichsgericht in Leipzig hatte auf der Grundlage von mehreren Brandgutachten der von ihm herangezogenen Sachverständigen in seinem Urteil vom 23.12.1933, mit dem es den im brennenden Reichstag aufgegriffenen, stark sehbehinderten und völlig ortsunkundigen Marinus van der Lubbe zum Tode verurteilte und die vier kommunistischen Mitangeklagten Torgler, Dimitroff, Taneff und Popoff vom Tatvorwurf freisprach, festgestellt:

„Es kann nach Ansicht des Senats keinem Zweifel unterliegen, dass die Tätigkeit van der Lubbes im Reichstag im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit dem oder den Mittätern erfolgt ist, die im Plenarsaal den Brand vorbereitet und die Selbstentzündung angelegt haben. (…) Die Rolle, die dem Angeklagten van der Lubbe bei der Inbrandsetzung des Reichstags zugedacht war, war offenbar die, den Verdacht der Täterschaft, und zwar einer Alleintäterschaft, auf sich zu lenken.“ [4]

Gleichzeitig hatte es dabei unter Offenbarung der eigenen politisch-mentalen Verankerung seiner Richter im „nationalen Lager“ den NS-Machthabern gleichsam einen „Persilschein“ ausgestellt und im Urteil formuliert:

„(…) Jedem Deutschen ist klar, dass die Männer, denen das deutsche Volk seine Errettung vor dem bolschewistischen Chaos verdankt und die es einer inneren Erneuerung und Gesundung entgegenführen, einer solchen verbrecherischen Gesinnung, wie sie die Tat verrät, niemals fähig wären. (…)“

Die heute weit verbreitete – dritte – Theorie von der Alleintäterschaft van der Lubbes wurde in einer im Jahre 1959 im Nachrichtenmagazin Der Spiegel erschienenen Artikel-Serie[5] erstmals öffentlichkeitswirksam publiziert. Der Spiegel hatte sich dabei auf ein Manuskript des Verfassungsschutzbeamten Fritz Tobias berufen, der dieses bald darauf auch in einem Buch[6] veröffentlichte. Fritz Tobias und der Spiegel stützten ihre Alleintäter-These im Wesentlichen auf drei Umstände.
Zum einen argumentierten sie unter Berufung auf einen „Abschlussbericht“ des den Tatverdächtigen van der Lubbe seinerzeit vernehmenden Kriminalbeamten Walter Zirpins vom 3.3.1933, der Vernommene habe „die Schilderung des Tatorts und der Tatausführung (…) schon von der ersten Vernehmung an (also vor der Tatortbesichtigung selbst) genau mit allen Einzelheiten, Brandstellen, Beschädigungen und Spuren sowie des Weges, auf dem sie liegen, so angegeben, wie sie ihm noch in Erinnerung waren.“[7] Hierzu sei nur derjenige in der Lage, der die Tat selbst ausgeführt habe. Die „Rekonstruktion des Tatherganges (…) war – wie die wiederholten Nachprüfungen ergaben – lückenlos.“[8]
Zweitens hätten außer den „von ihm genau beschriebenen weitere Spuren nicht festgestellt werden“ können, womit „für die erfahrenen Kriminalbeamten der zwingende Beweis erbracht war, dass neben van der Lubbe weitere Täter keinesfalls beteiligt sein konnten.“[9] Die Ermittlungen der Kriminalbeamten seien professionell und (bis auf wenige Ausnahmen) frei von sachfremden Erwägungen.[10]
Drittens sei die Auffassung der mit der Brandstiftung befassten Sachverständigen Prof. Josse, Dr. Wagner und Dr. Schatz unzutreffend, dass van der Lubbe den Brand im Plenarsaal nicht allein habe legen können, weil ihm dafür angeblich nicht ausreichend Brandmittel und nicht genügend Zeit zur Verfügung gestanden hätten. Vielmehr ergebe sich vor allem aus dem im Ermittlungsverfahren eingeholten Sachverständigengutachten von Prof. Dr. Brüning vom 9.3.1933, „dass die Brandstiftung höchstwahrscheinlich u.a. mit durch (Kohlen-)Anzünder in Brand gesetzten Wäschestücken erfolgt ist.“[11] Andere in Betracht kommende Brennmittel wie Petroleum und Brennspiritus seien nicht gefunden worden. Die Kohlenanzünder hätten „mühelos jenen Vorhang vom Westumgang des Plenarsaals in Brand setzen können“, der entgegen den unbewiesenen Behauptungen des vom Reichsgericht vernommenen Sachverständigen Dr. Schatz leicht entflammbar gewesen sei[12].

Die Ausbootung von Hans Schneider

Gegen die 1959/60 publizierte Spiegel-Serie hatte sich im renommierten, 1949 zur Aufarbeitung des NS-Regimes von Bund und Ländern gegründeten Münchener Institut für Zeitgeschichte (IfZ) schon bald Widerstand geregt. Dessen Leiter beauftragte den Historiker Hans Schneider, der bereits einschlägig publiziert hatte, mit einer Expertise über „den wahren Stand der Forschung in Sachen Reichstagsbrand“. Es kam jedoch weder zur Fertigstellung noch zur Publikation dieser Studie im Rahmen des IfZ. Knapp zwei Jahre – neben dem Lehrerberuf ausgeübter – Forschungstätigkeit hatten nicht ausgereicht, ein publikationsreifes Manuskript fertigzustellen. Im IfZ entstand dazu ein Aktenvermerk[13], in dem der ehemalige Institutsangestellte Hans Mommsen festhielt, wie sich das IfZ des Hans Schneider entledigen und ihn daran hindern könne, seine Erkenntnisse anderweitig zu publizieren: Es könne zwar eine Instituts-Publikation ablehnen, aber nicht verhindern, dass Schneider in eigenem Namen sein Manuskript veröffentliche. Doch es gebe einen Weg, den juristisch unberatenen Schneider einzuschüchtern: nämlich „rasch und energisch alle Druckmittel, die in unmittelbarer Verfügung des Instituts stehen, auch da, wo sie einer endgültigen juristischen Prüfung nicht standhalten, auszuspielen, um Herrn Schneider daran zu hindern, Zeitgewinn zu haben, sowohl hinsichtlich der Verhandlungen über eine anderweitige Publikation als auch hinsichtlich der Verarbeitung des ihm einstweilen noch zur Verfügung stehenden Quellenmaterials.“ Auch könne man „Herrn Schneider durch eine sofortige Zurückforderung des gesamten Materials mattsetzen“. Schließlich habe – so Mommsen weiter – das Institut ein Interesse, „die Publikation Schneiders überhaupt zu verhindern“, da „aus allgemeinpolitischen Gründen eine derartige Publikation unerwünscht scheint“. Vielleicht sei es sogar angezeigt, „durch Druck auf Schneider vermittels des Stuttgarter Ministeriums“ (also bei dessen obersten Dienstbehörde) und eine Abfindung von 5.000 bis 6.000 Mark diesen zum Nachgeben zu bringen.
Was mit den „allgemeinpolitischen Gründen“ gemeint war, ist bis heute nicht hinreichend geklärt. Dazu sind mehrere Hypothesen aufgestellt worden. Hersch Fischler, der den Aktenvermerk Mommsens im Archiv des IfZ entdeckt hatte, mutmaßt, die konservative Illustrierte aus dem Springer-Verlag „Kristall“, deren Chefredakteur der langjährige Augstein-Vertraute und Spiegel-Ressortleiter Horst Mahnke gewesen sei, habe dem damaligen IfZ-Leiter Helmut Krausnick vorgeworfen, mit Hans Schneider einen Nichtfachmann mit der Überprüfung der Alleintäter-These betraut zu haben. Außerdem sei Krausnick, dessen frühere NSDAP-Mitgliedschaft in der Öffentlichkeit unbekannt gewesen sei, mit deren angedrohter Enthüllung erpresst worden[14]. Dies habe Krausnick dazu veranlasst, Schneider im November 1962 den Auftrag für die Studie mit dem Vorwurf zu entziehen, er habe immer noch kein publikationsfähiges Manuskript vorgelegt. Dies sei vorgeschoben gewesen, da Schneider sechs Monate, nachdem er die Protokolle der Hauptverhandlung vor dem Reichsgericht aufgefunden habe, dem IfZ ein 56seitiges Manuskript mit über 400 Fußnoten vorgelegt habe.
Hans Mommsen hat bis heute keine konkrete und nachvollziehbare Erklärung für den von ihm gefertigten Aktenvermerk und insbesondere die in Bezug genommenen „allgemeinpolitischen Gründe“ gegeben. Am 25.11.2000 erklärte er in der tageszeitung (taz)[15] die „Zurückziehung des Forschungsauftrags“ an Schneider „erfolgte nach der am 9. und 10. November 1962 vom Direktor des IfZ getroffenen und von ihm am 30. November schriftlich bestätigten Entscheidung, den Vertrag nicht weiter fortzusetzen.“ Die Formulierung „allgemeine politische Gründe“ beziehe sich „auf den abträglichen Effekt, den eine Publikation des Konvoluts (…) in der Öffentlichkeit angesichts der nachhaltigen Förderung durch das IfZ hätte haben müssen.“ Ähnlich hieß es am 22.1.2001 in einem in der Welt veröffentlichten Leserbrief Hans Mommsens: „Die von Herrn Fischler in verleumderischer Absicht ausgeschlachtete Aktennotiz von Ende November 1962 diente der Klärung der Rechtslage, nachdem sich das Institut [für Zeitgeschichte] bereits von Hans Schneider getrennt hatte.“ Beide Äußerungen Mommsens entsprechen schwerlich der Wahrheit, denn in Mommsens „Aktennotiz“ zu dem Gespräch mit Rechtsanwalt Delp ist nirgendwo von einer bereits erfolgten Kündigung des Vertrags mit Schneider die Rede. Ganz im Gegenteil heißt es dort: „Die Bedingungen für eine einseitige Aufhebung des Vertrages [mit Schneider] durch das Institut sind ungünstig“ (S. 1). Und weiter: „Nach der derzeitigen Rechtslage ist das Institut formell nicht in der Lage, von dem mit Schneider geschlossenen Vertrag zurückzutreten“ (S. 2). Mommsens Gespräch mit Rechtsanwalt Delp zielte darauf, überhaupt erst eine Strategie zu entwickeln, wie das IfZ Hans Schneider den Auftrag entziehen und eine Publikation verhindern könnte. Ob der damalige Referent beim IfZ, Dr. Mommsen, dazu von der Institutsleitung beauftragt worden war oder in eigener Regie handelte, ist bislang nicht hinreichend geklärt.
Was auch immer die Hintergründe waren: Jedenfalls sandte IfZ-Leiter Helmut Krausnick (CSU) am 30.11.1962 entsprechend Mommsens Ratschlag einen Brief an Hans Schneider, der die offene Drohung enthielt: „Ihre Vorstellung, daß das Institut jemals seine Einwilligung dazu geben würde, daß Sie ein großenteils auf im Eigentum des Instituts befindliches oder mit Hilfe des Instituts gewonnenes Material gestütztes Manuskript (ob mit oder ohne Nennung des Instituts) veröffentlichen können, ist irrig.“[16] Schneider dürfe sich zwar „gelegentlich publizistisch zu dem Reichstagsbrandproblem“ äußern. Jedoch „machen wir Sie darauf aufmerksam, daß Sie dafür keineswegs die von Seiten oder durch Vermittlung des Instituts zur Verfügung gestellten Materialien auszugsweise zitieren oder mit Angabe der Fundstelle benutzen können.“
Das IfZ übertrug nach der „Ausbootung“ Hans Schneiders diese Aufgabe nunmehr Hans Mommsen. Mommsen, dem die Ermittlungs- und Gerichtsakten zum Reichstagsbrand nur rudimentär zur Verfügung standen, bestätigte nach intensiven Kontakten mit Tobias zur großen Überraschung der Fachwelt und der Öffentlichkeit die „Alleintäter-Theorie“ und hielt sie für wissenschaftlich gut begründet und überzeugend[17]. Mommsens Aufsatz lieferte Tobias und Augstein „den Triumph der Wissenschaft“, wie der Spiegel seine Leser Anfang 1965 informierte. Mommsens Aufsatz wurde bald auch von der Bundeszentrale für Politische Bildung und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung publiziert und fand weiteste Verbreitung.
Hans Schneider veröffentlichte sein Manuskript auch danach nicht und starb 1994 nach langer Krankheit. Seine im IfZ unerwünschte Expertise wurde erst im Jahre 2004 von der „Vereinigung Deutscher Wissenschaftler“ unter dem Titel Neues vom Reichstagsbrand? Ein Versäumnis der deutschen Geschichtsschreibung nebst zahlreichen Dokumenten publiziert[18].
Die Leitung des IfZ distanzierte sich zwischenzeitlich offiziell von einigen Umständen der Ausbootung Hans Schneiders. In der IfZ-Stellungnahme heißt es u.a.: „Diese auch von Hersch Fischler zitierten Äußerungen von Hans Mommsen sind unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten völlig inakzeptabel.“[19]
Das Exemplarische, vielleicht auch Lehrstückhafte an den Kontroversen im IfZ um die Studie Hans Schneiders dürfte darin liegen, dass nicht nur, wie so oft, um Manuskriptlängen und Fertigstellungstermine gestritten wurde. Es ging jedenfalls auch um die Inhalte von Zeitgeschichtsschreibung und um den Umgang mit Dissens. Die Art der institutsinternen Auseinandersetzungen und ihrer Bearbeitung offenbaren ein wissenschaftliches Zentralproblem: Wie geht eine wissenschaftliche Institution mit wissenschaftlichem und wissenschaftspolitischem Dissens in den eigenen Reihen um? Es ist nicht gerade häufig, dass solche Konflikte und ihre Ergebnisse für den öffentlichen Diskurs nachvollziehbar offengelegt und dokumentiert werden können. Dabei kann daraus viel gelernt werden: Welche Vorkehrungen müssen getroffen werden, welche Mindestbedingungen müssen erfüllt sein, damit in einem solchen Konflikt weder beteiligte Wissenschaftler/Forscher und ihr Gegenüber, die wissenschaftliche Institution, in der sie arbeiten, noch der wissenschaftliche Diskurs nachhaltig „beschädigt“ werden? Meine These ist, dass es dafür eine spezifische „Streitkultur“ sowie auch institutionelle Vorkehrungen und Rahmenbedingungen geben muss, auf die hier freilich nicht näher eingegangen werden kann[20].

Kritiker der Allein­tä­ter-­The­orie

Die „Alleintäter-Theorie“ rief auch nach dem Scheitern von Hans Schneider zahlreiche Zeithistoriker und andere Forscher auf den Plan. Namentlich trat dabei unter maßgeblicher Beteiligung des Historikers Prof. Walter Hofer das so genannte „Luxemburger Komitee“ mit seinem damaligen Generalsekretär E. Calic in Erscheinung. In mehreren Publikationen gelangten diese Autoren zum Ergebnis: Die Nazis waren es[21]. Die Tagungen und Publikationen des „Luxemburg-Komitees“, das in der Anfangsphase von prominenten Wissenschaftlern (u.a. Eugen Kogon) und Politikern (u.a. Willy Brandt) unterstützt wurde, riefen wiederum heftige Gegenattacken der Vertreter der „Alleintäter-Theorie“ hervor, die u. a. auch im Vorwurf bewusster Quellenmanipulationen und Fälschungen gipfelten[22]. Die als Fälscher inkriminierten Historiker um Prof. Hofer wehrten sich ebenso heftig. Sie räumten zwar einige kleinere Ungenauigkeiten in ihren bisherigen Publikationen ein, hielten jedoch an ihrer zentralen These fest und ziehen ihre Kontrahenten ihrerseits der bewussten Manipulation und Missachtung wichtiger Quellen[23].
Unterstützt wurden die „Luxemburger“ unter anderem auch von Rechtsanwalt Robert M.W. Kempner, der bis zur Brandnacht Ende Februar 1933 als Jurist im preußischen Innenministerium gearbeitet hatte, unmittelbar darauf emigriert und nach 1945 als hochrangiger Ermittler in der Anklagebehörde bei der Vorbereitung der Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozesse tätig war[24]. Für Kempner, der in den 1970er und 1980er Jahren im Auftrag des Bruders Jan des hingerichteten Marinus van der Lubbe mehrere Wiederaufnahme-Verfahren[25] erfolglos vor Berliner Gerichten und dem Bundesgerichtshof führte, war sein damaliger Vorgesetzter, der kommissarische preußische Innenminister Hermann Göring (NSDAP), der Organisator des Reichstagsbrandes, der dies gegenüber Zeitgenossen – anders als im Nürnberger Hauptkriegsverbrecher-Prozess dann von ihm bestritten – bei Vernehmungen auch eingeräumt haben soll[26].
Ungeachtet dessen fand die „Alleintäter-Theorie“ im In- und Ausland immer mehr Anhänger. Prominente Historiker – neben Hans Mommsen[27] u.a. Heinrich August Winkler[28], Hans-Ulrich Wehler[29], Klaus Hildebrand[30], Ian Kershaw[31], Richard J. Evans[32] und jüngst auch Norbert Frei[33] – halten die These von der Alleintäterschaft van der Lubbes für die wahrscheinlichste. Der „Spiegel“ tritt mit Vehemenz nach wie vor allen Versuchen entgegen, sich angesichts neuer Erkenntnisse von der Alleintäterthese zu verabschieden[34].
Andere fanden und finden sich damit nicht ab. Der Soziologe Hersch Fischler, der vor einigen Jahren Hans Schneiders (nicht fertiggestelltes) Manuskript im Archiv des IfZ aufgefunden hatte, warf unter Berufung auf neue Quellenfunde sowohl Fritz Tobias als auch Hans Mommsen wiederholt zahlreiche Fehler bei der Würdigung der vorliegenden Dokumente vor. Letztlich sei das Tatgeständnis van der Lubbes falsch; die Beweise für dessen angebliche Täterschaft seien manipuliert. Freilich vermag auch Fischler die Brandstifter nicht eindeutig zu identifizieren. Für ihn gehören dazu u.a. „rechte Kreise“ aus den Koalitionspartnern der Nazis, nämlich DNVP, Stahlhelm und „Papen-Kreis“, die noch stärker als die NSDAP ein Interesse an der Vortäuschung eines kommunistischen Aufstandes gehabt hätten[35]. Aber auch (Mit-)Täter aus dem NS-Bereich kämen in Betracht; er hält allerdings die weit verbreitete These von der Täterschaft eines geheimen NS-Kommandos, das den unterirdischen Gang zwischen Reichstag und Reichstagspräsidentenpalais nutzte, für falsch[36].
Welche Argumente und Belege haben Fischler und andere Kritiker der Alleintäter-These in der Sache vorzuweisen? Ihren publizierten Beiträgen lassen sich im Wesentlichen die folgenden Argumentationsstränge entnehmen.

(1) Alle vom Reichsgericht vernommenen Sachverständigen hätten übereinstimmend festgestellt, dass ein solcher Großbrand allein durch eine Person ohne jede Ortskenntnis und mit einer starken Sehbehinderung mit den bei van der Lubbe festgestellten bescheidenen Zündmitteln unmöglich habe bewerkstelligt werden können[37]. Van der Lubbe habe zwischen seinem Einstieg in das Reichstagsgebäude und seiner um 21.22 Uhr vorgenommenen Verhaftung nur etwa „ca. 11 – 12 Minuten“ Zeit zur Verfügung gehabt[38].
(2) Die Aussagen van der Lubbes über den Ort seines Einstiegs, seinen Weg durch das Gebäude sowie die von ihm verursachten Brandstellen vor dem und im Plenarsaal seien, wie sich aus den Niederschriften über seine verschiedenen Vernehmungen ergebe, sehr widersprüchlich und daher nicht glaubhaft[39].
(3) Unter den am Tatort aufgefundenen Fingerabdrücken hätten sich keine befunden, die von van der Lubbe stammten, was aber der zuständige Kriminalbeamte Bunge vor dem Reichsgericht verschleiert habe[40].
(4) Der vom Reichsgericht vernommene Sachverständige Dr. Schatz habe zudem an mehreren Brandstellen im Plenarsaal Spuren eines selbstentzündlichen Brandmittels (Phosphor in Schwefelkohlenstoff) gefunden, die auf weitere Täter hindeuteten[41]. Bei diesem Brandbeschleuniger habe es sich um die gleiche Substanz gehandelt, die seinerzeit von einem SA-Spezialkommando zur Zerstörung gegnerischer Wahlplakate eingesetzt worden sei[42].
(5) Von den Ermittlern seien 1933 schwere Ermittlungsfehler begangen[43] und zudem wichtige Beweisstücke unterschlagen worden[44]. Zu Unrecht unberücksichtigt geblieben seien u.a. die in dem offiziellen Brandbericht der Berliner Feuerwehr aufgeführte Brandfackel sowie eine Spur von ausgegossenem Brandmaterial (Benzin oder Benzol). Der Bericht sei an Görings Kanzlei übergeben worden und dort verschwunden; selbst dem Reichsgericht sei er nicht vorgelegt worden[45]. Der für den erwähnten Bericht der Berliner Feuerwehr verantwortliche Oberbranddirektor Gempp sei suspendiert und in einem offensichtlich politisch motivierten Korruptionsprozess angeklagt und verurteilt worden sowie 1938 im Gefängnis zu Tode gekommen, möglicherweise durch Mord[46]. Zahlreichen Hinweisen auf NS-Täter seien die Ermittlungsbehörden und das Reichsgericht nicht nachgegangen. Das betreffe vor allem den NS-Reichstagsabgeordneten Dr. Herbert Albrecht, der von der Polizei vor und kurz nach dem Brand beim fluchtartigen Verlassen des Reichstagsgebäudes entdeckt, dann jedoch aufgrund eines zweifelhaften Alibis wieder freigelassen worden sei[47]. Ferner belegten die Akten Kontakte van der Lubbes zu mehreren SA- und Polizeispitzeln (Willi Hintze, Ernst Panknin, Fritz Henßler und Franz Waschitzki)[48]. Kurz vor oder nach 21 Uhr habe, wie bereits das Reichsgericht in seinem Urteil festgestellt hat, zudem eine unbekannte Person durch das Südportal des Reichstags, das von anderer Hand aufgeriegelt sowie hinter ihr wieder ordnungsgemäß verschlossen worden sei, verlassen und sich eilig in Richtung Königsplatz entfernt. Die Identität dieser Person, die als Mittäter der Brandstiftung in Betracht komme, sei nie geklärt worden[49].
(6) Die Aussagen der van der Lubbe vernehmenden Kriminalbeamten Zirpins, Heise und Bunge vor dem Reichsgericht seien in sich widersprüchlich und widersprächen zudem teilweise ihren späteren Einlassungen nach 1945. Insbesondere Zirpins, der für Tobias als „Kronzeuge“ fungiere, sei aufgrund seiner eigenen Ermittlungsfehler vor allem beim Umgang mit den aufgefundenen Namensschildern sowie wegen seiner widersprüchlichen Aussagen „befangen“ und nicht glaubwürdig[50].
(7) Göring sei bereits gegen 21.19 Uhr und damit bereits einige Minuten vor der um ca. 21.22 Uhr erfolgten Verhaftung van der Lubbes im Reichstag erschienen[51]; offenbar habe er schon vor Ausbruch des Brandes von diesem Kenntnis gehabt[52]. Auch die NS-Spitzenpolitiker Hitler und Goebbels seien so früh im Reichstag eingetroffen, dass der Reichstagsbrand für sie offenbar keine Überraschung gewesen sein könne[53].
(8) Die von dem von Göring geleiteten preußischen Innenministerium in der Brandnacht durchgeführte große Verhaftungsaktion gegen Regimegegner sei bereits vor dem Reichstagsbrand geplant, vorbereitet und Stunden vor Feuerausbruch in Gang gesetzt worden[54].
(9) Ein SA-Mann (Adolf Rall), der sich während des Leipziger Prozesses aus dem Gefängnis gemeldet habe, habe den Berliner SA-Führer Hans-Georg Gewehr als technischen Leiter der Brandstiftung beschuldigt; Rall sei wegen seiner Aussage von der Gestapo im Herbst 1933 ermordet worden; das Ermittlungsverfahren sei auf Anweisung Görings sofort niedergeschlagen worden[55].

Neues vom Reichs­tags­brand?

Anfang 2013 haben der Historiker Alexander Bahar und der Diplomphysiker Wilfried Kugel eine Studie mit dem Titel „Der Reichstagsbrand. Geschichte einer Provokation“ vorgelegt, bei der es sich um die überarbeitete Version ihres 2001 publizierten Werkes „Der Reichstagsbrand. Wie Geschichte gemacht wird“ handelt. Auch in ihrem neuen Werk vertreten sie die Auffassung, dass der „Plan zu einer Provokation“ vor den Reichstagswahlen am 5.3.1933 „wohl“ von NSDAP-Wahlkampfleiter Josef Goebbels stammte und Reichskanzler Adolf Hitler darüber „möglicherweise“ informiert war. Rudolf Diels als Chef der Politischen Polizei sei eingeweiht gewesen und habe zusammen mit dem SA-Gruppenführer Graf von Helldorf die Verhaftungsaktionen im unmittelbaren Anschluss an den Brand geleitet. Das „eigentliche SA-Brandstifterkommando“ habe unter dem Kommando von SA-Führer Karl Ernst gestanden; technischer Leiter der Aktion sei Hans-Georg Gewehr gewesen; weiter habe der Adjutant von Karl Ernst, Walter von Mohrenschildt, dem Brandstifter-Kommando angehört. Der vorab als „Volkstribun“ motivierte Holländer Marinus van der Lubbe sei am Brandabend von der SA („möglicherweise von Wilhelm Sander“) in das Reichstagsgebäude gebracht worden, wo der Brand im Plenarsaal bereits gelegt gewesen sei; er habe als „zu opfernder Strohmann“ gedient (S. 170). Bahar/Kugel stützen sich für ihre Täter-Hypothesen im Kern auf eine Zusammenschau von Aussagen einer Vielzahl von Personen, ohne diese quellenkritisch hinreichend zu prüfen. Das reicht m.E. für eine sichere Überführung der Täter und Mittäter nicht aus. Letztlich räumen sie dies zum Teil in ihrer Wortwahl („wohl“, „möglicherweise“ etc.) auch selbst ein. Es soll dabei allerdings nicht in Zweifel gezogen werden, dass die arbeitsaufwändigen Quellenstudien und die daraus gezogenen Hypothesen beider Autoren wichtige Aspekte erhellen und die Zweifel an der Alleintäter-Theorie vertiefen. Die Glaubhaftigkeit der von ihnen herangezogenen Äußerungen der zahlreichen Personen und möglichen Zeugen sowie deren Glaubwürdigkeit können allerdings auf dieser Grundlage im Detail nicht nachvollziehbar verifiziert werden.

Zu den metho­di­schen Anfor­de­rungen an den Täter­nach­weis

Die Feststellung von historischen Tatsachen stellt an Historiker ähnliche Anforderungen wie an Richter. In einem Gerichtsverfahren müssen die in Betracht kommenden Beweismittel nach den strengen Regeln der Prozessordnung geprüft und gewürdigt werden. Dies gilt insbesondere auch für die Bekundungen von Zeugen, die auf Glaubhaftigkeit und Glaubwürdigkeit untersucht sowie mit sonstigen Beweismitteln abgeglichen werden müssen, um die Tatsächlichkeit der entscheidungserheblichen Vorgänge festzustellen. Zu der in einem Strafprozess notwendigen Widerlegung der Unschuldsvermutung haben sich in der Rechtsprechung strenge Anforderungen an die Beweiswürdigung herausgebildet. Alle Beweismittel müssen in die öffentliche gerichtliche Hauptverhandlung eingeführt werden („Mündlichkeitsprinzip“) und dort Gegenstand eines dialogischen Verfahrens mit Befragungs- und Beweisantragsrechten der Prozessbeteiligten sein; anderenfalls dürfen sie nicht berücksichtigt werden. Bei der Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen haben die Richter lege artis insbesondere auch die Methoden und Erkenntnisse der Aussagenpsychologie heranzuziehen[56]. Für die Überführung eines Angeklagten bedarf es der „vollen Gewissheit“ des Tatrichters über den Tathergang, die dieser aufgrund freier Beweiswürdigung „aus dem Inbegriff der mündlichen Verhandlung“ schöpfen muss. Erforderlich ist ein nach der Lebenserfahrung „ausreichendes Maß an Sicherheit, demgegenüber vernünftige Zweifel nicht mehr aufkommen“. Zur Überführung eines Angeklagten ist zwar keine „mathematische Gewissheit“ von dessen Schuld erforderlich. Der Beweis muss jedoch mit lückenlosen, nachvollziehbaren und logischen Argumenten geführt sein. Die Beweiswürdigung muss auf einer tragfähigen, verstandesmäßig einsichtigen Tatsachengrundlage beruhen und erschöpfend sein. Der Tatrichter ist gehalten, sich mit den von ihm festgestellten Tatsachen unter allen für die Entscheidung wesentlichen Gesichtspunkten auseinander zu setzen und seine Beweiswürdigung in den Urteilsgründen schlüssig und nachvollziehbar darzulegen.
Der Beweiswürdigung durch Richter entsprechen bei den Historikern die methodengerechte Quellenkritik und die anschließend lege artis vorgenommene Quelleninterpretation. Dazu ist zunächst zu sichten und zu untersuchen, ob und inwieweit die jeweils zur Verfügung stehende Quelle überhaupt als „zeugnisfähig“ zuzulassen ist. Dies erfordert Klarheit darüber, ob sie wirklich das ist, wofür sie ausgegeben und angeführt wird oder ob sie etwa ganz oder zum Teil gefälscht ist; der Benutzer eines schriftlichen Textes als historischer Quelle muss sich lege artis u.a. vergewissern, ob ihm der authentische Wortbestand vorliegt; er muss ggf. dafür sorgen, dass dieser von fremden Einschüben methodengerecht befreit wird. Neben dieser Textsicherung ist die äußere und innere Quellenkritik erforderlich, bei der es darum geht, Entstehungszeit, Entstehungsort, Verfasser und Adressaten eines Textes sicher zu bestimmen sowie den Text sprachlich und sachlich aufzuschlüsseln. Nachdem die in Betracht kommenden Quellen kritisch gesichtet und bestimmt sind, ist ihre inhaltliche Zuverlässigkeit und Validität zu prüfen. Im Rahmen der anschließenden Quelleninterpretation ist dann zunächst der Aussagebereich der Quelle einzugrenzen und abzuschätzen. Schlüsselfragen sind dabei vor allem: Welche Absichten verfolgte der Verfasser des Textes? Liegen Informationen über die Situation von Verfasser und Adressat zum Zeitpunkt der Abfassung des Textes vor? Wie erklären sich Abweichungen zu anderen zeitgenössischen Äußerungen zum gleichen Thema? Anschließend ist der Erkenntniswert der Quelle für die eigene Fragestellung nachvollziehbar zu bestimmen und darzulegen.
Dass in den Kontroversen um die Reichstagsbrand-Täterschaft die Quellenkritik und die Quelleninterpretation diesen methodischen Anforderungen in jeder Hinsicht genügt haben und genügen, vermag ich bisher nicht zu erkennen. Das gilt nicht nur für die in methodischer Hinsicht eher laienhaften Darstellungen von Fritz Tobias, sondern auch für die auf intensiveren Archivstudien beruhenden „tobiaskritischen“ Arbeiten von Fischler, Bahar und Kugel sowie für Kellerhoffs Backdraft-Theorie, mit der dieser die Richtigkeit der Alleintäter-Theorie beweisen will. Kellerhoff verstrickt sich nicht nur in – von ihm auch eingeräumte – begriffliche Widersprüche bei der Interpretation von Brandabläufen. Eine hinreichende Auseinandersetzung mit den vorliegenden Sachverständigengutachten findet bei ihm nicht statt; dafür verliert er sich ähnlich wie seinerzeit Fritz Tobias teilweise in schwer nachvollziehbarer Polemik. Auch seine Würdigung vorliegender Zeugenaussagen ist lückenhaft und erkennbar selektiv. Insgesamt vermag sie die zahlreichen anderen Defizite und Widersprüche der Alleintäter-Theorie nicht zu beheben und zu schließen. Angesichts dessen überrascht es nicht, dass bislang kein wirklich überzeugender Täternachweis geführt werden konnte. Dabei darf allerdings nicht vergessen werden: Die Ursachen für die fortbestehende Ungewissheit über die Identität des oder der Brandstifter liegen in erster Linie in den unzureichenden Ermittlungen unmittelbar nach dem Brandanschlag durch die NS-kommandierte Polizei, den von der Hitler-Regierung „handverlesenen“ Untersuchungsrichter und den weisungsgebundenen Oberreichsanwalt. Auch der IV. Strafsenat des Reichsgerichts erfüllte die ihm nach der Strafprozessordnung gestellten Aufgaben nicht im gebotenen Maße[57]. Schließlich vermochten auch nach 1945 die Justizorgane beider deutscher Staaten nicht, Licht in das Dunkel zu bringen. In der Bundesrepublik wurden die dafür vorhandenen Chancen insbesondere in den am Widerstand der Nachkriegsjustiz gescheiterten Wiederaufnahmeverfahren vertan. Auch in der DDR kam es zu keinen Wiederaufnahmeverfahren. Man beließ es in der Tradition der „Braunbücher“ bei der tradierten These von der Täterschaft „der Nazis“.

DIETER DEISEROTH Dr. jur, Jahrgang 1950, ist Richter am Bundesverwaltungsgericht und Mitglied des Beirats der Humanistischen Union. Zahlreiche Veröffentlichungen u.a. zum Friedensgebot des Grundgesetzes (vorgänge Nr. 189), zur völkerrechtlichen Bewertung von Militäreinsätzen und „Humanitären Interventionen“, zum Schutz von Whistleblowern und der Meinungsfreiheit von Redakteuren.

Anmerkungen
1Vgl. dazu Zentral- und Landesbibliothek Berlin, Archiv des Reichstagsbrandforums 1995 – 2008, abrufbar unter http://www.zlb.de/projekte/kulturbox-archiv/brand/.
2Die Welt vom 20.2.2013.
3Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitlerterror, Basel 1933 (Reprint 1978); Braunbuch II. Dimitroff contra Göring. Paris 1934 (Reprint 1981); vgl. dazu u.a. Sohl, in: Jahrbuch für Geschichte 21 (1980), S. 289 ff.
4Vgl. den vollständigen Text des Urteils in: Deiseroth (Hrsg.), Der Reichstagsbrand und der Prozess vor dem Reichsgericht, 2006, S. 227 ff., S. 263 (Seite 37 des Urt.).
5Spiegel-Serie Heft 43/1959 bis Heft 1-2/1960.
6Fritz Tobias, Der Reichstagsbrand, Rastatt 1962.
7Tobias verlegt den Zeitpunkt des Einstiegs van der Lubbes in das Reichstagsgebäude auf „um 21.30 Uhr“ (ebd., S. 64), obwohl feststeht, dass bereits um 21.13 Uhr, nachdem das Feuer im Reichstag entdeckt worden war, die Feuerwehr (Feuerwache Moabit) alarmiert wurde; vgl. dazu u.a. Vermerk der Hauptfeuerwache Berlin vom 7.3.1933, abgedr. in Tobias, a.a.O., S. 270 f.; Berndt, VfZ 23 (1975), S. 77 (80); Fischler, VfZ 2005, S. 617 (624 f.).
8Tobias, ebd., S. 67f.
9Tobias, ebd., S. 77.
10Vgl. auch Tobias in: Die Welt vom 27.1.2000, S. 4.
11Ebd., S. 447.
12Ebd., S. 448 ff.
13Abgedr. in: Hans Schneider, Neues vom Reichstagsbrand? Dokumentation. Ein Versäumnis der deutschen Geschichtsschreibung. Mit einem Geleitwort von Iring Fetscher und Beiträgen von Dieter Deiseroth, Hersch Fischler und Wolf-Dieter Narr. Berliner Wissenschaftsverlag. Berlin 2004, S. 231 ff.
14Fischler in: Schneider, Neues vom Reichstagsbrand?, a.a.O., S. 50 f.
15Abgedr. in: Schneider, Neues vom Reichstagsbrand?, a.a.O., S. 247 f.
16Abgedr. in: Schneider, Neues vom Reichstagsbrand?, a.a.O., S. 235 ff.
17Hans Mommsen, Der Reichstagsbrand und seine politischen Folgen, VfZ, 1964, S. 351 ff.
18Hans Schneider, Neues vom Reichstagsbrand?, a.a.O.
19Vgl. VfZ 49/3 (Juli 2001), S. 555; vgl. auch die Stellungnahme dazu von Fischler/Brack, VfZ 2002, S. 329 ff.
20Vgl. dazu u.a. Deiseroth in: Schneider, a.a.O., S. 29 ff. sowie ders., Der offene und freie Diskurs als Voraussetzung verantwortlicher Wissenschaft, in: Albrecht/Braun/Held (Hrsg.), Einstein weiterdenken, Berlin 2006, S. 193 ff.
21Hofer/Edouard Calic/Graf/Zipfel (Hrsg.), Der Reichstagsbrand. Bd. 1, 1972 und Bd. 2, 1978.
22Vgl. dazu vor allem die Beiträge von Jesse, Backes, Tobias, Köhler und Janßen, in: Backes/Janßen/ Jesse/Köhler/Mommsen, a.a.O., S. 58 ff., S. 88 ff., 115 ff., S. 167 ff. und S. 216 ff.; Jesse, in: FAZ v. 6.1.1988.
23Hofer/Calic/Graf/Zipfel (Hrsg.), Der Reichstagsbrand. 3. Aufl., bearbeitet und neu herausgegeben von Alexander Bahar, 1992.
24Robert W. Kempner, Ankläger einer Epoche, 1983, S. 103 ff.
25Vgl. u.a. BGH, Beschluss v. 22.12.1981 – Az: 2 Ars 232/81 -, NStZ 1982, 214; Ries, NStZ 1981, S. 274 f.; KG, Beschluss v. 2.5.1983 – Az 3 ARs 4/83.
26Vgl. Kempner in: Wasserburg/Waddenhorst (Hrsg.), Festgabe für Karl Peters 1984, S. 365 ff.
27H. Mommsen, VfZ 12 (1964), S. 351 ff.; ders. in: Backes u.a., Reichstagsbrand a.a.O., 6, S. 253; ders., in: Die Welt, 22.1.2001; ders., SZ v.15./16.7.2006.
28Heinrich August Winkler: Der Weg in die Katastrophe.1990, S. 880 ff.
29Hans Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 4, 2003, S. 604.
30Klaus Hildebrand: Das Dritte Reich, Band 17, 5. Aufl. München 1995, S. 300.
31Ian Kershaw, Hitler, 1998.
32Richard J. Evans, Das Dritte Reich, 2004.
33Vgl. ARD-Dokumentation am 21.2.2013.
34Wiegrefe in: Der Spiegel Nr. 15/2001, S. 38 (58).
35Vgl. Fischler in: Die Welt v. 8.2.2000, S. 6 (Streitgespräch mit Fritz Tobias); diese Kreise hätten u.a. wegen der peinlichen parlamentarischen Untersuchungen von Subventionsbetrug von Großagrariern aus „Ostelbien“ ein besonderes Interesse an einer Ausschaltung des Reichstages gehabt. Zwei Tatverdächtige aus dem „rechten Spektrum“ (Schornsteinfeger Wilhelm Heise und der Holländer Constant F. Schoch) seien festgenommen, trotz bestehender Verdachtsmomente aber „ohne Alibi eiligst entlassen worden.“
36Fischler in: Zentral- und Landesbibliothek Berlin, Archiv des Reichstagsbrandforums 1995 – 2008, http://www.zlb.de/projekte/kulturbox-archiv/brand/fischler.htm, S. 2; ders. in Deiseroth, a.a.O., S. 121 ff.
37Vgl. Schneider, Neues vom Reichstagsbrand?, a.a.O., S. 129 ff.; ders., Nach dreißig Jahren, a.a.O., S. 185 f.; vgl. Bahar in: Deiseroth, a.a.O., S. 156; im Jahre 1970 sei zudem ein Gutachten des Thermodynamischen Instituts der TU Berlin auf der Basis zeitgemäßer wissenschaftlicher Berechnungsmethoden zu dem gleichen Ergebnis gekommen, ebd., S. 157.
38Fischler, VfZ 2005, S. 631.
39Vgl. dazu u.a. Schneider, Neues vom Reichstagsbrand?, a.a.O., S. 91 ff, 105 ff; ders., Nach dreißig Jahren, a.a.O., S. 183 f.; Schmädecke/Bahar/Kugel, HZ 269 (1999), S. 608 ff; Bahar/Kugel, Der Reichstagsbrand, a.a.O., S. 116 ff.
40Bahar in: Deiseroth, a.a.O., S. 156 m.w.N.
41Schneider, Nach dreißig Jahren, a.a.O., S. 185; Bahar/Kugel in: TAZ 21.2.1998.
42Bahar in Deiseroth, a.a.O., S. 157 m.w.N.
43Schneider, Nach dreißig Jahren, a.a.O., S. 184 f. (bei Vernehmung und Tatortbegehungen sei die „Initiative“ unprofessionell van der Lubbe überlassen worden, der wesentliche Angaben erst gemacht habe, „nachdem er den Tatort wieder gesehen hatte“; Tatortbegehung unter den erleichternden Bedingungen von Tageslicht; Nichtberücksichtigung zeitraubender Handlungen wie z.B. Aus- und Wiederanziehen von Kleidungsstücken).
44Fischler in: Deiseroth, a.a.O., S. 102 f.
45Schneider, Nach dreißig Jahren, a.a.O., S. 186; Bahar in Deiseroth, a.a.O. S. 159.
46Schneider, Neues vom Reichstagsbrand?, a.a.O., S. 132 ff; ders., Nach dreißig Jahren, a.a.O., S. 185 f; Bahar in Deiseroth, a.a.O., S. 159.
47Bahar/Kugel in TAZ vom 21.2.1998; Fischler in: Deiseroth, a.a.O., S. 121 ff.
48Bahar in Deiseroth, a.a.O., S. 152 f.
49Schneider, Neues vom Reichstagsbrand?, a.a.O., S. 186 f; Bahar/Kugel, a.a.O., S. 149 ff.
50Fischler in: Deiseroth, S. 89 (102 ff, 110, 115, 117).
51Bahar/Kugel, ebd., S. 128.
52Bahar in Deiseroth, a.a.O., S. 155.
53Bahar/Kugel, ebd., S. 137 ff.
54Fischler in: Zentral- und Landesbibliothek Berlin, Archiv des Reichstagsbrandforums 1995 – 2008, a.a.O.; Bahar in Deiseroth, a.a.O., S. 153 f.
55Bahar in Deiseroth, a.a.O., S. 157 f.
56Zu den rechtlichen Anforderungen an einen Tatnachweis im Prozessrecht vgl. u.a. BVerwG, Urteil vom 19.7.2007 – Az: BVerwG 2 WD 13.05 -, NVwZ-RR 2007, S. 182 ff m.w.N.; Deiseroth, jurisPR-BVerwG 2/2007, Anm. 4; BVerfG, Beschluss vom 29.10.2007 – 2 BvR 1461.06 – m.w.N.
57Vgl. dazu auch Deiseroth, Der Reichstagsbrand-Prozess – ein rechtsstaatliches Verfahren?, in: Kritische Justiz 42 (2009), S. 303–316.

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