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Rezension: Denn wer nicht hat, dem wird genommen

vorgänge12/2021Seite 87 - 89

In: vorgänge Nr. 234 (2/2021), S. 87 -89

Denn wer nicht hat, dem wird genommen

Carolin Butterwegge, Christoph Butterwegge: Kinder der Ungleichheit. Wie sich die Gesellschaft ihrer Zukunft beraubt. Frankfurt/M. und New York: Campus 2021, 303 Seiten, 22,95 Euro [ISBN 978-3-5935-14833]

Das Ehepaar Christoph und Carolin Butterwegge hat zur rechten Zeit ein populärwissenschaftliches Werk zur Ungleichheit von Kindern verfasst. Die Erziehungswissenschaftlerin und der Sozialwissenschaftler sind mit ihrer Expertise in der Armutsforschung ausgewiesen. In neun Arbeitsschritten werden Ursachen sozialer Ungleichheit von Kindern und Familien benannt, soziale, ökonomische und psychosoziale Folgen von Armut beschrieben und schlussendlich sehr konkrete politische Lösungsmöglichkeiten dargestellt.

Das Paar definiert in einem ersten Schritt präzise die Ungleichheit und das Gegensatzpaar „arm“ und „reich“. Damit erfolgt eine Hypothesenbildung im Brechtschen Sinne, dass es Armut ohne die Existenz von Reichtum nicht geben kann. Dieser Grundgedanke durchzieht das Werk und wird vielfältig belegt. Ein zweites Kapitel beweist die Konzentration von Vermögen bei wenigen Reichen und zugleich die Ausweitung von Armut bis hinein in die Mitte der Gesellschaft. Deutlich wird, wie Armut in Deutschland schon seit geraumer Zeit nicht mehr auf sogenannte Randgruppen beschränkt ist.

In einem dritten Kapitel befassen sich Autorin und Autor mit der sozialen Ungleichheit von Kindern und damit, wie stark die Ungleichheit in der Welt der Erwachsenen auf die Kinder zurückschlägt. Sie belegen die Spaltung der Gesellschaft, indem sich die verschiedenen sozialen Gruppen in wachsender Geschwindigkeit voneinander entfernen. Unter den Wohlhabenderen entsteht eine stigmatisierende Ausgrenzung der Armen. In der aktuellen Entwicklung Deutschlands handelt es sich um eine Gesellschaft, in der immer mehr Menschen der Aufstieg verwehrt wird.

Ein Kapitel befasst sich mit der Lebenssituation kinderreicher Familien, Alleinerziehender, Arbeitsloser und von Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit, deren besondere Armutsrisiken dezidiert erläutert und belegt werden. Neben weiteren Facetten wird der exorbitante Anstieg der Wohnungsmieten als ein in die Armut treibender Kostenfaktor benannt.

Unter der Überschrift „Wo eine Villa ist, ist auch Weg …“ setzen sich die Butterwegges sensibel mit „infrastruktureller Ungleichheit“ auseinander, wenn sie auf die Unterschiede zwischen dem Leben im Luxusquartier und im Hochhaus am Rand der Stadt verweisen. Armut gekoppelt mit exponentiell steigenden Mieten verdrängt arme Familien in arme Quartiere ohne eine Infrastruktur, die anspruchsvolle Freizeit, Sport und Bildungsmöglichkeiten ermöglicht. Städte werden durch Quartiersbildung somit Orte sozialer Spaltung. Urbane Spaltung plus Sparmaßnahmen bei der sozialen Infrastruktur in benachteiligten Quartieren, wie das Einsparen von Jugendfreizeitheimen, erschweren den sozialen Aufstieg armer Kinder zusätzlich. Die Mehrgliedrigkeit des Schulwesens wirkt ebenfalls als Katalysator für die Verstetigung der Armut. Leider bleibt dieser Teil des Buches wenig ausgeleuchtet. Richtig aber führen beide aus, wie sehr die Bildungsunterschiede eher den Klassengegensätzen geschuldet sind als einer vermeintlichen „Begabung“. Deutlich wird nachgewiesen, wie umfangreich die Bildungsmöglichkeiten reicher Kinder gegenüber den Kindern aus von Armut betroffenen Familien sind. Dies artikuliere sich auch in der explosionsartigen Zunahme privater Bildungseinrichtungen. Eher am Rande erwähnt wird die Austeritätspolitik als Ursache für Ausstattungsmängel in öffentlichen Schulen, was reiche Eltern veranlasst, der staatlichen Schule den Rücken zu kehren. Insofern ist es die Politik der schwarzen Null, die eine Ökonomisierung auch des Bildungswesens ermöglicht.

Wie bei der Bildung, so auch bei der Gesundheit: Es erschüttert die sachliche Aussage des Paares, dass die mittlere Lebenserwartung von Armut bedrohter Männer gegenwärtig 10,8 Jahre kürzer ist als die einkommensstarker Männer. Ähnliche Zahlen werden in Bezug auf die nachgeburtliche Sterblichkeit von Säuglingen konstatiert. Die Butterwegges skandalisieren die Zahlen nicht, sondern referieren sie – was den Skandal nicht minder aussagekräftig macht.

Um Kinderarmut bekämpfen zu können, bedarf es des Wissens über ihre Ursachen. Dazu gehen Autorin und Autor auf die Eigentums-, Einkommens- und Vermögensverteilung ein, in der die soziale Ungleichheit wurzelt. Sie problematisieren die Kernforderungen des neoliberalen Umbauprozesses nach Liberalisierung und Deregulierung, nach Privatisierung öffentlichen Eigentums und der Ökonomisierung nahezu aller Lebensbereiche. Einen Abschnitt widmen sie der Verbilligung der Arbeit mittels der Agenda 2010 und den Hartz-Gesetzen, dem Ausbau des Niedriglohnsektors und des Kombilohns. Den so sinkenden Löhnen und steigenden Gewinnen stehen steigende Mieten und Vermietungsgewinne gegenüber. Die sich herausbildende Wohnungsmisere verschärft die Armutsgefährdung. Im Ergebnis dieses Prozesses werden Kinder und Jugendliche zu den Hauptleidenden der sogenannten Sozialreformen, wie sie von der Agenda 2010 ausgehen.
Detailliert wird nachgewiesen, in welchem Umfang die Familienpolitik an der Mittelschicht orientiert ist. Leider wird der Begriff der Mittelschicht nicht explizit definiert; gleichwohl wird dies im fortlaufenden Zusammenhang implizit deutlich. Deutlich wird jedoch eine Familienpolitik und das vorherrschende Besteuerungsprinzip nach dem Prinzip, dass dem gegeben werde, der bereits hat.
Hochaktuell wird das Buch in dem Kapitel über die sozialen Spaltungen in der „Generation Corona“. Weder wurden in der Politik des Bundes und der Länder die Auswirkungen der Pandemie auf die verschiedenen ökonomisch unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen analysiert, noch konnten aus der nicht vorhandenen Analyse Konzepte für den Schutz der besonders gefährdeten sozial benachteiligten Gruppierungen getroffen werden. Das schreibende Paar weist auf die Gefahren hin, die durch leere Kassen der Kommunen nach der Pandemie entstehen, wenn keine notwendigen Investitionen in die soziale Infrastruktur geleistet werden können. Differenziert und sensibel wird auf die Isolationsbedingungen von Kindern und Jugendlichen während der Coronakrise eingegangen und auf die besonders intensiven Auswirkungen bei den von Armut betroffenen Kindern, wie auch auf die Planlosigkeit der Kultusverwaltungen während der Pandemie.
In den abschließenden zwei Kapiteln werden konkrete politische Maßnahmen gegen die Armut benannt und beschreitbare Wege aufgezeigt, um die Zukunft des Landes nicht aufs Spiel zu setzen. Dabei helfe nicht der stereotyp vorgeschlagene Weg, mittels Bildung die Armut zu überwinden. Es wird nachgewiesen, dass die Anzahl der von Armut Betroffenen, die einen Ausbildungs- und oft den Abschluss einer Hochschule nachweisen können, fast drei Viertel der Armen ausmacht. Der offenbar einzige Weg der Überwindung der Armut ist die Umkehr der Reichtumsverteilung: Sie muss von oben nach unten erfolgen. Dazu schlagen Autorin und Autor im letzten Kapitel keynesianische Methoden vor und argumentieren engagiert gegen die Bekämpfung der Armut mittels Almosen, die die Rechtlosigkeit verstärken. Dies wird in einem Abschnitt über die Politik von Stiftungen differenziert nachgewiesen. Hilfreich ist die Argumentation zu Aspekten der Grundsicherung. Gleiches gilt für den Abschnitt zur notwendigen Stärkung der sozialen Infrastruktur, um auch so der Bildungsbenachteiligung entgegenzuwirken. Zu Recht endet das Buch mit einem Abschnitt über die Notwendigkeit, das Wohnen bezahlbar zu machen.

Carolin und Christoph Butterwegge legen ein engagiertes, differenziert argumentierendes Buch vor, das trotz kleinerer Wiederholungen stringent in der Argumentation ist und leicht lesbar eine populäre Darstellung des Problems bietet. Ein in den aktuellen Zeitläuften notwendiges und zudem höchst aktuelles Buch.

Wolfram Grams

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