Arbeitsrecht für Lohnabhängige
aus vorgänge Nr. 40/41 (Heft 4/5/1979), S. 177-179
Wolfgang Däubler: Das Arbeitsrecht
Leitfaden für Arbeitnehmer. Von der Kinderarbeit zur Betriebsverfassung, Rowohlt-Verlag (rororo aktuell 4057 A), Reinbek 1976; 380 S; DM 8,80
Das Arbeitsrecht — bislang zumeist Domäne für darauf spezialisierte Juristen—soll mit diesem Buch endlich denjenigen zugänglich gemacht werden, deren Leben zum großen Teil von der Anwendung dieses Rechts geprägt ist. Es sind dies immerhin 85 Prozent aller Erwerbstätigen, die wir als Lohnabhängige, im weitesten Sinne als abhängig Arbeitende bezeichnen. Sie sind gezwungen, ihre Arbeitskraft an die Produktionsmitteleigner zu verkaufen. Im Produktionsbereich z.B. geschieht dies zu der Grundbedingung, daß der Lohnabhängige mehr wirtschaftliche Werte schafft, als er selbst in Form des Lohnes erhält. Aus dieser Differenz, dem Mehrwert — Grundelement der Ausbeutung im kapitalistischen Wirtschaftssystem —, rekrutiert sich der Profit des Unternehmers.
Das Arbeitsrecht ist Ausdruck dieses Gegensatzes zwischen Kapital und Arbeit, dieser ökonomischen Herrschaftsstrukturen, die ursächlich durch die kapitalistischen Produktions- und Eigentumsverhältnisse gekennzeichnet sind, durch das Privateigentum an und die Verfügungsgewalt über Produktionsmittel, durch die Vergesellschaftung der Produktion in Verbindung mit der privaten Aneignung von Produkt und Mehrwert.
Das Arbeitsrecht regelt seinem Gegenstand nach die Beziehungen zwischen Unternehmer und abhängig Arbeitenden, zwischen Kapital und Lohnarbeit. Es regelt die Bedingungen, zu denen die Ware Arbeitskraft angekauft wird und die Bedingungen, zu denen der tägliche Verkauf von Arbeitskraft abläuft. Nicht um vor Ausbeutung zu schützen, sondern um sie zu gewährleisten.
Das Arbeitsrecht ist der Sammelbegriff nicht nur für alles auf den Lebensbereich Arbeit bezogene Gesetzesrecht, sondern umfaßt auch das in Arbeitsgerichtsurteilen entwickelte Richterrecht, die sog herrschende Lehre in der juristischen Literatur sowie die Tarifverträge und betrieblichen Rechtssetzungen und nicht zuletzt die im Völkerrecht entwickelten Arbeitsrechtsnormen, die auch nationale Wirkung entfalten.
Wolfgang Däubler folgt in seiner Darstellung nicht der herkömmlichen Unterteilung der Materie „Arbeitsrecht” in „Individualarbeitsrecht” und „kollektives Arbeitsrecht”, wonach im einen Fall das Individuum, im anderen das Kollektiv im Mittelpunkt stehen soll; er ist der Auffassung, diese Untergliederung verzerre die Realität und besitze insoweit ideologischen Charakter, da hierdurch von der Zielsetzung und Funktion her Zusammengehörendes zerrissen werde. Schließlich dienten einerseits Tarifvertrags- und Betriebsverfassungsrecht letztlich ebenso dem einzelnen abhängig Arbeiten-den wie zum Beispiel der Kündigungsschutz. Andererseits seien ohne den solidarischen Einsatz des Kollektivs keine Fortschritte im Einzelarbeitsverhältnis erreichbar.
Aus diesem Grund gliedert Däubler seine Arbeit in „das Recht der gewerkschaftlichen und betrieblichen Selbsthilfe” und daran anschließend in einzelne konkrete Problemkomplexe. Unter dem Abschnitt „Selbsthilferecht” stellt er diejenigen Rechtsnormen und Probleme dar, die sich auf Gewerkschaften und Betriebsvertretungen als den Motor der Arbeitsrechtsentwicklung beziehen. Hierunter fallen besonders die Koalitionsfreiheit, das Tarifvertragsrecht, das Arbeitskampfrecht, das Recht der betrieblichen Interessenvertretung sowie die Mitbestimmung in Unternehmen. Jener Teil mit den einzelnen Problemkomplexen ist als gesonderter Folgeband vorgesehen. Zu diesen Sachgebieten zählen unter anderem: Erwerb und Verlust des Arbeitsplatzes, Schutz vor inhumanen Arbeitsbedingungen und Sicherung des Lohnanspruchs sowie das Sozialversicherungsrecht.
Die Bedeutung des vorliegenden Buches liegt nun vorallem darin, daß es Wolfgang Däubler gelungen ist, eine kritische und auch für den Laien verständliche Darstellung der arbeitsrechtlichen Grundstrukturen auf dem Hintergrund der ökonomischen Zusammenhänge und Mechanismen vorzulegen.
Als Recht in einem kapitalistischen Land, so erkennt Däubler, sind die arbeitsrechtlichen Normen ihrer Natur nach bürgerliches Klassenrecht, „indem sie unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen die bürgerlichen Interessen sichern” (35). Gleichzeitig jedoch seien sie auch Waffenstillstandslinien zwischen der besitzenden und der arbeitenden Klasse, „die anzeigen, in welchem Umfang die Arbeitnehmer der Gegenseite die Beachtung ihrer Interessen aufzwingen konnten” (35). Insofern sei auch der Kampf der Arbeiter und Angestellten um Rechtspositionen nicht unnütz. So habe erst der Zusammenschluß der abhängig Arbeitenden in einzelnen spontanen Kampfaktionen und später in festeren gewerkschaftlichen Organisationen die Gegenwehr gegen Unternehmerwillkür und schrankenlose Ausbeutung ermöglicht, was auch seinen Niederschlag im Arbeitsrecht fand.
„Der vom Arbeitgeber mit dem einzelnen Arbeitnehmer ,vereinbarte` Arbeitsvertrag wurde durch den von der Gewerkschaft ausgehandelten Tarifvertrag ergänzt, der einen Mindeststandard an Lohn und Arbeitsbedingungen garantierte” (30). So können heute auch wesentliche Verbessserungen zunächst in einzelnen Tarifverträgen erkämpft werden, um dann vom Gesetzgeber auf alle Beschäftigten ausgedehnt zu werden. Als Beispiel führt Däublers unter anderem die Tarifverträge an, welche einen Bildungsurlaub gewährten, der jetzt zumindest in einigen Bundesländern — gesetzlich anerkannt ist. Ähnlich verlief der Kampf um die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall: sie wurde in vollem Umfang erstmals im schleswigholsteinischen Metallarbeiterstreik 1956 erreicht und dann später durch das Arbeiterkrankheitsgesetz 1957 und das Lohnfortzahlungsgesetz 1969 auf alle übrigen Arbeiter ausgedehnt.
Ein weiteres Beispiel, das sich bei Däublers findet, bietet die Fließbandarbeit: „Für sich allein genommen hat sie ohne Zweifel einen produktivitätssteigernden Effekt, doch beeinträchtigt sie auf der anderen Seite die Arbeitsmotivation und Einsatzbereitschaft der beteiligten Arbeiter. Im Extremfall kann dies so weit gehen, daß es profitabler wird, das Fließband wieder völlig abzuschaffen und stattdessen zu einem (durchaus menschlicheren) Arbeitsgruppensystem überzugehen, wie dies in einem englischen und in schwedischen Automobilbetrieben geschah” (32).
Däubler macht an den Beispielen des Arbeitszeit- und Urlaubsrechts sowie der Fließbandarbeit recht deutlich, daß mithilfe jener „Schutz“rechte zugunsten des Arbeitsvermögens der abhängig Arbeiten den letztlich die systembedingte Möglichkeit geschützt wird, die gesunde und funktionsfähige Arbeitskraft der Mehrheit auszubeuten, um des Profits der Minderheit willen. Voraussetzung hierfür ist in der Tat der Schutz der Arbeitskraft, insbesondere vor einem vorzeitigen Verschleiß. Damit wird über das Arbeitsrecht zweierlei erreicht: Erstens läßt sich auf diese Weise der Fortgang der Ausbeutung gewährleisten, also letztlich der kapitalistische Statusquo stabilisieren; zweitens werden die abhängig Arbeitenden gleichzeitig vor allzu krasser Ausbeutung geschützt, was, in Verbindung mit der entsprechenden Ideologiebildung und psychischen Deformation, eine Befriedigung dergestalt bewirkt, daß sie die Tatsache der Ausbeutung ihrer Arbeitskraft durch die Kapitalisten nicht mehr als solche empfinden und sich nicht dagegen gemeinsam erheben.
In diesem Zusammenhang ist auch Däublers Hinweis auf die im Arbeitsrecht festgeschriebene Trennung von Arbeitern und Angestellten bedeutsam. Die Privilegierung der letzteren bei den Kündigungsfristen und früher auch bei der Altersversorgung und der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall sollten ein einheitliches, solidarisches Vorgehen aller abhängig Arbeitenden verhindern oder zumindest erschweren.
Abgesehen von den unmittelbar gegen die Arbeiterbewegung gerichteten Normen warnt Däubler bezüglich des Arbeitsschutzrechts vor dem folgenschweren Irrtum, ein bestimmter Schutz- und Besitzstand sei gesichert, weil er sich nun in Gesetzesform oder in einer ständigen Rechtsprechung niedergeschlagen hat. Er verweist auf die geschichtlichen Erfahrungen, die zeigen, daß Zeiten der Schwäche der Arbeiterbewegung immer auch Zeiten des arbeitsrechtlichen Rückschritts sind. So wurden in den zwanziger Jahren der gesetzliche Acht-Stunden-Tag nachundnach ausgehöhlt, in der Weltwirtschaftskrise die Tarifautonomie faktisch aufgehoben, 1933 die Gewerkschaften zerschlagen und das Koalitions- und Streikrecht abgeschafft. Die periodischen Krisen des Kapitalismus, von denen wir gegenwärtig wieder eine durchleben, schaffen auch heute jenes Klima, in dem sozialer Abbau gedeiht. Wie Däubler richtig feststellt, ist nicht allein die Durchsetzung von Fortschritten, sondern eben auch die Verteidigung einmal erreichter Positionen von der Kampfkraft der Organisationen der Lohnabhängigen abhängig.
Däubler geht es bei seiner Arbeit vorallem darum, unter den gegebenen Bedingungen den Arbeitsrechtsnormen gegenüber dem herrschenden einen anderen Inhalt zu geben. Was er denn auch betreibt mit seinen eigenen Auslegungen kapitalistischen Klassenrechts, mit der Begründung einer alternativen („linken”) Rechtsdogmatik. Damit hat er eine beachtliche Minderheitsposition erklommen, von der aus er gegen die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts angeht. Die Gefahr besteht darin, daß auf diese Weise Illusionen genährt werden können, mit solchen Interpretationen zugunsten der Lohnabhängigen könne das kapitalistische System nach und nach aus den Angeln gehoben, ein friedlicher Übergang zum Sozialismus zustandegebracht werden.
Die Grenze der Däublerschen Arbeit liegt dort, wo damit Grundprinzipien der kapitalistischen Wirtschaftsordnung — der Widerspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital — tangiert werden. Seine Forderung, die rechtliche und formale Gleichheit solle zur realen gesellschaftlichen Gleichheit ergänzt werden, versucht Däubler von der bestehenden Rechtsordnung aus zu formulieren und aus den allgemeinen Normen abzuleiten. Damit bindet er sich an die Substanz des rechtlichen Statusquo, ohne der Tatsache gerecht zu werden, daß dem Arbeitsrecht, wie jedem Recht als Überbauphänomen, die materielle Basis, hier die kapitalistische Produktionsweise zugrundeliegt, deren Organisation also letztlich das Leben der Menschen bestimmt. Diese Erkenntnis erst zeigt, daß eine grundlegende Änderung der Lebensverhältnisse folglich auch an dieser Basis anzusetzen hat und nicht an der hiervon abhängigen, allgemeinen, formalen und abstrakt egalitären Rechtsordnung.
Trotz dieser Kritik an der Arbeit Däublers bleibt sein Buch äußerst wichtig, zumal wenn seine Ausführungen als Übergangsforderungen bis hin zur Arbeitskontrolle begriffen werden. So könnten die Argumentationen und vorgelegten Materialien zu einer Politisierung der bundesrepublikanischen Klassenauseinandersetzung beitragen und besonders im gewerkschaftlichen Bereich eine zumindest aufklärerische Wirkung entfalten. Nicht zuletzt seine Positionen etwa zum „wilden” Streik und zur Aussperrung weisen Däubler als einen Interessenvertreter der abhängig Arbeitenden aus, der eben versucht, das geltende Recht für diese voll auszuschöpfen.