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Behördliche Heils­bot­schaften

18. Dezember 2008

Der Weg des Individuums in den Chip. Aus: Mitteilungen Nr. 203, S. 1-3

Behördliche Heilsbotschaften

Die „Elektronische Gesundheitskarte“ wird trotz aller Einwände kommen, versichert die Bundesgesundheitsministerin den „lieben Bürgerinnen und Bürgern“. Ihre Botschaft: die Karte soll das System transparenter machen und Bürokratie abbauen. Das kennen wir schon. „Diese kleine schlaue Karte“, schreibt die Ministerin, „mit der die bisherige Krankenversichertenkarte schrittweise abgelöst wird, ist eine Neuerung, die unmittelbar den Menschen zugute kommt. Sie ebnet den Weg für mehr Qualität, mehr Sicherheit und mehr Effizienz im Gesundheitswesen.“

Ob eine Karte „schlau“ sein kann oder ob wir es hier mit einer schlauen Ministerin zu tun haben, ob die Karte, wenn sie es denn könnte, nicht lieber „klug und weise“ sein sollte, wollen wir dahingestellt sein lassen. Schlau im Sinne der Durchsetzbarkeit eines politischen Vorhabens ist es aber sicher, einen großen Apparat zu schaffen, mit Beirat und Einbindung vieler politischer und gesellschaftlicher Gruppen und Verbände, – nicht ohne ständig mit dem altrömischen Cato zu proklamieren: im übrigen bin ich für den Abbau der Bürokratie. Der neugegründete Apparat heißt „gematik“ – „Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte mbH“. Vertreter der Bundesländer mischen mit und – selbstverständlich – Vertreter des Innen- und des Finanzministeriums. Ärztekammern, Krankenkassen, Professoren und Psychotherapeuten, Versicherungswirtschaft und Europäische Gemeinschaft sind mit im Boot.

Diese nicht vollständige Aufzählung läßt ahnen, welche Interessen da aufeinander prallen und warum das Projekt, das „spätestens“ ab 1. Januar 2006 laufen sollte, immer noch nicht über eine begrenzte Testphase hinaus gediehen ist. Allein 200 Anbieter für die Software der Gesundheitskarte hoffen auf ein Stück von dem großen Kuchen, der zu verteilen ist. Immerhin zahlen wir schon ein bißchen für die E-Karte: ab 1. Juli dieses Jahres einen halben, vom kommenden Jahr an einen ganzen Euro pro Kassenmitglied und Jahr. Bei rund 80 Millionen Versicherten kommt da schon einiges zusammen, aber der Finanzbedarf allein für die Einführung der Gesundheitskarte soll nach Angaben der „gematik“ 1,6 Milliarden Euro betragen.

Hunderttausende von Lesegeräten müssen angeschafft werden: für die Arztpraxen, Apotheken, Krankenhäuser. Was der laufende Betrieb kostet: die Wartung des Systems, die Vergütung für den Zeitaufwand aller Beteiligten, kann niemand voraussagen. Nur ein neuer Begriff ist schon erfunden: Krankenhäuser dürfen einen „Telematikzuschlag“ erheben, eine Art „Bedienzuschlag“ für das Gesundheitswesen. Reicht am Ende das Geld nicht, kann das Gesundheitsministerium die Beiträge der gesetzlich Versicherten per Rechtsverordnung erhöhen.

Wie kommt nun, im Sinne unserer Fragestellung, „das Individuum in den Chip?“ Eine Krankenkasse hat einen Speicherstick produzieren lassen, der den Vorgang folgendermaßen auf den Bildschirm zaubert: Begleitet von einer angenehmen Männerstimme, schweben Gebäude durch den Raum – ein Rechenzentrum, eine Apotheke, ein Krankenhaus. Gesundheitskarten bewegen sich anmutig wie Papierschwalben von Terminal zu Terminal, symbolische Schlüssel bunt wie Blumen tanzen ihren Reigen. Wenn von Menschen die Rede ist – von Ärzten, Apothekern, Versicherten – sieht man Bildschirme und Computergehäuse. Man hört die wohlklingenden Namen unbekannter Dinge: Kartenapplikationsmanagement, Hochsicherheitsmodul, Verordnungsdatenserver. Am Ende sagt die Stimme: „Natürlich steht für uns der Versicherte im Vordergrund.“

Die Erstellung seiner E-Karte beginnt bei der jeweiligen Krankenkasse: sie überträgt die auf dem Speicher der bisherigen Karte vorhandenen Daten auf den Mikroprozessor der neuen Karte, die mit einem Bild des Inhabers versehen und durch eine sechsstellige PIN gesichert ist. Der Mikroprozessor hat eine Kapazität von 64 KB. Das reicht für einige Textseiten, nicht aber für das Bild auch nur einer Röntgenaufnahme. Die neue Karte ist also nur ein Schlüssel zu Zentralrechnern, auf denen im Laufe der Jahre Befunde, Diagnosen, Therapiemaßnahmen, Behandlungsberichte und so weiter gespeichert werden sollen, eine „vollständige Dokumentation über den Patienten“. Will der Arzt – oder ein weiterbehandelnder Arzt – auf die Daten zugreifen, muss er seinen „Elektronischen Heilberufsausweis“ ins Lesegerät stecken. Wenn das auch der Patient getan hat, beide ihre sechs Ziffern richtig gedrückt haben, werden zunächst die Gültigkeit und Aktualität der Elektronischen Gesundheitskarte vom Stammdatendienst der Krankenkasse überprüft. Dann kann die „Sprechzeit“ beginnen.

Wird am Ende ein Rezept fällig, wandert dieses elektronisch auf die Karte des Patienten und ins Rechenzentrum. Wie es weitergeht, beschreibt das Bundesgesundheitsministerium so: „Die Gesundheitskarte ermöglicht den sicheren Transport dieses Rezeptes unter Kontrolle des Versicherten in die Apotheke.“ Gemeint ist mit diesem kabarettreifen Satz: der Patient steckt die Karte in die Tasche und geht zum Apotheker. Der schiebt seinen spezifischen Heilberufsausweis ins Lesegerät und überträgt das Rezept vom Verordnungsdatenserver in sein System. Wenn alles funktioniert, auch der Strom nicht ausgefallen ist, kann er das Medikament aushändigen. Das System erwartet von ihm die Löschung des Rezepts, damit es nicht noch einmal eingelöst werden kann. Weil auch im Bundesgesundheitsministerium offenbar ein Rest von Skepsis am Ablauf dieses Vorgangs zurückgeblieben ist, soll sich der Patient vom Arzt auch eine Papierausfertigung des Rezepts mitgeben lassen können.

Es soll alles extrem sicher sein. Man betont es gebetsmühlenartig, weil in der Öffentlichkeit Äußerungen über den möglichen, ja wahrscheinlichen Missbrauch der Gesundheitskarte kursieren: die Bürger würden bald ihre intimen Daten im Internet und auf dem Schreibtisch des Arbeitgebers wiederfinden, Versicherungen würden Risikopatienten aussortieren, die ärztliche Verschwiegenheitspflicht wäre ausgehebelt. Mich haben diese Argumente zeitweilig auch beeindruckt. Ich halte sie nun aber für übertrieben und in mancher Hinsicht für unbegründet. Wenn das medizinisch Wichtige auf einer zentralen Datenbank abgelegt wird, ist es auch für den weiterbehandelnden Arzt zugänglich.

Wie sinnvoll das sein kann, habe ich kürzlich selbst erfahren. Ein Chirurg hatte ein Röntgenbild meiner linken Hand angefertigt, es mir auf dem Monitor seines Computers erläutert und mich an einen weiteren Spezialisten überwiesen. Ich nahm an, das Röntgenbild, da es doch in bereits digitaler Form existierte, würde per E-Mail den Weg zum zweiten Arzt finden. Der hatte es aber nicht und konnte es auch nicht abrufen. „Wegen Datenschutz“, erfuhr ich. Die Gehilfin des Arztes A machte mir eine Papierkopie, die ich, um mit dem Bundesgesundheitsministerium zu sprechen, sicher und kontrolliert zum Arzt B hinübertransportieren konnte.

Entspricht das noch dem Bewußtsein und den technischen Möglichkeiten unserer Zeit? Wohl kaum. Auch mit dem Begriff „Arztgeheimnis“ sollte man nicht so pauschal operieren – ich komme darauf zurück. Bei der Verschlüsselung der Daten und der Differenzierung der Zugangsrechte wird jedenfalls ein Optimum angestrebt. Die Patientendaten  werden in den Zentralspeichern nach dem System des Bankschließfachs verwahrt: den zweiten Schlüssel hat immer der Patient. Gerade weil man dem vor 25 Jahren vom Bundesverfassungsgericht geschaffenen Recht auf „informationelle Selbstbestimmung“ treu bleiben will, weil der Bürger grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner personenbezogenen Daten soll bestimmen können, deshalb ist nun alles so kompliziert geregelt. Deshalb auch enthält das Gesetz über die Elektronische Gesundheitskarte Klauseln, die den Sinn des Ganzen in Frage stellen.

Denn, so heißt es wörtlich, „mit dem Erheben, Verarbeiten und Nutzen von Daten der Versicherten …darf erst begonnen werden, wenn die Versicherten jeweils gegenüber dem Arzt, Zahnarzt, Psychotherapeuten oder Apotheker dazu ihre Einwilligung erklärt haben“. Die Einwilligung ist außerdem jederzeit widerruflich. Auch Teile der Einwilligung können widerrufen werden, Teile des Gespeicherten müssen, wenn der Patient es will, gelöscht werden: der „Herr der Daten“ kann sein Krankheitsbild durch Teil-Löschungen gewissermaßen retouchieren.  Nur der Abrechungs- beziehungsweise Rezeptbereich ist für ihn tabu. Die ärztliche Verschwiegenheitspflicht behält ihre grundsätzliche Bedeutung, bekommt aber einen neuen Akzent, wenn der Arzt ohne jeweilige Zustimmung seines Patienten gar keine Informationen an den externen Speicher herausgeben darf und diese allein nach dem Willen des Patienten auch wieder gelöscht werden müssen.

Wenn trotz allem Zweifel verbleiben am Sinn der Elektronischen Gesundheitskarte, hat das mehrere Ursachen: Die immer stärkere Erfassung des einzelnen durch den Staat steht im Widerspruch zur grundgesetzlich garantierten Freiheit des Bürgers. Der Perfektionismus des Regelwerks befördert das Gefühl des Ausgeliefertseins an einen undurchschaubaren, technischen Apparat. Daß dieser „sicher“ sei vor Ausspähung und Manipulation, findet nur begrenzten Glauben.

Schließlich soll das Projekt Gesundheitskarte in einer Zeit knapper Kassen realisiert werden. Werden die in die Elektronik gesteckten Mittel nicht da fehlen, wo sie dringend gebraucht werden, nämlich bei der angemessenen Honorierung der „Sprechzeit“? Vor zweieinhalb tausend Jahren lehrte Hippokrates, dessen Eidesformel weiterhin als verbindlich gilt, daß das Gespräch mit dem Patienten von Freundlichkeit und Liebenswürdigkeit geprägt sein müsse, von Hingabe und Dialogfähigkeit.  Er und die Ärzte seiner Zeit mußten genau hinsehen und gut zuhören, denn sie konnten den Patienten nur von außen betrachten. Heute schickt der Arzt seine Strahlen, Katheter und Video-Sonden in den Menschen, und was die dort sehen, können Arzt und Patient manchmal gemeinsam betrachten. Beide schauen auf den Monitor. Er ist zum Medium eines Dialogs geworden, bei dem man sich nicht mehr in die Augen sehen muß. Wir müssen das rechte Maß finden und wahren zwischen Technik und Menschlichkeit.

Werner Hill
war Redakteur beim NDR und wurde für seine rechtspolitischen Essays und Berichte 1976 mit dem Fritz-Bauer-Preis der Humanistischen Union ausgezeichnet.

* Gekürzte Fassung des Kommentars „Glaubenssachen“ auf NDR Kultur vom 19. Oktober 2008, 8.40 – 9.00 Uhr. Wir danken für die freundliche Genehmigung des Autors zum Abdruck.

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