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Der Fall Egenberger und das kirchliche Arbeits­recht

22. November 2018

In: vorgänge Nr. 224 (4/2018), S. 111-120

Zu den Besonderheiten des deutschen Kirchen-Sonderarbeitsrechtes gehört auch die Kuriosität, dass mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) ausgerechnet jenes Gesetz, welches Bürger*innen vor religiöser Diskriminierung schützen soll, eine weite Ausnahmeklausel enthält, die einen zentralen Bereich des religiösen Lebens – die Kirchen – von diesem Verbot ausnimmt. Mit der Reichweite dieser Ausnahmeklausel im deutschen AGG hat sich am 17. April 2018 der Gerichtshof der Europäischen Union befasst (C-414/16) und sie als europarechtswidrig verworfen. Peter Stein, der für die Humanistische Union als Rechtsbeistand der Klägerin am Verfahren teilnahm, fasst diese Entscheidung zusammen und erläutert, warum sie „der Anfang vom Ende des deutschen Sonderwegs“ sein könnte.

I. Kirchen und Arbeits­recht

Die Kirchen und ihre Organisationen sind mit weit über einer Million Beschäftigter der zweitgrößte Arbeitgeber Deutschlands. Sie beanspruchen sowohl im Individual- als auch im kollektiven Arbeitsrecht Sonderrechte. Dazu gehören beispielsweise die konfessionelle Bindung ihrer Mitarbeiter*innen, die Einhaltung bestimmter Loyalitäts- und Moralverpflichtungen, Beschränkungen in der betrieblichen Mitbestimmung sowie das Streikverbot.

Für die römisch-katholische Kirche gilt die „Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse“. Die Grundordnung wurde am 27.4.2015 modernisiert. Im Bereich des individuellen Arbeitsrechts werden das Verhältnismäßigkeitsprinzip und die Notwendigkeit einer Einzelfallprüfung anerkannt. Zwischen verkündigungsnahen und verkündigungsfernen Tätigkeiten wird unterschieden. Vorgesehen ist eine Abstufung der Loyalitätspflichten.

Die evangelische Kirche regelt Loyalitätsanforderungen und Sanktionen in ihrer „Richtlinie des Rates über kirchliche Anforderungen der beruflichen Mitarbeit in der Evangelischen Kirche in Deutschland und ihrer Diakonie“ vom 9.12.2016. Sie verlangt für die Begründung von Arbeitsverhältnissen grundsätzlich die Zugehörigkeit zu einer ihrer Gliedkirchen oder einer Kirche, mit der sie in Kirchengemeinschaft verbunden ist. Dies gilt uneingeschränkt für Mitarbeiter*innen, denen Aufgaben der Verkündigung, der Seelsorge und der evangelischen Bildung übertragen sind. Sofern es nach Art der Aufgabe unter Beachtung der Größe der Dienststelle oder Einrichtung und ihrer sonstigen Mitarbeiterschaft sowie des jeweiligen Umfelds vertretbar und mit der Erfüllung des kirchlichen Auftrags vereinbar ist, können für Aufgaben unterhalb der Dienststellenleitung auch Personen eingestellt werden, die keiner christlichen Kirche angehören.[1] Wer entscheiden darf, ob bei einer zu besetzenden Stelle auf die Kirchenzugehörigkeit verzichtet werden kann, ist in der Richtlinie nicht geregelt. Nach welchen Kriterien diese Entscheidung zu treffen ist, ebenfalls nicht. M.a.W. beansprucht die Kirche, gerichtlich nicht kontrollierbar festzulegen, welche Anforderungen sie an Arbeitnehmer*innen stellt. Gleichzeit beansprucht sie, gerichtlich nicht kontrollierbar auf diese Anforderungen verzichten zu können.

II. Sachverhalt

Die konfessionslose Klägerin Frau Egenberger bewarb sich bei dem Evangelischen Werk für Diakonie und Entwicklung e. V. um die Referentenstelle für das Projekt „Parallelberichterstattung zur Antirassismus Konvention“. Die Stellenausschreibung setzte die Mitgliedschaft in einer evangelischen oder der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen (ACK) angehörenden Kirche voraus. Die ausgeschriebene Stelle war auf 18 Monate befristet, sie wurde zum größten Teil durch die „Glücksspirale“ finanziert.

Die Klägerin kam im Auswahlverfahren in die engere Wahl, wurde aber nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Sie beansprucht eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG. Vor dem ArbG Berlin[2] war sie erfolgreich, das LAG Berlin-Brandenburg[3] wies die Klage ab. Im Revisionsverfahren stellte das BAG fest, dass nach deutschem Recht ein Entschädigungsanspruch gegeben wäre, wenn nicht die von der Beklagten vorgenommene Differenzierung nach der Religionszugehörigkeit gemäß § 9 Abs. 1 AGG zulässig wäre.

Durch Beschluss vom 17.3.2016[4] legte das BAG dem EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens Fragen zur Reichweite des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts vor. Dabei geht es um die Auslegung von Art. 4 der Richtlinie 2000/78. Vor dem EuGH stand die Humanistische Union der Klägerin bei.

III. Rechtlicher Rahmen

(1) Die Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 legt einen allgemeinen Rahmen für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf fest. § 9 des Allgemeinen Gleichhandlungsgesetzes (AGG) versucht, Art. 4 der RL 2000/78 umzusetzen.

Ziel des AGG ist es, Benachteiligungen u.a. wegen der Religion oder Weltanschauung zu verhindern oder zu beseitigen (§ 1 AGG). Grundsätzlich darf wegen der Religionszugehörigkeit nach §§ 1 und 7 Abs. 1 AGG keine unterschiedliche Behandlung der Beschäftigten erfolgen. Jedoch gestattet § 9 AGG es Kirchen, einen Beschäftigten wegen seiner Religion oder Weltanschauung unter bestimmten Voraussetzungen unterschiedlich zu behandeln. § 9 AGG lautet:

„§ 9 Zulässige unterschiedliche Behandlung wegen der Religion oder Weltanschauung (1) Ungeachtet des § 8 ist eine unterschiedliche Behandlung wegen der Religion oder der Weltanschauung bei der Beschäftigung durch Religionsgemeinschaften, die ihnen zugeordneten Einrichtungen ohne Rücksicht auf ihre Rechtsform oder durch Vereinigungen, die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Religion oder Weltanschauung zur Aufgabe machen, auch zulässig, wenn eine bestimmte Religion oder Weltanschauung unter Beachtung des Selbstverständnisses der jeweiligen Religionsgemeinschaft oder Vereinigung im Hinblick auf ihr Selbstbestimmungsrecht oder nach der Art der Tätigkeit eine gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt.

(2) Das Verbot unterschiedlicher Behandlung wegen der Religion oder der Weltanschauung berührt nicht das Recht der in Absatz 1 genannten Religionsgemeinschaften, der ihnen zugeordneten Einrichtungen ohne Rücksicht auf ihre Rechtsform oder der Vereinigungen, die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Religion oder Weltanschauung zur Aufgabe machen, von ihren Beschäftigten ein loyales und aufrichtiges Verhalten im Sinne ihres jeweiligen Selbstverständnisses verlangen zu können.“

Art. 4 der Richtlinie 2000/78/EG lautet:

„Artikel 4 Berufliche Anforderungen (1) Ungeachtet des Artikels 2 Absätze 1 und 2 können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass eine Ungleichbehandlung wegen eines Merkmals, das im Zusammenhang mit einem der in Artikel 1 genannten Diskriminierungsgründe steht, keine Diskriminierung darstellt, wenn das betreffende Merkmal aufgrund der Art einer bestimmten beruflichen Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern es sich um einen rechtmäßigen Zweck und eine angemessene Anforderung handelt.

(2) Sofern die Bestimmungen dieser Richtlinie im übrigen eingehalten werden, können die Kirchen und anderen öffentlichen oder privaten Organisationen, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht, im Einklang mit den einzelstaatlichen verfassungsrechtlichen Bestimmungen und Rechtsvorschriften von den für sie arbeitenden Personen verlangen, dass sie sich loyal und aufrichtig im Sinne des Ethos der Organisation verhalten.“

Der deutsche Gesetzgeber hat sich gestattet, die Richtlinie nur unvollständig umzusetzen. Der deutsche Sonderweg war auf diese Weise aber nicht dauerhaft zu legitimieren. Deutschland hat – wie das Verfahren Egenberger zeigt – die Rechnung ohne den (Luxemburger) Wirt gemacht.

§ 8 und § 9 AGG unterscheiden sich von Art. 4 der RL deutlich.[5] Zunächst wird der Schwerpunkt der Regelung verschoben, wenn nach § 9 Abs. 1 AGG die Ungleichbehandlung für zulässig erachtet wird, soweit eine bestimmte Religion unter Beachtung des Selbstverständnisses der jeweiligen Religionsgemeinschaft eine gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt, während in der Richtlinie (Art. 4 Abs. 2) der Schwerpunkt auf die Art der Tätigkeiten (oder der Umstände ihrer Ausübung) und die wesentlichen, rechtlichen und gerechtfertigten beruflichen Anforderungen gelegt wird. Das Ethos der Organisation (ihr Selbstverständnis) kommt in der Richtlinie erst im Rahmen der beruflichen Anforderungen zum Tragen. Art. 4 Abs. 2 RL verlangt einen Bezug zur Art der Tätigkeit, während § 9 Abs. 1 AGG als Alternative zum Bezug zur Tätigkeit eine allein auf das Selbstverständnis der Religionsgemeinschaft bezogene Rechtfertigung erlaubt,[6] wie es sich auch aus der Gesetzesbegründung zum AGG ergibt.[7] Das Wort „oder“ macht deutlich, dass entweder auf das Selbstbestimmungsrecht abgestellt werden kann oder auf die „Art der Tätigkeit“. § 9 Abs. 1 AGG nimmt nicht den Text der Richtlinie auf, sondern formuliert abweichend, dass die Ungleichbehandlung (schon dann) zulässig ist, „wenn eine bestimmte Religion unter Beachtung des Selbstverständnisses der jeweiligen Religionsgemeinschaft im Hinblick auf ihr Selbstbestimmungsrecht oder nach Art der Tätigkeit eine gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt“ – der Bezug auf ein Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und ihrer Einrichtungen findet sich jedoch nur dort, nicht aber im Wortlaut der RL.8 Die RL stellt ab auf die bei der Verabschiedung der Richtlinie bestehenden einzelstaatlichen Gepflogenheiten. Diese können in den Mitgliedstaaten bei Erfüllung gewisser Voraussetzungen beibehalten oder in künftigen Rechtsvorschriften aufgenommen werden. Diese Gepflogenheiten sind aber an die Bedingungen des Art. 4 Abs. 2 RL geknüpft. § 9 AGG lässt es ausreichen, dass sich die Einrichtung die gemeinschaftliche Pflege einer Religion oder Weltanschauung zur Aufgabe macht. Weitergehend verlangt Art. 4 Abs. 2 Rahmenrichtlinie, dass das Ethos der Einrichtung auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht. Weiterhin lässt § 9 Abs. 1 AGG die Vorgabe der Richtlinie weg, nach der es sich um eine rechtmäßige berufliche Anforderung handeln muss. Art. 4 Abs. 1 RL stellt auf eine „bestimmte“ berufliche Tätigkeit ab. § 9 AGG bildet diese Einschränkung weder in Abs. 1 noch in Abs. 2 ab. Ferner reicht es nach dem Wortlaut von § 9 Abs. 1 AGG, dass es sich lediglich um eine gerechtfertigte berufliche Anforderung handelt. Bei der gebotenen europarechtskonformen Auslegung ist das nicht haltbar.[9] Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie setzt voraus, dass die Religion „eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte“ Anforderung darstellt. Das Merkmal „wesentlich“ des Art. 4 Abs. 2 RL fehlt in § 9 Abs. 1 AGG. Die RL verlangt, dass eine Anforderung bezogen auf die konkrete Tätigkeit wesentlich zu sein hat.

(2) Art. 4 Abs. 2 der RL 2000/78 lässt sich nicht entnehmen, dass kirchliche Arbeitgeber*innen wegen eines kirchlichen Privilegs der Selbstbestimmung verbindlich selbst bestimmen können, dass eine bestimmte Religionszugehörigkeit eines Bewerbers/einer Bewerberin – ungeachtet der Art der Tätigkeit – eine gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt und die staatlichen Gerichte diesbezüglich lediglich eine Plausibilitätskontrolle vornehmen dürfen. Seitens der Kirchen wird aber vertreten, dass Art. 4 Abs. 2 der RL 2000/78 im Lichte von Art. 17 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU (AEUV)[10] primärrechtskonform dahin auszulegen sei, dass das kirchliche Selbstbestimmungsrecht des Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 Satz 1 Weimarer Reichsverfassung (WRV) in seiner Ausprägung durch die Rechtsprechung des BVerfG vollständig gewahrt werde. Diese Auslegung präge dann auch die Auslegung von § 9 Abs. 1 AGG. Mit dem Erlass der Richtlinie habe nicht das im deutschen Verfassungsverständnis verankerte Selbstbestimmungsrecht der Kirche verändert werden sollen.
Das BVerfG löst das Spannungsverhältnis zwischen kollektiver und individueller Glaubensfreiheit in Deutschland traditionell zugunsten des Selbstverwaltungsrechts der Kirchen.[11] Insbesondere hätten die Arbeitsgerichte laut BVerfG die kirchliche Praxis lediglich auf Plausibilität zu überprüfen.

IV. Vorbe­rei­tung des Urteils

Bereits mit den Schlussanträgen des Generalanwalts Tanchev[12] bahnte sich für das deutsche kirchliche Arbeitsrecht nicht weniger als ein Paradigmenwechsel an. Er kam zu dem Ergebnis, dass Kirchen nicht verbindlich selbst bestimmen können, ob eine bestimmte Religion von Bewerber*innen nach der Art der Tätigkeit oder den Umständen ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts ihres Ethos darstellen. Er legte dar, dass die RL 2000/78 in Einklang mit den Grundrechten auszulegen sei.[13] Art. 137 WRV überstrahle nicht das Unionsrecht, das deutsche Staatskirchenrecht sei nicht europafest. Die RL 2000/78 kenne keine Bereichsausnahme für Kirchen. Das Ethos sei subjektiv zu bestimmen, berufliche Anforderungen seien hingegen objektiv zu beurteilen.

V. Urteil des EuGH[14]

1. Inhalt der Entschei­dung

a) Das Recht religiöser Organisationen auf Autonomie und Selbstbestimmung sei im Unionsrecht anerkannt und geschützt. Art. 4 Abs. 2 der RL 2000/78 und insbesondere die dortige Bezugnahme auf das „Ethos“ religiöser Organisationen seien in Einklang mit diesem Grundrecht auszulegen. Wie bisher habe der Staat das kirchliche Ethos nicht zu beurteilen.[15] Die Mitgliedstaaten hätten gleichwohl zu wachen, dass das Recht der Arbeitnehmer*innen, wegen der Religion keine Diskriminierung zu erfahren, nicht verletzt wird.

b) Der EuGH stellt fest, dass sich aus dem Wortlaut von Art. 4 Abs. 2 Unterabsatz 1 RL 2000/78/EG ergibt, dass Kirchen die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion fordern können, wenn die Religion nach der Art der fraglichen Tätigkeit eine wesentliche berufliche Anforderung darstellt. Ob dies der Fall ist, müsse aber von einer unabhängigen Stelle, wie einem staatlichen Gericht, überprüft werden können, da sonst die Kontrolle der von kirchlichen Arbeitgeber*innen aufgestellten Anforderungen völlig ins Leere liefe.

Auch der Umstand, dass Art. 4 Abs. 2 der RL 2000/78 auf die zum Zeitpunkt ihrer Annahme geltenden nationalen Vorschriften sowie auf die zu diesem Zeitpunkt bestehenden einzelstaatlichen Gepflogenheiten Bezug nimmt, gestatte es den Mitgliedstaaten nicht, die Einhaltung der in dieser Bestimmung genannten Kriterien einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle zu entziehen. Das Erfordernis einer unionsrechtskonformen Auslegung umfasse die Verpflichtung der nationalen Gerichte, eine Rechtsprechung ggf. abzuändern, wenn sie auf einer Auslegung des nationalen Rechts beruht, die mit den Zielen einer Richtlinie unvereinbar ist.[16] Die Arbeitsgerichte dürften nicht davon ausgehen, dass sie § 9 AGG nicht im Einklang mit Unionsrecht auslegen können, weil sie – nicht zuletzt vom BVerfG – in ständiger Rechtsprechung bisher in einem mit EU-Recht unvereinbaren Sinne ausgelegt worden ist. Hierzu hatte der Generalanwalt Tanchev bereits in seinem Schlussantrag darauf hingewiesen, dass zu den Rechtsvorschriften, die zum Zeitpunkt der Annahme der Richtlinie bestehende einzelstaatliche Gepflogenheiten widerspiegeln, sowohl Art. 137 WRV als auch § 9 Abs. 1 AGG gehören. Dies friere die Rechtsprechung des BVerfG zur Auslegung dieser Rechtsvorschriften auf dem Stand zum Zeitpunkt der Annahme Richtlinie aber nicht ein. Nationale Gerichte seien vielmehr verpflichtet, Art. 137 Abs. 3 WRV und § 9 Abs. 1 AGG nach Möglichkeit in Einklang mit Art. 4 Abs. 2 der RL 2000/78 und Art. 17 AEUV auszulegen. Eine gegenteilige Auffassung wäre weder mit dem auf Rechtsvorschriften beschränkten Wortlaut von Art. 4 Abs. 2 der RL 2000/78 vereinbar noch mit der Verpflichtung der Gerichte der Mitgliedstaaten, eine gefestigte Rechtsprechung ggf. abzuändern, wenn sie auf einer Auslegung des nationalen Rechts beruht, die mit den Zielen der Richtlinie nicht vereinbar ist.[17]

c) Geht die Unabhängigkeit der Kirchen so weit, dass sie autonom über Einstellungsbedingungen und Loyalitätspflichten ihrer Arbeitnehmer*innen entscheiden? Die Kirchen argumentieren, dass die beruflichen Anforderungen integraler Bestandteil ihres Ethos seien; beides sei untrennbar verbunden. Diese Auslegung präge auch die Auslegung von § 9 Abs. 1 AGG. Mit dem Erlass der Richtlinie habe nicht das im deutschen Verfassungsverständnis verankerte Selbstbestimmungsrecht der Kirchen verändert werden sollen.[18]  Soweit Art. 4 Abs. 2 der RL 2000/78 eine weitergehende Prüfungskompetenz staatlicher Gerichte enthalte, sei dies mit Art. 17 AEUV nicht vereinbar und primärrechtswidrig.[19]

Der EuGH weist diese Auffassung zurück. Art. 4 Abs. 2 der RL 2000/78 sieht Sonderrechte für Kirchen vor. Damit habe die EU als RL-Geber schutzwürdige Belange der Kirchen berücksichtigt. Art. 4 Abs. 2 der RL 2000/78 bezwecke gerade die Herstellung eines angemessenen Ausgleichs zwischen einerseits dem Recht auf Autonomie der Kirchen und andererseits dem Recht der Arbeitnehmer*innen, z.B. bei Einstellung nicht wegen der Religion diskriminiert zu werden. Art. 4 Abs. 2 RL 2000/78/EG solle einen angemessenen Ausgleich herstellen zwischen dem Recht auf Autonomie der Kirchen und dem Recht der Arbeitnehmer*innen, bei der Einstellung nicht wegen ihrer Religion oder Weltanschauung diskriminiert zu werden. Er benennt auch die dabei zu berücksichtigenden Kriterien.

Dem stehe auch Art. 17 AEUV nicht entgegen, der zwar die Neutralität der Union gegenüber den Beziehungen der Mitgliedstaaten zu ihren Kirchen zum Ausdruck bringt, jedoch nicht bewirken könne, dass die Einhaltung der in Art. 4 Abs. 2 RL 2000/78/EG genannten Kriterien einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle entzogen werden. Art. 17 AEUV bringe demgegenüber die Neutralität der EU darüber zum Ausdruck, wie die Mitgliedstaaten ihre Beziehungen zu Kirchen und religiösen Vereinigungen oder Gemeinschaften gestalten.

d) Liefern die Luxemburger Richter Steine statt Brot, weil die Kirchen ihr Ethos selbst definieren können? Eine Argumentation, dass jeder, der im kirchlichen Rahmen tätig ist, zur christlichen Dienstgemeinschaft gehört, so dass es vom Verkündigungsauftrag gedeckt sei, für alle Arbeitnehmer*innen Einstellungsvoraussetzungen und Loyalitätspflichten zu definieren, würde jedoch nicht durchgreifen. Denn entscheidend ist laut EuGH die Art der Tätigkeit. Die berufsbezogene Betrachtung habe zwischen verkündigungsnahen und -fernen Tätigkeiten zu unterscheiden. Die Merkmale „wesentliche, rechtmäßige, und gerechtfertigte berufliche Anforderungen“ seien objektiv zu bestimmen.[20] Daher sei gerichtlich festzustellen, ob diese drei Kriterien in Anbetracht des jeweiligen Ethos im Einzelfall erfüllt sind. Die Zugehörigkeit zur Religion, auf der das Ethos der Kirche beruht, müsse aufgrund der Bedeutung der konkreten beruflichen Tätigkeit für die Bekundung dieses Ethos oder die Ausübung des Rechts dieser Kirche auf Autonomie notwendig erscheinen.

Wie nun ist zu prüfen, ob die Religion nach Art der fraglichen Tätigkeit oder den Umständen ihrer Ausübung als wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung anzusehen ist? Maßgebend sei der Einzelfall. Es müsse einen direkten Zusammenhang zwischen der von den Arbeitgeber*innen aufgestellten beruflichen Anforderungen und der fraglichen Tätigkeit geben. Darüber hinaus müsse die berufliche Anforderung „wesentlich, rechtmäßig und gerechtfertigt“ sein. Wesentlich bedeute, dass die Religionszugehörigkeit in Bezug auf die betreffende Tätigkeit für die Bekundung des religiösen Ethos oder die Ausübung des Rechts der Kirche auf Autonomie notwendig sein müsse. Der Begriff rechtmäßig solle gewährleisten, dass die Religionszugehörigkeit nicht zur Verfolgung eines sachfremden Ziels ohne Bezug zum kirchlichen Ethos oder der Kirchenautonomie gefordert werde. Die Anforderungen an die Religionszugehörigkeit sei gerechtfertigt, wenn die Kirche darlegen kann, dass die Anforderungen notwendig sind, um eine wahrscheinliche und erhebliche Beeinträchtigung ihres Ethos oder ihres Rechts auf Autonomie auszuschließen.

e) Sollten die Gerichte in Deutschland § 9 Abs. 1 AGG in diesem Sinn nicht unionsrechtskonform anwenden können, würde das Diskriminierungsverbot des Art. 21 Abs. 1 EU-Grundrechte-Charte (EU-GRC) als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts greifen.[21] Die RL 2000/78/EG konkretisiere das lediglich. Das Verbot der Diskriminierung wegen der Religion habe als allgemeiner Grundsatz des EU-Rechts zwingenden Charakter. Art. 21 EU-GRC entfalte ohne weitere unionsrechtliche oder nationale Konkretisierung aus sich heraus Wirkung und könne als subjektives Recht des/der Einzelnen in einem nationalen Verfahren gelten gemacht werden.

2. Bedeutung der Entschei­dung

a) Nachdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bei Loyalitätsverletzungen die in Deutschland verbreitete Rechtsprechung zu Rechten kirchlicher Arbeitgeber schon 2010 beanstandete,[22] rückt die Große Kammer des EuGH nun bei Einstellungen durch kirchliche Arbeitgeber*innen die Dinge zurecht. Es rächt sich, dass der deutsche Gesetzgeber die RL 2000/78 im AGG nicht sauber umgesetzt hat. Den Kirchen ist es jetzt verwehrt, ohne Rücksicht auf die Art der Tätigkeit pauschal Kirchenzugehörigkeit zu verlangen. Die Marktverhältnisse zwangen sie bereits teilweise, so zu verfahren, weil sich nicht genügend Bewerber*innen fanden. Gleichwohl stellt die EuGH-Entscheidung einen deutlichen Rechtsfortschritt dar.

Das Urteil vom 17.4.2018 ist darüber hinaus generell für die Religionsfreiheit von Arbeitnehmer*innen und die Auslegung von § 9 AGG von Bedeutung. Diese wegweisende Entscheidung der Großen Kammer hat erhebliche Implikationen für das nationale Recht. Mit ihr wird der Anfang vom Ende des deutschen Sonderwegs im kirchlichen Arbeitsrecht eingeleitet.[23] Das Spannungsverhältnis zwischen individueller und kollektiver Religionsfreiheit wird neu justiert. Das kirchliche Arbeitsrecht erlebt einen Paradigmenwechsel.

b) Zunächst ist hervorzuheben, dass Beschäftige nunmehr gemäß Art. 47 EU-GRC[24] das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf zur Durchsetzung ihrer Rechte haben.[25] Der Schutz vor ungerechtfertigten Diskriminierungen gehört zum Kern des EU-Rechts. Die Union kennt keine rechtsfreien Räume. Das gilt auch gegenüber Kirchen. Der Diskriminierungsschutz gilt EU-weit, seine Beachtung muss gerichtlich kontrollierbar sein. Rechtsschutzlöcher sind nicht hinnehmbar. Wie der EuGH bereits früher dargelegt hat, obliegt es in einer rechtsstaatlichen Union den Gerichten, über die Einhaltung von Unionsregelungen zu wachen.[26]

c) Bei der Auslegung der RL 2000/78 muss die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 9 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) berücksichtigt werden. Bei kollidierenden Rechten haben Gerichte eine Abwägung der auf dem Spiel stehenden Interessen vorzunehmen.[27]

d) Die Vorstellung der Kirchen, ihr Arbeitsrecht sei europafest, ist nicht haltbar. Art. 17 AEUV ist kein Meta-Prinzip des Verfassungsrechts, das die Union dazu zwingt, den Status von Kirchen nach dem Recht eines Mitgliedstaates unter allen Umständen zu achten. Der „Status der Kirchen“ beinhaltet kein Supergrundrecht. Aus Art. 17 AEUV folgt nicht, dass die traditionelle Rechtsprechung primärrechtlich zwingend in Stein gemeißelt wäre.

e) Die bisherige Rechtsprechung zu § 9 Abs. 1 Alt. 1 AGG ist nicht mehr haltbar. Eine gerichtliche Prüfung, die sich lediglich auf eine Plausibilitätskontrolle beschränkt, ist unionsrechtswidrig. Die erste Alternative von § 9 Abs. 1 AGG ist im Rahmen einer unionskonformen Auslegung zu eliminieren. Diese Änderung sollte der Gesetzgeber aus Transparenzgründen durch die Streichung der ersten Alternative in § 9 Abs. 1 AGG nachvollziehen.

Die Merkmale „wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderungen“ sind objektiv zu bestimmen.[28] Es ist gerichtlich festzustellen, ob diese drei Kriterien in Anbetracht des betreffenden Ethos im Einzelfall erfüllt sind. Die Zugehörigkeit zu der Religion, auf der das Ethos der betreffenden Kirche beruht, muss aufgrund der Bedeutung der konkreten beruflichen Tätigkeit für die Bekundung dieses Ethos oder die Ausübung des Rechts dieser Kirche auf Autonomie notwendig erscheinen.

f) Für die Abwägung zwischen Kirchenautonomie und individueller Religionsfreiheit erfolgt kein Ausgleich zwischen Europarecht und Art. 137 WRV. Die Abwägung ist vielmehr anhand der Merkmale wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderungen vorzunehmen.

g) Nach der Egenberger-Entscheidung hat Art. 21 EU-GRC[29] im Anwendungsbereich des Unionsrechts die gleiche Wirkung wie die Grundfreiheiten. Er gilt auch im Horizontalverhältnis. Angesichts der 17 explizit genannte Diskriminierungsverbote ist die Reichweite der Norm bemerkenswert. Aktuell ist dies für bereits für den ebenfalls gerade beim EuGH anhängigen „Chefarztfall“ von Bedeutung.[30] Der Generalanwalt geht ganz auf der Linie der Egenberger-Entscheidung von einem Verstoß gegen das Unionsrecht aus.[31]

h) Offen ist, ob es zu einem verfassungsgerichtlichen Nachspiel kommt. Der EuGH entscheidet im Vorabentscheidungsverfahren nicht den Rechtsstreit, sondern nimmt allein zur Frage Stellung, wie das Unionsrecht zu verstehen ist. Der konkrete Fall wird vom nationalen Gericht entschieden. Das BAG hat die Sache für Oktober terminiert. Wenn die Erfurter Richter*innen der Klägerin eine Entschädigung zusprechen, könnte die evangelische Kirche Verfassungsbeschwerde einlegen. Das BVerfG würde sich entscheiden müssen, ob es die Korrektur aus Luxemburg hinnimmt oder die Identität des Grundgesetzes verletzt sieht. Zu guter Letzt bliebe den Kirchen der Gang nach Straßburg. Dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Unionsrecht eine Verletzung der Menschenrechtskonvention sieht, ist allerdings höchst unwahrscheinlich.

PETER STEIN  ist Lehrbeauftragter an der Universität Hamburg und Richter am Arbeitsgericht Hamburg a.D.

Anmerkungen:

1 § 3 RL des Rates der EKD über die Anforderungen der privatrechtlichen beruflichen Mitarbeit in der Evangelischen Kirche in Deutschland und des Diakonischen Werkes der EKD vom 9.12.2016.

2 ArbG Berlin v. 18.12.2013 – 54 Ca 6322/13.

3 LAG Berlin-Brandenburg v. 28.05.2014 – 4 Sa 157/14.

4 BAG, Beschl. v. 17.3.2016 – 8 AZR 501/14 (A).

5 Preis/Sagan/Grünberger, § 3 Rn. 205.

6 Roloff, BeckOK § 10 Rn. 2; Deinert, EuZA 2009, 334 ff.

7 S. BT-Drs. 16/1780, S. 35: „Entsprechend erlaubt § 9 Abs. 1 es Religionsgemeinschaften, bei der Beschäftigung wegen der Religion zu differenzieren, wenn eine bestimmte Religion im Hinblick auf ihr Selbstbestimmungsrecht oder nach der Art der Tätigkeit eine gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt.“

8 Preis/Sagan/Grünberger, § 3 Rn. 205; Schleusener/Voigt, § 9 Rn. 24; wohl auch Däubler/Bertzbach/Wedde, § 9 Rn. 7.

9 ErfK/Schlachter, § 9 AGG Rn. 1; Däubler/Bertzbach/Wedde, § 9 Rn. 6 ff; HK-ArbR/Berg, § 9 AGG Rn. 2; Rolfs/Giesen/Kreikebohm/ Udschig/Roloff, § 9 Rn. 2; A.A. Thüsing, Arbeitsrechtlicher Diskriminierungsschutz, Rn. 470, 478.

10 Art. 17 Abs. 1 AEUV lautet: „Die Union achtet den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, und beeinträchtigt ihn nicht.

11 BVerfG v. 22.10.2014 – 2 BvR 661/12,

12 Schlussanträge GA Tanchev v. 9.11.2017, Rs. C-414/16 (Egenberger).

13 EuGH v. 10.8.2017, C-270/17 (Tupikas).

14 Urteil v. 17.4.2018, C-414/16; dazu im Einzelnen Stein, ZESAR 2018, 277; Heuschmid/Höller, HSINewsletter 2/2018, Anm. unter II.

15 EGMR 12.6.2014 (Martínez) 56030/07; BVerfG 22.10.2014, 2 BvR 661/12.

16 EuGH 19.4.2016, DI, C-441/14.

17 Schlussantrag 9.11.2017, C-414/16 Rn. 117.

18 Z.B. KR-Fischermeier,11. Aufl., Kirchl. ArbN Rn. 8; Steinmeyer, FS Wank 2014, S. 587, 591; Schoenauer, KuR 2012, 30, 35.

19 Z.B. Schliemann, FS Richardi 2007, S. 959 ff.

20 So bereits EuGH 14.3.2017, C-188/15, Bougnaoui und ADDH . /. Micropole SA.

21 So bereits in den Entscheidungen Mangold (v. 22.11.2005 – C-144/04) und Kücükdeveci (v. 19.1.2010 – C-555/07).

22 EGMR v. 23.9.2010, Nr. 1620/03 (Schüth).

23 Heuschmid/Höller, HSI-Newsletter 2/2018, Anm. unter II.

24 Art. 47 EU-GRC lautet: „(1) Jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, hat das Recht, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen. (2) Jede Person hat ein Recht darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. (3) Jede Person kann sich beraten, verteidigen und vertreten lassen. (4) Personen, die nicht über ausreichende Mittel verfügen, wird Prozesskostenhilfe bewilligt, soweit diese Hilfe erforderlich ist, um den Zugang zu den Gerichten wirksam zu gewährleisten.

25 EuGH v. 27. 9.2017, C-73/16 (Puškár).

26 EuGH v. 21.9.2016, C-140/15 (Kommission ./. Spanien).

27 EuGH v. 14.10.2004, C-36/02 (Omega).

28 So bereits EuGH v.14.3.2017, C-188/15 (Bougnaoui und ADDH).

29 Art. 21 Abs. 1 EU-GRC lautet: „Diskriminierungen insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung sind verboten.“

30 C-68/17. Vorlagebeschluss des BAG v. 28.7.2016, 2 AZR 746/14 (A).

31 Schlussanträge von Generalanwalt Wathelet v. 31.05.2018 – C-68/17.

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