Die Annäherung zweier Unionen?
Probleme und Lösungsansätze zur Partizipation der HU auf europäischer Ebene. Mitteilungen Nr. 198, S. 22-24
Mit der deutschen Ratspräsidentschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2007 rückten die politischen Ereignisse auf der europäischen Ebene deutlich in den Fokus der Medien und auch das öffentliche Interesse an der EU wuchs. Doch auch jenseits von der zeitweiligen medialen Aufmerksamkeit sollte man die europäische Politik beobachten und sich deren wachsenden Einfluss auf den Bürger bewusst(er) machen. So lag nach Analysen des Centrums für Europäische Politik (CEP) der Anteil der „europäischen“ Legislativakte in den Jahren 1998 bis 2004 bei 84%, dagegen wiesen lediglich 16% der legislativen Rechtsvorschriften einen rein nationalen Ursprung auf.
Sicherlich ist die EU heute immer noch in erster Linie eine Wirtschaftsgemeinschaft, weshalb der überwiegende Teil der Rechtsakte ökonomische Bereiche reglementiert. Nichtsdestotrotz wird die EU auch für andere Politikfelder wie die innere Sicherheit immer bestimmender, was nicht zuletzt die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung beweist.
Mit Blick auf die steigende Bedeutung der europäischen Politik für die Bürgerrechte sollte sich deshalb die HU auf ihrer Delegiertenkonferenz in Hannover mit ihren Defiziten in punkto Mitgestaltung auf der europäischen Ebene kritisch auseinandersetzen und praktizierbare Lösungen diskutieren und implementieren. Dieser Artikel will dazu einige Ideen und Denkanstöße liefern.
Problem: Europäische Partizipation
Diskussionen um die Mitwirkung der HU auf der europäischen Ebene sind nicht neu. Bereits Jürgen Roth (1992) und Nina Helm (2001) befassten sich eingehend mit dieser Thematik und forderten die HU zur Europäisierung ihrer Arbeit auf. Während meines Praktikums in der Bundesgeschäftsstelle im vergangenen Jahr musste ich feststellen, dass sich die HU auch 15 Jahre nach den ersten Aufrufen immer noch als eine überwiegend bundesdeutsche Organisation präsentiert, die kaum auf der europäischen Ebene mitwirkt. Die Initiativen zur Vorratsdatenspeicherung, der EU-Workshop im September 2006, der Kontakt zur englischen Bürgerrechtsorganisation statewatch sowie die Mitgliedschaft im virtuellen Informations- und Kommunikationsforum European Civil Liberties Network (ECLN) sind zwar erste Schritte, auf der europäischen Ebene zu partizipieren. Diese Bestrebungen sind bisher lediglich punktuell. Eine kontinuierliche und effektive Teilhabe der HU an der europäischen Politik findet nicht statt.
Ausgehend von dieser ernüchternden Analyse hinterfragte ich, welche Faktoren eine kontinuierliche und effektive Partizipation der HU auf der europäischen Ebene verhindern.
Ergebnis: Ressourcenschwäche
Eine europäische Partizipation würde der HU in jedem Fall mehr Arbeitsleistung abverlangen. Allein schon so trivial erscheinende Arbeitsvorgänge wie die Recherche nach EU-Dokumenten, die Übersetzung von Positionspapieren oder auch die Kontaktaufnahme bzw. -pflege mit europäischen Bürgerrechtsorganisationen und Europapolitikern, können vom Bundesvorstand und der Geschäftsführung keineswegs bewältigt werden. Beide sind bereits mit der Bearbeitung ihres nationalen Aufgabengebietes zeitlich nicht nur ausgelastet, sondern überlastet (Jochen Goerdeler / Sven Lüders in Mitteilungen Nr. 194, S. 16 ff.) Der HU fehlt es somit zuvorderst an zeitlichen Ressourcen, um ihre europäische Partizipation voranzubringen.
Aus meinen Beobachtungen, welche ich während meines Praktikums in der Bundesgeschäftsstelle machen konnte, und den Interviews, die ich mit Vorstandmitgliedern und der Geschäftsführungen durchführte, kristallisierte sich zudem heraus, dass sich lediglich ein relativ kleiner Kreis von Mitgliedern aktiv innerhalb der HU einbringt. Diese Mitwirkung ist für die HU ganz essentiell. Blickt man auf das zu leistende Arbeitspensum, das die HU bewältigen müsste, um eine effektive Bürgerrechtsarbeit auf der europäischen Ebene durchzuführen, ist nicht davon auszugehen, dass dies mit dem bisherigen Mitgliederengagement erreicht werden kann. Eine derartige Mitwirkung ist aber notwendig, um die europapolitischen Aktivitäten der HU voranzubringen, ohne Vorstand und Geschäftsführung noch stärker zeitlich zu überlasten.
Ebenso wenig verfügt die HU über finanzielle Spielräume, die ihr es ermöglichen würden, einen zusätzlichen Mitarbeiter einzustellen, die/der entweder eine europäische Partizipation lancieren oder die Geschäftsführung entlasten könnte. Ich kam daher zu dem Ergebnis, dass eine kontinuierliche und effektive Partizipation der HU auf der europäischen Ebene an deren Ressourcenschwäche scheitert. So kann der Bundesvorstand und insbesondere die Geschäftsführung nicht die Zeit aufwenden, die für eine europäische Partizipation der HU von Nöten wäre.
Lösungsansätze: Inhalte und Organisation einer europäischen Partizipation der HU
Wenn sich die HU gegenüber europäischen Themen öffnen oder sogar eine mitgestaltende Rolle auf der europäischen Ebene einnehmen will, muss sie drei grundlegende Voraussetzungen anstreben:
1. Sachverstand über die Funktionsweise der EU und der europäischen Entscheidungswege
Da die HU erst am Anfang einer europäischen Partizipation steht, kommt dem Aufbau von Wissensbeständen über das politische System EU eine ganz zentrale Rolle zu. Die kontinuierliche Erschließung dieses Themengebietes bildet die Basis für alle nachfolgenden Aktivitäten. Zudem verspricht ein bildungsorientierter Ansatz ein verstärktes Bewusstsein für europäische Fragen innerhalb des Gesamtverbandes. Neben der Vermittlung von Grundlagen der EU sollte sich die HU auch um die Erschließung des europäischen Fördersystems bemühen. Der EU-Workshop im September 2006 ist dabei richtungweisend und kann als ein erster Erfolg verbucht werden.
2. Die Vernetzung mit europäischen Gleichgesinnten und Whistleblowern, um rechtzeitig über aktuelle Themen Kenntnis zu bekommen und auf europäische Akteure bzw. Entscheidungsträger einwirken zu können.
Ähnlich der Kooperation mit statewatch muss die HU sich künftig stärker um die Vernetzung mit gleichgestimmten Organisationen bemühen. Denkbar wäre hier beispielsweise die Kontaktaufnahme mit NGOs aus anderen Mitgliedsstaaten. Bei der Recherche nach relevanten Organisationen ist für die HU sicherlich das ECLN ein guter Ausgangspunkt, aber auch in Vergessenheit geratene Kontakte der HU zur Inter Citizens Conference oder den Jungen Europäischen Demokraten sollten reaktiviert werden. Darüber hinaus könnte die HU ihre bereits bestehenden nationalen Netzwerke und deren Kontakte zu europäischen Akteuren nutzen. Schließlich verfügt die HU über eine Vielzahl von hochrangigen Förderern in der Bundesrepublik, welche auch im Hinblick auf die europäische Netzwerkarbeit von enormer Bedeutung sind. Nicht zuletzt wäre auch eine Zusammenarbeit mit der Europäischen Grundrechteagentur (vormals: Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit) in Wien wünschenswert.
3. Ausrichtung innerdeutscher Netzwerke und Lobbyarbeit auf europäische Themen bzw. die europäischen Aspekte deutscher Themen
Für eine europäische Bürgerrechtsarbeit stehen genügend Themen bereit (s. Beitrag von Björn Schreinermacher auf Seite 20). Für eine europäisch ausgerichtete Bürgerrechtsarbeit reicht jedoch die inhaltliche Bearbeitung dieser Themen nicht aus. Beim Engagement gegen die Vorratsdatenspeicherung etwa ist es wichtig, die eigenen Anstrengungen mit anderen Mitstreitern in Europa abzustimmen, um mit vereinten Kräften die Umwandlung der Richtlinie in einen Rahmenbeschluss zu verhindern. Darüber hinaus gilt es, die vorhandenen Netzwerke der HU für europäischen Themen zu sensibilisieren. Die HU muss innerhalb ihrer etablierten Lobbysphären deutlich machen, dass sie sich fortan auch für europäische Fragen einsetzt. Auf diesem Weg kann es ihr gelingen, ihre Einflussmöglichkeiten auf den europäischen Horizont auszuweiten.
Mit Blick auf das umfangreiche Arbeitsprogramm und den Mangel an Ressourcen stellt sich unweigerlich die Frage, wer bzw. wie die HU das bewältigen kann. Die Antwort darauf liegt nach meiner Einschätzung im Mitgliederengagement. Lediglich eine aktive(re) Mitwirkung der Mitgliedschaft vermag die Europatauglichkeit der HU voranzutreiben und gleichzeitig die Ressourcen innerhalb des Verbandes zu schonen. Als ersten Schritt schlagen wir deshalb die Vernetzung der interessierten Mitglieder und die Gründung einer Arbeitsgruppe „EU und Bürgerrechte“ vor. Aufgaben dieser Arbeitsgruppe sollten neben der Beobachtung von europapolitischen Geschehnissen auch die Beschäftigung mit europäischen Rechtsetzungsprozessen und die anschließende strategischen Planung sein. Dadurch könnte die Arbeitsgruppe helfen, die HU frühzeitig auf kommende Europa-Themen hinzuweisen. Daneben könnte die Arbeitsgruppe die „europäische Vernetzung“ der HU, die Vorbereitung von (Bildungs-)Veranstaltungen sowie die Recherche und Beantragung von Fördermöglichkeiten durch die EU bzw. Stiftungen vorantreiben.
Perspektiven: Erste Schritte der Arbeitsgruppe „EU und Bürgerrechte“
Nach ihrer Konstitution sollte sich die Arbeitsgruppe in naher Zukunft zusammenfinden, um sich über zwei grundlegende Aspekte zu einigen:
1. Welche Projekte will die Arbeitsgruppe initiieren, um ein europäisches Bewusstsein innerhalb der HU zu befördern?
Ein nahe liegendes Ziel der Arbeitsgruppe kann die Planung von Veranstaltungen sein. Für den Anfang erscheint dabei der bildungsorientierte Ansatz am sinnvollsten. Denkbar wäre – ähnlich wie beim EU-Workshop 2006 – die Wissensvermittlung über wesentliche Aspekte der EU sowie deren praktische Untersetzung durch Fallbeispiele, Gruppenaufgaben und Eigenrecherchen. Hierbei handelt es sich um Projekte, bei denen sicherlich auch das HU-Bildungswerk in Nordrhein-Westfalen behilflich sein kann. Realistisch sind aber auch Fachtagungen zu spezifischen europapolitischen Themen. Die HU könnte damit einerseits weite Teile ihrer Mitgliedschaft erreichen und andererseits ihren europapolitischen Aktivismus kundtun.
2. Welche internen Maßnahmen müssen getroffen werden, damit die Arbeitsgruppe handlungsfähig wird und auch perspektivisch bleibt?
Es sollte insbesondere das Informationsmanagement der Arbeitsgruppenmitglieder untereinander bzw. der Arbeitsgruppe und der Geschäftsstelle thematisiert werden. Es ist in jedem Fall sinnvoll, die Arbeitsgruppe an die Bundesgeschäftstelle in Berlin anzubinden. Dadurch würde der Arbeitsgruppe der Austausch mit der Geschäftsführung und dem Vorstand sowie der Rückgriff auf bereits vorhandene Datenmaterialien ermöglicht. Dennoch ist nicht davon auszugehen, dass sich die interessierten Mitglieder lediglich aus einer Region oder nur aus Berlin zusammenfinden. Daher wäre ein virtuelles Kommunikationsforum hilfreich, in dem aktuelle Themen besprochen, Projektstände hinterfragt, Informationen gesammelt und ad-hoc entstehende Fragen gemeinsam geklärt werden können.
Die angeführten Ideen sind lediglich erste Vorschläge, wie eine Mitwirkung der HU auf der europäischen Ebene auf den Weg gebracht werden könnte. Aber auch diese Ideen setzen voraus, dass sich genügend interessierte Mitglieder finden, die sich auch mit europäischen Themen beschäftigen wollen. Wir hoffen, dass die Mitglieder die Dringlichkeit einer europäischen Partizipation erkennen. Die HU wird nur dann eine effektive Mitwirkung auf europäischer Ebene erreichen, wenn wir – die Mitglieder – dieses Thema ernst nehmen und durch unser Engagement tragen. Deshalb hoffen wir auf eine rege Diskussion über die hier gemachten Vorschläge und darüber, wie diese weiter entwickelt und umgesetzt werden können.
Wir freuen uns über diesbezügliche Rückmeldungen und Vorschläge. Diese können an die Bundesgeschäftsstelle der Humanistischen Union oder direkt an uns gerichtet werden.
Christian Hiepe europa@humanistische-union.de>
absolvierte 2006 ein Praktikum in der Bundesgeschäftsstelle der HU
Literatur:
Centrum für Europäische Politik (Stand: 07/2006): Deutschland in der EU, http://www.cep.de
Goerdeler, Jochen / Lüders, Sven (2006): Projekt: Mitgliederwerbung – Diskussionspapier für den Verbandstag der Humanistischen Union 2006; in: Mitteilungen Nr. 194, S. 16-19
Helm, Nina (2001): 40 Jahre sind genug – Kritische Anmerkungen zu Gegenwart und Zukunft der Humanistischen Union; in: vorgänge Nr. 155, S. 237-241
Neumann, Ursula (1996): Die Mitgliederbefragung hat Konsequenzen. – Hoffentlich! Anregungen zu angeregtem Nachdenken über die Humanistische Union; in: Mitteilungen Nr. 154
Roth, Jürgen: (1992): Bürgerrechtsarbeit nach Maastricht – Ein Europa der Bürgerrechte muß[!] politisch offensiv wirken; in: Mitteilungen Nr. 139, S. 45-46