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„Die indivi­du­elle Religi­ons­aus­übung ist bisher nur partiell gegeben“

04. Mai 2017

Interview mit Riem Spielhaus, in: vorgänge Nr. 217 (Heft 1/2017), S. 11-20

„Die individuelle Religionsausübung ist bisher nur partiell gegeben“

RIEM SPIELHAUS   Jahrgang 1974, studierte Islamwissenschaften und Afrikawissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. Nach ihrem Magisterabschluss war sie zunächst als Referentin der Bundesbeauftragten für Migration, Flüchtlinge und Integration sowie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Islamwissenschaft an der Humboldt-Universität tätig. Sie promovierte 2008 mit der Arbeit „Wer ist hier Muslim? Die Entwicklung eines islamischen Bewusstseins in Deutschland zwischen Selbstidentifikation und Fremdzuschreibung“. Es folgten Forschungsaufenthalte am Centre for European Islamic Thought an der Theologischen Fakultät der Universität Kopenhagen sowie am Erlanger Zentrum für Islam und Recht in Europa (EZIRE) der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, wo sie u.a. zur rechtlichen Anerkennung des Islams in Deutschland arbeitete. Heute ist sie Professorin an der Georg-August-Universität Göttingen und leitet seit 2016 die Abteilung Schulbuch und Gesellschaft am Georg-Eckert-Institut in Braunschweig.

Frau Spielhaus, Sie haben sehr viel geforscht und gearbeitet zum Selbstverständnis und zur Identitätsbildung von muslimischen Menschen in Deutschland. Wenn Sie die Entwicklungen der letzten Jahre auf einen Nenner bringen sollten: Was hat sich geändert?

Als wichtigste Änderung ist zu nennen, dass Muslime in Deutschland überhaupt als solche wahrgenommen werden. Alle, die einen sichtbaren Hintergrund in einem mehrheitlich muslimischen Land haben, müssen sich heute in Deutschland zum Islam positionieren – entweder als Muslime oder Ex-Muslime, als Juden oder Christen. Ein großer Anteil der Identitätsbildung von Muslimen erfolgt derzeit über Zuschreibungen. Das betrifft ganz stark Jugendliche in der Schule, aber auch Prominente, Unternehmer, Sportler, Künstler. Und es hat dazu geführt, dass wir plötzlich viele Muslime im Land haben.

Während es vorher Nationalitäten waren?

Genau. Dieselben Menschen wurden in den 1980er und 1990er Jahren als Türken wahrgenommen – übrigens auch, wenn sie Araber waren. Früher dominierten ethnische und nationale Herkünfte den Diskurs und die Wahrnehmung Eingewanderter, heute ist es die Religion. Mit der Änderung der Fremdwahrnehmung wurden neue Gruppen geschaffen: In den 1970er Jahren wurden die „Südländer“ in einen Topf gesteckt – Griechen, Spanier, Türken und Jugoslawen, die als Gastarbeiter nach Westdeutschland gekommen waren. Seitdem hat sich dieser „Topf“ stark verändert. Die Italiener, die Griechen und die Spanier wurden in den „europäischen Topf“ integriert, während die Türken mit den Arabern und den Pakistanis in einem anderen „Topf“ behandelt werden. Als Afrikaner Markierte werden in der Regel nicht als Muslime wahrgenommen, auch wenn viele der Senegalesen und Ghanaer in Deutschland sich als solche verstehen. Wichtig ist daher, sich bewusst zu machen, dass die Kategorisierungen nicht den Beziehungen der vermeintlichen Gruppen untereinander, ihrem Gemeinschaftsempfinden und ihrer Solidarisierung entsprechen, und dass sie auch nicht unbedingt mit der Selbstwahrnehmung der darin zusammengefassten Menschen übereinstimmen.

Wie wirken sich diese Fremdzuschreibungen auf die Selbstwahrnehmung der hier lebenden Migranten aus? Nehmen sie sich jetzt beispielsweise stärker als Muslime denn als Türken wahr?

Identitäten lassen sich nicht als „entweder oder“ darstellen. Auf der persönlichen Ebene ist Selbstwahrnehmung manchmal ambivalent und meist vielfältig. Identitäten haben ihre Konjunkturen, und ihre Bedeutungen können sich schnell verschieben. Menschen haben immer mehrere Identitäten und würden nicht unbedingt ihre muslimische als erste angeben – auch wenn sie vor allem über diese wahrgenommen werden. Zuschreibungen und Adressierungen als muslimisch führen dazu, dass mehr Menschen mit Migrationshintergrund als Muslime in der Öffentlichkeit sichtbar werden und sich als solche in Debatten einbringen. Sie werden im Islamdiskurs ja auch immer wieder dazu aufgefordert, sich zu positionieren, werden zu Talk-Shows eingeladen und sollen auf Podiumsdiskussionen als Muslime sprechen.

Dass solche permanenten Aufforderungen die Betroffenen nicht unberührt lassen, sehen wir beispielsweise am i,Slam, einem Poetry-Wettbewerb, der von als muslimisch markierten Jugendlichen initiiert wurde. Die Beiträge spiegeln häufig das Ringen mit der Identität: ‚Bin ich jetzt eher dies, bin ich eher jenes, oder will ich etwas ganz anderes sein?‘ Oder DJane Ipek, die nach dem 11. September 2001 ein T-Shirt mit dem Spruch trug: „Don’t panic, I’m islamic.“ Dieses Bild brachte es sogar auf die Titelseite eines Magazins. Ipek Ipekcioglu ist bekennend lesbisch und will vor allem als Musikerin wahrgenommen werden. Oder der Schriftsteller Navid Kermani, der sich lange Zeit gegen das Label „Berufs-Muslim“ wehren musste. Ihm ist es gelungen, mit seiner professionellen Identität als Schriftsteller sichtbar zu werden, die weit über die religiöse hinausgeht.

Für Menschen muslimischen Hintergrunds stellt die Islamdebatte mittlerweile einen schmerzhaften Kampf dar – in dem sie ihren eigenen Weg finden, sich positionieren und abgrenzen müssen, um ihre Identität auszuhandeln. Die Islamdebatte ist ja in großen Teilen ein Abgrenzungsdiskurs. Einerseits wird Muslimen darin nicht selten die Zugehörigkeit zu Deutschland abgesprochen, andererseits sollen sie sich vom Terrorismus abgrenzen. Aber es reicht nicht zu sagen, was der Islam nicht ist. Muslime müssen diese Identität gemeinschaftlich und individuell füllen. Für Jugendliche beispielsweise ist das eine durchaus anspruchsvolle Aufgabe.

Wenn man sieht, wie viele muslimische Jugendliche heute als Muslime aktiv sind, dann ist das ein großer Unterschied gegenüber dem Stand vor 20 Jahren. Damals waren das kleine, marginale Grüppchen, die als muslimische Jugendliche aktiv waren. Heute sehen wir: Menschen die als Muslime angesprochen werden, antworten auch häufig als Muslime.

Teilen Sie die Kritik, dass speziell mit der Deutschen Islam Konferenz und den dort eingebundenen Verbänden die konservativen bzw. restriktiven Stimmen innerhalb der islamischen Community in Deutschland gestärkt wurden?

Die Label „konservativ“ und „liberal“ sind für das muslimische Feld nur sehr schwer anwendbar. Die islamischen Organisationen sind äußerst vielfältig sowohl in Bezug auf politische als auch auf religiöse Positionen. Was klar ist: bei den an der Islam Konferenz Beteiligten handelt es sich um organisierte Gruppen. Das Bundesinnenministerium hat zwar in der ersten Phase versucht, auch Stimmen der Nichtorganisierten zu integrieren. Das ist aber nur begrenzt gelungen und wurde von Anfang an stark kritisiert.

Warum?

Genau weil sie nicht – zumindest nicht in religiösen Gemeinschaften – organisiert sind. So funktioniert eben die Demokratie in unserem Land: Um gehört zu werden und eine Stimme zu haben, muss man sich zusammenschließen und einen Verein oder eine Partei gründen. Die Einbeziehung der Türkischen Gemeinde Deutschlands – einer entlang nationaler Linien organisierten Gemeinschaft – in die Islam Konferenz bildet dabei die große Ausnahme. Wenn man die Menschen an einen Tisch holt, die sich entlang von Religionsfragen engagieren, sich über das Merkmal Religion zusammenfinden, dann hat man eine ganz bestimmte Gruppe einbezogen – und andere eben nicht. Sind diese Menschen nun konservativer als die anderen? Es sind vor allem diejenigen, die sich um die Gestaltung des religiösen Lebens in diesem Land bemühen.

Wenn wir uns die Individuen anschauen, etwa so jemanden wie Aiman Mazyek[1]: der hat in den 1990er Jahren für die Liberalen als Bürgermeister kandidiert. Einige in Moscheegemeinden und Vereinen engagierte Musliminnen und Muslime sind Mitglieder in CDU oder SPD; schauen Sie sich den Arbeitskreis muslimischer Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten an. Es ist nicht davon auszugehen, dass Menschen automatisch konservativ sind, nur weil sie sich in einem religiösen Verband engagieren, in dem es gewiss auch viele konservative Stimmen gibt. Die organisierten Muslime sind diejenigen, die sich die Mühe machen, in einem Moscheeverein mitzuwirken, ihre Zeit einbringen und Geld dafür zahlen, dass z.B. jeden Freitag das Gebet möglich ist. Personen, die das Gebet unwichtig finden, sind vermutlich weniger in solchen Vereinen organisiert. Das unterscheidet islamische Organisationen von Kirchen, in denen über die Taufe auch Menschen Mitglied werden, die sich später überhaupt nicht für Religion interessieren.

Im Rahmen der Islam Konferenz ist es sicher nicht falsch, mit denen über Fragen der Bestattung zu reden, die wissen, wie eine Bestattung nach den islamischen Vorschriften durchzuführen ist. Solche Gespräche sind mit Menschen zu führen, die über eine religiöse Kompetenz in den Sachfragen verfügen. Wie die Gründung des Liberal-Islamischen Bundes [2] zeigt, organisieren sich auch dezidiert religiös-liberale Stimmen innerhalb des Islam in separaten Strukturen.

Noch einmal nachgefragt: Es gibt Äußerungen von DITIB-Vertretern, die beispielsweise die Gleichstellung der Geschlechter oder den umfassenden, auch das Recht der Nicht-Gläubigen integrierenden Begriff der Religionsfreiheit, wie ihn unsere Verfassung enthält, in Frage stellen. Die DITIB ist in der Islam-Konferenz vertreten, die lesbische DJane nicht. Ist es nicht ein Problem, dass ihre Positionen bei der Islam-Konferenz hinten unter fallen?

Aber das ist nicht nur ein Problem der islamischen Vertreter in der Konferenz. Frauen waren auf beiden Seiten – also auch als Repräsentanten des deutschen Staates – kaum vertreten. Das hat sich in der zweiten Phase geändert, wo gerade auch Vereinigungen muslimischer Frauen einbezogen wurden und es explizit um Geschlechterrollenbilder ging.

Sehen Sie einen strukturellen Konservatismus solcher Dialogformen?

Jeder und jedem steht es frei, sich entsprechend zu organisieren. Die DJane könnte auch in diesem Umfeld aktiv werden und einen Verband für ihre Position begründen oder einem bestehenden beitreten. Wenn der Liberal-Islamische Bund wächst, wird er auch zunehmend politische Bedeutung erlangen und Gehör finden. Vielleicht fühlen sich viele Muslime in ihm heimischer als in den bisher bestehenden Verbänden – das kann gut sein. Die Vielfalt innerhalb einer religiösen Szene muss sich allerdings selbst organisieren und darf nicht von außen vorgeschrieben werden. Hier greift das Neutralitätsgebot des Staates. Ob eine DJane dann in der Islam Konferenz sitzen oder sich doch eher auf die Musik konzentrieren möchte, ist dann noch eine andere Frage. Es gibt ja auch Muslime, die sagen: ‚Ich sehe mich im Bundestag vertreten, weil ich eine bestimmte Partei wähle oder sogar Mitglied bin – das ist meine demokratische Repräsentanz, auch im Hinblick auf die Islampolitik, aber nicht mein religiöser Zugang.‘ Wo wären wir denn, wenn wir Menschen verpflichten, sich in einem religiösen Kontext zu organisieren? Und was würde es religionspolitisch bedeuten, wenn wir denen, die sich organisieren, absprechen würden, für ihre religiösen Bedürfnisse Lobbyarbeit zu betreiben und Vereinbarungen mit staatlichen Stellen zu treffen, z.B. für Bestattungen nach islamischem Ritus?

Die Diskussion um die Repräsentativität islamischer Organisationen berührt nicht zuletzt immer wieder das Thema Zuschreibung, denn hier werden Menschen aus mehrheitlich muslimischen Ländern schnell mit Muslimen gleichgesetzt, die in Gespräche über den Islam einzubinden sind. Daran wurden Organisationen wie DITIB und Zentralrat immer gemessen: Vertreten sie die geschätzten 4 Millionen Muslime im Land oder nicht? Nein, die repräsentieren sie nicht, weil sich viele von ihnen – so wie viele andere Menschen in Deutschland auch – die Freiheit nehmen, nichts mit Religion zu tun haben zu wollen. In der Islamdebatte ist aber der Druck hoch, sich zum Islam zu positionieren. Und die Debatte übt Druck auf religiöse Organisationen aus, Menschen, die nichts mit Religion zu tun haben wollen, unter ihre Fittiche zu nehmen. Das löste in den letzten Jahren viele Spannungen aus. So haben 2005 DITIB-Vertreter erklärt: ‚Natürlich sind wir bereit, alle Muslime in Deutschland zu vertreten.‘ Das wurde von Anhängern anderer islamischer oder areligiöser Gemeinschaften als übergriffig zurückgewiesen. Ich bin nicht sicher, ob DITIB von Anfang an diesen Anspruch hatte. Sicher ist aber, dass den Vertretern der Dachorganisation immer wieder gesagt wurde: ‚Wenn Ihr nicht die Mehrheit der Muslime vertretet, nehmen wir Euch nicht ernst.‘

Würden Sie der Einschätzung zustimmen, dass es bei den kollektiven Religionsrechten (z.B. der Lehrerausbildung, den Staatsverträgen, dem Moscheebau) gewisse Fortschritte zu verzeichnen gibt – trotz aller offenen Fragen?

Ja, auch wenn diese den islamischen Religionsgemeinschaften vielleicht noch zu langsam gehen und auch wenn sie von Land zu Land unterschiedlich ausfallen und mancherorts bis heute nichts passiert.

Gehen wir auf der anderen Seite – etwa im Umgang mit religiöser Bekleidung – nicht gerade einige Schritte rückwärts?

In den Debatten: ja – auf der juristischen Ebene: jein. Die Situation ist recht komplex. Die Forderung nach einem Burka-Verbot, das eigentlich Niqab-Verbot heißen müsste, scheint besonders in Wahlkampfzeiten immer wieder hervorgeholt zu werden. Insgesamt tendiert die öffentliche Debatte eher in Richtung einer Reglementierung als die juristische. Auf gerichtlicher Ebene gab es 2015 eine zweite Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Frage der Lehrerin mit Kopftuch. Mit dieser Entscheidung stärkte das Gericht die Religionsfreiheit und speziell die Bekenntnisfreiheit von Lehrerinnen.[3] Es stellte fest, dass ein pauschales gesetzliches Verbot nicht zulässig ist, sondern im Einzelfall entschieden werden muss. Außerdem seien etwaige Konflikte so zu lösen, dass das Recht der Lehrerin auf Bekenntnisfreiheit nicht vollkommen außer Kraft gesetzt wird. Das ist ein starkes Votum für die Religionsfreiheit und die individuelle Religionsausübung. Die war 2003 – mit der ersten Kopftuch-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts – zunächst eingeschränkt worden. Die Situation war vor 2003 deshalb nicht unbedingt freier – es gab einfach kaum Regelungsbedarf. In NRW unterrichteten damals nur vereinzelt kopftuchtragende Lehrerinnen an staatlichen Schulen. Über die Migrations- und Islamfragen tauchen solche Regulationsdiskussionen auf. Ich kann da aber keine einheitliche Tendenz festmachen.

Derzeit berät der Deutsche Bundestag über einen Gesetzentwurf der Regierung zum Verbot der Gesichtsverschleierung im gesamten öffentlichen Dienst des Bundes, im Straßenverkehr, bei der Bundeswehr etc. Und im Bereich der Rechtsprechung haben wir die Entscheidung des EGMR, der Kopftuchverbote für Arbeitgeber zulässt. Gerade im privaten Sektor verzeichnen Monitoringstellen seit Jahren eine starke Diskriminierung von Muslimen, etwa bei der Vermietung von Wohnraum … Sehen Sie keinen Widerspruch zwischen dem institutionalisierten Diskurs mit dem Islam einerseits und der Einschränkung individueller Religionsfreiheit für Muslime andererseits?

Ja, da geht es natürlich stark um die Bekleidungsgebote bzw. -verbote. Auf der Ebene der Religionspraxis gibt es letztlich aber nach meinem Eindruck wenige Beschränkungen in Deutschland. Ich will einfach auf andere Felder hinweisen: etwa die Versammlungsmöglichkeiten für das Freitagsgebet, die Möglichkeiten, Moscheevereine zu gründen … – all das ist schon lange, seit Gründung der Bundesrepublik möglich und wird praktiziert. Ein Problem gibt es bei den Feiertagen mit dem Recht auf Beurlaubung. Diese Frage wurde in einigen Bundesländern per Staatsvertrag, in manchen Bundesländern (wie Berlin) durch die Änderung von Verordnungen gelöst. Das sind Fragen, die in manchen Bundesländern noch zu klären und für muslimische Menschen wichtig sind: Kann ich überhaupt an religiösen Feiertagen am Gebet teilnehmen und mein Familienfest begehen, wie Christen Weihnachten gemeinsam begehen können?

Sind Staatsverträge der richtige Weg, um solche Fragen zu klären?

Sie sind eine Möglichkeit. In manchen Ländern scheinen Gesetzesänderungen, Verwaltungsvorschriften und Einzelverträge – wie in Niedersachsen der 2011 zur Gefängnisseelsorge geschlossene Vertrag – auszureichen, um offene Fragen zu regeln, in anderen wurden dafür mehrere Themen umfassenden Vertragswerke gewählt. Das ist abhängig von den Gegebenheiten der einzelnen Bundesländer, und hängt nicht zuletzt von der religionspolitischen Geschichte des Landes ab. In jedem Fall braucht es eine langfristige und nachhaltige Kommunikation, also auf Dauer angelegte Gespräche mit den muslimischen Akteuren in dem jeweiligen Bundesland. Das ist die wichtigste Voraussetzung für die Ermöglichung der islamischen Religionspraxis. Die Frage ist also: Werden die verschiedenen Regelungen in einem Staatsvertrag gesammelt, oder handelt man das einzeln, in einzelnen Verträgen oder Verordnungen ab? In Berlin etwa wurden 2005 zuerst die islamischen Feiertage und 2012 dann die Bestattungen geregelt, aber auf Landesebene existiert bis heute kein Vertrag mit islamischen Organisationen.

Inwiefern hat nach Ihrer Ansicht die nicht-muslimische Öffentlichkeit ein Recht, an der Aushandlung solcher Fragen beteiligt zu werden? Soll und darf der Staat solche Regelungen allein mit den betroffenen Religionsgruppen aushandeln?

Hier sprechen sie eine Frage der Gleichbehandlung an. Mit welcher Begründung sollten islamische Religionsgemeinschaften hier anders behandelt werden als christliche oder jüdische? Inwiefern tangieren die Regelungen die nicht-muslimische Öffentlichkeit und müsste diese daher an den Aushandlungen beteiligt werden? Und wenn ja, in welcher Form? Dahinter verbergen sich grundlegende Fragen zur Governance und Beteiligung der Bevölkerung an Entscheidungsfindungen im gesellschaftlichen Zusammenleben. Im Land Berlin nehmen derzeit Bürgerplattformen, an denen viele zivilgesellschaftliche Akteure beteiligt sind, darunter auch Moscheegemeinden, sich der Anliegen von Musliminnen und Muslimen im Stadtviertel an. Im Bezirk Neukölln engagiert sich die Plattform seit Jahren dafür, Grabfelder für innerstädtische islamische Grabplätze zu finden, auch im Gespräch mit christlichen Gemeinden. Wie bereits erwähnt ist Berlin ein Bundesland, in dem bisher Einzelregelungen favorisiert wurden. An diesem Beispiel kann man auch die Vor- und Nachteile eines solchen Vorgehens erkennen. In Ruhe kann und muss für jedes Problem separat eine Lösung gefunden werden. Insgesamt ist dieser Weg vom Engagement Einzelner oder – im Fall der Bürgerplattformen – Vieler abhängig.

Kritiker wenden gegen die Staatsverträge ein, dies sei kein demokratischer und transparenter Weg der Regelung religiöser Fragen: Solche Verträge werden zwischen staatlichen Vertretern und den Betroffenen intern ausgehandelt – die Öffentlichkeit bleibt, im Gegensatz zu normalen Gesetzgebungsverfahren, bei der Erarbeitung des Regelungsvorschlags außen vor und auch das Parlament hat keinen Gestaltungsspielraum mehr, sondern kann dem Vertrag nur noch zustimmen oder ihn ablehnen.

Das ist sehr davon abhängig, wie die Vorbereitung solcher Verträge gestaltet wird: ob man hinter verschlossenen Türen tagt, oder Parlament und Bürgerschaft durch Informationsveranstaltungen und Anhörungen beteiligt. Angst vor Gegenwind ist hierbei sicher kein guter Ratgeber.

Die bisher genannten Regelungen gehen davon aus, dass die Anerkennung des Islam vor allem über die Gleichbehandlung mit anderen Religionen verläuft, also das religionsrechtliche System gleich bleibt und nur ein neuer Akteur hinzu kommt. Die Integration des Islam könnte doch für eine Reform nicht mehr zeitgemäßer religionsrechtlicher Grundsätze genutzt werden – weil beispielsweise der Körperschaftsstatus als implizit oder explizit vorausgesetzte Organisationsform bei der heutigen Vielfalt religiöser Gemeinschaften nicht mehr angemessen ist?

Wir sehen, dass dies bereits passiert: Das Religionsverfassungsrecht verändert sich in seiner praktischen Anwendung. Zum Beispiel beim Körperschaftsstatus vertraten Rechtswissenschaftler in den 1970er Jahren noch die Auffassung, dieser Status sei nötig, um in der Schule Religionsunterricht anbieten zu können. Heute finden sich unter den Anbietern von Religionsunterricht Gemeinschaften, die nicht als Körperschaft organisiert sind – und das betrifft nicht nur islamische Religionsgemeinschaften. Die Änderungen wurden nicht allein durch Muslime verursacht. Eine ganze Reihe kleiner Religionsgemeinschaften hat zu Veränderungen des Religionsverfassungsrechts beigetragen, zum Beispiel die Bahai[4] und die Zeugen Jehovas[5], die die Bedingungen für den Körperschaftsstatus geändert haben. Es reicht nicht, den Islam in Kirchenform zu pressen – die religiöse Vielfalt stellt komplexere Fragen.

Eine Anpassung der islamischen Religionsgemeinschaften an das Niveau der Kirchen ist derzeit aber nicht abzusehen. Deren Sonderstatus ist bislang weitgehend unbestritten. Sie sind altkorporierte Religionsgemeinschaften, die bereits zur Zeit der Weimarer Republik Körperschaftsstatus hatten und Jahrhunderte alte Verträge mit Bund und Ländern haben. In diesem Sinne wird es hierzulande auf absehbare Zeit keine Angleichung islamischer Strukturen an den Status der beiden Kirchen geben. Ich würde daher anders formulieren: Es geht derzeit um die Gewährleistung der umfassenden Religionsausübung, denn die ist bis jetzt nur partiell gegeben.

Aber welchen Stellenwert haben dann Gesetze zu Bekleidungsvorschriften, die per se nur einzelne Religionsgemeinschaften treffen, in denen die Kleidung eine Rolle spielt?

Diese Frage stellt sich in der Tat. Insgesamt sollten wir uns meines Erachtens fragen: Wie gehen wir mit religiöser Vielfalt in der Gesellschaft um? Diese Frage ist nicht allein gesetzlich zu regeln, sondern muss gesellschaftlich geklärt werden. Das betrifft zum Beispiel den Bildungssektor: Wie wird religiöse Vielfalt in Schulbüchern thematisiert? Bisher geht es dort vor allem um Konflikte. Religiöse Vielfalt führt aber nicht nur und nicht zwingend zu Konflikten, sondern hat auch andere Dimensionen. Der interreligiöse Dialog oder die kulturelle und spirituelle Bereicherung durch Religionen und Weltanschauungen kommen in aktuellen Schulbüchern allerdings kaum vor.

Sehen Sie andere Bereiche, in denen staatlicher Handlungsbedarf für eine bessere Anerkennung des Islam besteht?

Ein spannender Bereich ist momentan die Wohlfahrtspflege, da geht es um viel Geld. In diesem Bereich besteht auch ein großes Potenzial im Sinne einer Integration des Islams in das öffentliche Leben. Die Generation der älteren Gastarbeiter hat das Rentenalter erreicht, deshalb brauchen wir schnellstmöglich religionssensibles Pflegepersonal und Einrichtungen – entweder durch eine starke religiöse und kulturelle Öffnung der bestehenden Angebote, oder eben neue Angebote aus dem muslimischen Spektrum. Davon können Impulse für die Verortung der hier lebenden Muslime ausgehen.

Aber was bedeutet das beispielsweise für das Leistungsspektrum in Krankenhäusern? Müssen wir dann mit weiteren Einschränkungen beim Angebot von Schwangerschaftsabbrüchen oder Sterbehilfe rechnen, wenn neben Krankenhäusern in kirchlicher Trägerschaft auch muslimische Krankenhäuser solche Behandlungen ablehnen? Wie weit dürfen Religionsgemeinschaften darüber entscheiden, was zulässige Behandlungen sind und was nicht?

Lassen Sie uns das diskutieren, wenn das erste islamische Krankenhaus im Aufbau ist. Derzeit sieht es so aus, als ob das noch einige Jahrzehnte brauchen wird. Sicher könnte das zu neuen Fragen und Problemen führen, die wir heute nicht voraussehen können. Der Islam ist in Bezug auf die ethischen Linien in einigen Lebensfragen ebenso wenig eindeutig und einheitlich wie das Christentum. Ein Blick auf mehrheitlich muslimische Länder zeigt ganz verschiedene Antworten und Praktiken. Von daher ist nicht so einfach vorauszusehen, welche Sichtweise innerhalb des Islam sich in Deutschland durchsetzen und wie sich muslimische Anbieter hierzulande verhalten würden. Zum Beispiel bei der Pränataldiagnostik gibt es innerhalb des Islams sehr verschiedene Strömungen und unterschiedliche Schulen.

Indem Muslime in eine Verantwortung kommen für unsere Gesellschaft, stellen sich für sie Fragen, die sie hier womöglich ganz anders beantworten werden als in Ägypten oder in der Türkei. Das bedeutet es, den Islam zu lokalisieren. Je mehr islamische Organisationen in die Pflicht genommen werden, solche Fragen mit zu entscheiden und dadurch eine Wertschätzung erfahren, umso stärker werden sie sich mit dieser Gesellschaft auseinandersetzen – egal, ob es sich um Migranten handelt oder um Konvertiten, die schon seit mehr als drei Generationen hier leben. Damit werden sich sicherlich auch neue theologische und ethische Fragen stellen, die womöglich anders beantwortet werden als bisher.  Es verspricht außerdem spannend zu werden, ob und wie es gelingen wird, das mit anderen Religionsgruppen auszuhandeln und natürlich auch mit den Humanisten.

Vielen Dank für das Gespräch!
Die Fragen stellte Sven Lüders.

Anmerkungen

1 Vorsitzender des Zentralrates der Muslime.

2 Liberal-Islamischer Bund e.V., siehe https://lib-ev.jimdo.com/.

3 Ausführlich zur Rechtsprechung in der Kopftuch-Frage s. den Beitrag von Berghahn in diesem Heft.

4 S. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 5.2.1991 (2 BvR 263/86 – BVerfGE 83, 341), in dem das Gericht objektive Kriterien für die Anerkennung einer Religionsgemeinschaft sowie den Schutzbereich der Vereinigung formulierte.

5 S. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 30.6.2015 (2 BvR 1282/11).

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