Themen / Demokratisierung

Grundrechte in einer sich wandelnden Gesell­schaft

01. Januar 1999

Mitteilung Nr. 165, S. 02

Das beherrschende Schlagwort der 2. Hälfte der 90er Jahre heißt Globalisierung. Die Globalisierung der Wirtschaft, der Finanzströme, der Kommunikation sprengt alle Grenzen, verändert die Gesellschaft, erzwingt den Wandel, macht rechtliche Regelungen unwirksam und ist angeblich unwiderstehlich.
Dabei bezieht sich der Diskurs über die Globalisierung ausschließlich auf wirtschaftliche Tatbestände. Nichts zählt außer Betriebswirtschaft, mehr oder weniger Wettbewerbsfähigkeit, Steigerung des Gewinnes und Verringerung des Verlustes. Davon hänge das Wirtschaftswachstum ab, hiervon wiederum die Schaffung von Arbeitsplätzen – und die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ist nach völlig einheitlicher Auffassung das bedeutendste politische Ziel.
Alles dies ist zweifellos äußerst wichtig – aber es ist nicht alles. „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein“, heißt es schon in der Bibel (5. Buch Mose, 8,3; Matthäus 4,4; Lukas 4,4). Der Mensch will nicht nur essen und trinken, er will nicht nur immer mehr Geld, um besser zu leben, sondern er bedarf zum einen des Rechtes auf Arbeit, um dieses Essen und Trinken, diesen besseren Lebensstand realisieren zu können, und er bedarf zum zweiten der Freiheit, sich selbst zu entfalten. Wenn die Globalisierung zur Forderung nach Deregulierung führt, zur Beseitigung von wirtschaftlichen Fesseln, Kapitalverkehrshindernissen, Beseitigung von Bürokratie und rechtlichen und technischen Vorschriften in der Ökonomie, so darf die Forderung nach Deregulierung sich nicht auf den wirtschaftlichen Bereich beschränken, sie muß weitergetragen werden in den rechtlichen und gesellschaftlichen, moralischen Bereich. Die Fremdbestimmung der Persönlichkeit muß zurückgewiesen werden, die Einschränkung der freien Entfaltung der Persönlichkeit kann nur dort akzeptiert werden, wo sie für das friedliche Zusammenleben der Menschen unabdingbar ist. Die Menschenrechte, die Bürgerrechte, die Grundrechte des Grundgesetzes legen die Grenze fest gegen die Kontrolle, die Fremdbestimmung des Einzelnen durch Staat und Gesellschaft.
Wenn alles sich wandelt, müssen sich dann nicht auch die Grundrechte wandeln? Ist eine Neudefinition der Grundrechte erforderlich, wie manche glauben?
So wird etwa den Verteidigern des Rechtsstaats und der Grundrechte, die immer neue Aufgaben und Befugnisse der Sicherheitsbehörden und immer mehr Einschränkungen der Grundrechte des Einzelnen – zuletzt durch den Großen Lauschangriff – kritisieren, von Politikern und einigen Verfassungsrechtlern das „Grundrecht auf Sicherheit“ entgegengehalten. Die Bürgerinnen und Bürger hätten einen verfassungsrechtlich verbürgten Anspruch auf Sicherheit vor Kriminalität – und diesem „Grundrecht auf Sicherheit“ nachzukommen, sei eben – leider – nur durch Neudefinition bzw. Einschränkung der „traditionellen Grundrechte“, der bürgerlichen Freiheitsrechte möglich.
Selbstverständlich haben die Bewohner eines Staates ein Anrecht darauf, daß dieser sie vor Kriminalität schützt. Aber ist dies ein verfassungsrechtliches Grundrecht? Wir Einwohner der Bundesrepublik Deutschland haben auch einen Anspruch darauf, daß der Staat uns Straßen baut, auf denen wir uns mit unseren Autos bewegen können. Aber folgt daraus ein Verfassungsrecht „freie Fahrt für alle Bürger“? Wir haben einen Anspruch darauf, daß der Staat eine ausreichende Energieversorgung für Wirtschaft und Privathaushalte sicherstellt – aber folgt daraus ein „Grundrecht auf Atomkraft“, wenn diese angeblich (so die Energiewirtschaft) erforderlich ist? Die Argumentation mit einem angeblichen „Grundrecht auf Sicherheit“ verkennt den Unterschied zwischen einem Recht und einem Grundrecht. Das führt zur Relativierung der im Grundgesetz verbürgten Grundrechte – und soll es wohl auch.
Aus dem Wandel von Wirtschaft und Gesellschaft folgt nicht die Notwendigkeit einer Neudefinition der Grundrechte. Einfache Gesetze und sonstige Rechtsvorschriften müssen dem Wandel der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse angepaßt werden. Die Grundrechte sind gerade in der Verfassung verankert worden, um dem Wandel der jeweils wechselnden Mehrheiten zu widerstehen. Sie fordern im Zeitenwandel nicht ihre Anpassung und Neudefinition, sondern unwandelbar ihre Durchsetzung, ggfs. ihre Wiedergewinnung. Grundrechte (wie der umfassendere Begriff der Menschenrechte) sind unteilbar und unwandelbar, sie gelten für die politischen und sozialen Rechte, für Arme und Reiche, für Rechte und Linke, im abgeschotteten Nationalstaat wie in der globalisierten Welt.
Wenn die Welt sich globalisiert, wenn alles sich wandelt, wenn die Kriminalität steigt, die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit weltweit das wichtigste Thema ist: Muß dann den Menschen-, Bürger- und Grundrechten unsere Aufmerksamkeit gelten? Können wir sie uns noch leisten, wenn andere Probleme so drängend sind?
Wenn Grundrechte nur für Schönwetterzeiten gälten, dann wären sie überflüssig. Was ich in Schönwetterzeiten sowieso bekomme (weil ich es mir oder der Staat es sich leisten kann), braucht nicht grundrechtlich verbürgt zu werden, es braucht nicht verfassungsrechtlich abgesichert zu werden. Was der Mehrheitswille ist, braucht nicht in Grundrechte gegossen zu werden – die Mehrheit schafft sich kraft ihrer Mehrheit ihre Gesetze selbst. Menschenrechte, Bürgerrechte, Grundrechte sind immer Rechte gegen die Mehrheit, gegen das Schlechtwetter, nur dafür werden sie verfassungsrechtlich abgesichert. Dies begreiflich zu machen, ist Aufgabe von Bürgerrechtlern. Begreiflich zu machen, daß Bürgerrechte überall bedroht sind, daß jeder betroffen ist und niemand sagen kann: Was geht mich das an?
Deutlich zu machen, daß jeder abgehört werden kann, und nicht nur der Verbrecher (wenn man den Verbrecher hätte, müßte man ihn nicht abhören, sondern verhaften), selbst nicht einmal der Verdächtige, sondern nach den Regeln des Großen Lauschangriffs sogar der Unverdächtige, bei dem lediglich die Möglichkeit besteht, daß er mit einem Verdächtigen Kontakt hat; begreiflich zu machen, daß jeder auch ohne Grund von der Polizei kontrolliert werden kann; die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes davon zu überzeugen, daß niemand von ihnen weiß, welche – evtl. falschen – Erkenntnisse die Sicherheitsbehörden über ihn haben, die ihm – unerkannt und daher unwiderleglich – schaden können; zu betonen, daß jeder die Kirchen als Religionsgemeinschaften finanziert, auch wenn er ihnen nicht angehört; ins Bewußtsein zu heben, daß in sozialen und karitativen Berufen die Arbeitnehmer wegen des weitgehenden Monopolcharakters derartiger Institutionen in kirchlicher Trägerschaft (z.B. Krankenhäuser, Kindergärten, Altersheime) weitgehend ihre gewerkschaftlichen und Arbeitnehmerrechte verlieren; bewußt zu machen, daß nicht jeder sterben kann wie er will (Patientenverfügung); dagegen zu protestieren, daß nicht jeder straflos seine Meinung sagen darf, rechts wie links; dagegen zu protestieren, daß nicht jeder Versammlungen für politische Zwecke so und dort durchführen darf, wo und wie er es für richtig hält – trotz des Brokdorf-Urteils des Bundesverfassungsgerichts, welches genau dies gefordert hatte; immer wieder anzuprangern, daß nicht jeder den Beruf ergreifen darf, den er will, wenn der Beruf staatlich geregelt ist – Berufsverbote in Ost und West – das ist auch in einer sich wandelnden Welt die Aufgabe der Bürgerrechtler. Dabei nützt es nichts, darüber zu lamentieren, daß immer wieder die Grundrechte nicht in vollem Umfang „gewährt“ werden. Grundrechte sind Rechte, keine Geschenke, sie fallen nicht vom Himmel. Sie werden nicht vom Staat gewährt, sondern im Gegenteil von ihm immer wieder gefährdet. Rechte müssen erkämpft, Rechte müssen durchgesetzt werden, von selbst setzen sie sich nicht durch. Die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger und der Zugang zu ihnen werden immer wieder verbarrikadiert und zugemauert. Aber es bleiben Ritzen und Spalten – und hier muß die Brechstange ansetzen, um die Grundrechte freizukämpfen, so wie es neuestens und beispielhaft mit der erfolgreichen Klage eines Gefangenen vor dem Bundesverfassungsgericht (NJW 1998, 3337) auf angemessene Bezahlung gelungen ist, weil nach dieser Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 1. Juli 1998 das Einsperren von Gefangenen mit der Menschenwürde des Artikel 1 Grundgesetz nur vereinbar ist, wenn Ziel nicht lediglich das Wegsperren, sondern die Resozialisierung ist, und zur Resozialisierung gehört angemessen vergütete Arbeit.
Zum 50. Jahrestag des Grundgesetzes ist es Aufgabe auch des – dritten – Grundrechte-Reports der Bürgerrechtsorganisationen Humanistische Union, Gustav-Heinemann-Initiative, Komitee für Grundrechte und Demokratie sowie Bundesarbeitskreis Kritischer Juragruppen, aufzuzeigen wo es Grundrechtsverstöße gibt, wo gekämpft werden muß.

Till Müller-Heidelberg

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