Mensch Richter
Mitteilungen Nr. 165, S. 22
Innenansichten der Justiz … doch eine Obduktion braucht nicht angeordnet zu werden, denn die Justiz lebt! Dies veranschaulichen von Ulrich Vultejus gesammelte Beobachtungen in seinem jüngsten Buch*. In über 40 Abschnitten geht es um weit mehr als „nur“ Erlebtes aus dem Richteramt: Das Vorwort skizziert als Thema die menschliche Qualität des Rechts, der Rechtsprechung entsprechend dem Leitmotiv: Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich geboren.
Lebensspuren, eigene und beobachtete, sind das eine Thema der Publikation. Neben Biographischem versammelt der Band Fallstudien, oft im engen Sinn dieses Wortes. Die ersten Abschnitte handeln von der Ausbildung des Autors: Schule unter den Bedingungen des Unrechts sowie das Studium des (welchen?) Rechts ab 1945. Vultejus´ Ansichten zur Justiz sind hier Justizgeschichte. So schildert der Zeitzeuge die Begegnungen mit den „gezähmten“ Nazijuristen und die personellen Kontinuitäten eines Justizapparates, der teils gewachsen auf Blut und Boden der (Vor-) Kriegsjustiz sich diesen Staatsdienern selten karrierehinderlich zeigte. Innenansichten zur nie geschehenen Bewältigung der unmenschlichen Zeit mit ihren plastisch beschriebenen Protagonisten und Mitläufern.
Rollenstudien sind das zweite Thema. Mit präzisem Blick werden die mehr oder weniger verantwortlich handelnden Akteure des Rechts exemplarisch charakterisiert. Die menschlich skizzierten Berufsprofile dieser Rechtspersonen spiegeln das Selbstverständnis der Regelnden: Von parteiischer Berufungspraxis der Gerichtsdirektoren ist die Rede, vom Selbstverständnis der Amtsgerichtspräsidenten, Richter, Schöffen, den mit entscheidenden Übersetzern und Sachverständigen, den Wachtmeistern oder dem Gerichtsvollzieher. Es fehlen auch nicht die Fehlenden, Täter, große wie kleine und Erfahrungen mit den rechtlich wie menschlich besonders heiklen „Fällen“ der Zwangsunterbringung, Betreuung, der Umgang mit den sogenannten Querulanten, Isolierten, der nicht in den Gesetzen steht. Auch die Beschreibungen der Verwahranstalten, Haft- oder Jugendarrestanstalt zeigen: Hinter Fällen stehen immer Menschen.
Doch neben Ernstem steht auch Anekdotisches. Neben Neuem aus der Welt des Rechts wird Historisches berichtet, etwa Verhandlungen des preußischen Oberrichters, Dichters und Komponisten E.T.A. Hoffmann, des „verrückten, anmutigen Blitzkerls“ (Fouqué). Daneben kontrastierend die Schilderung dreier Reisen in Sachen Recht: Nach Polen, in die Türkei und zu einem Militärstrafgericht in Diyarbakir sowie nach Straßburg, dem hehren Ort der Menschenrechtskommission und des -gerichtshofs. Oder deutsch-deutsches und den praktizierten „kleinen Dienstweg“ vor und nach dem Beitritt Ostdeutschlands.
All das zeigt: Immer schon gab und gibt es neben täglichen Wirrungen des Rechts auch massive Versuche, Recht und Richter von oben zu beeinflussen, zu wenden oder auszuhöhlen. Und immer gibt es auch die Kunst des Rechts, der Richtenden mit ihrer vornehmsten Aufgabe, Gesetz und Wirklichkeit zu versöhnen, Widersprüche aufzuheben. Verständnis und wahre Humanität sind der gültige Maßstab hierzu: „ … Gesetze sind nur der Maschinenpark der Justiz. Als Richter müssen wir sie zum guten Ende steuern.“ (S.33) Die Lektüre zeigt: mitentscheidend für menschliche Qualität des Rechts sind neben harten Fakten auch die „weichen“ Werte wie vorurteilsfreie Menschenkenntnis, Interaktion, Interesse, Erfahrung … kurz: Judiz und richterliche Kunst.
Wer vom früheren HU-Vorsitzenden Neues zu Deutschlands ältester Bürgerrechtsvereinigung erhofft, wartet lange, erst ganz zum Schluß an exponierter Stelle wird sie explizit genannt. Viele Verbindungen ergeben sich jedoch mittelbar wie z.B. das ausführliche Kapitel zu Werner Holtfort (1920 – 1992), der sich ebenfalls lange Jahre um die HU verdient gemacht hat, eine persönliche von Freundschaft getragene Schilderung Holtforts, des Republikanischen Anwältevereins und – ganz nebenbei – auch Holtforts wohl bekanntestem früheren Mitarbeiter, dem Anwalt Gerhard Schröder, das sind auch Nachrichten aus dem Inneren der HU.
Ein Register erleichtert das Wiederfinden der Fülle von Sach- und Personenangaben. Auch die beigefügte Bibliographie der jüngeren Veröffentlichungen des Autors zeigt die große Spannweite seiner Themen: Gerichtsbauten, DV-Expertensysteme, Pornographie, Bioethik, Organtransplantation… neben spezifisch juristischer Materie immer wieder immer menschliches, allzumenschliches, erste und letzte Dinge. Eine Vielfalt die anregt zur weiteren Lektüre und auf die nächste Publikation des Neuberliners neugierig macht.
Tobias Baur
*Nachrichten aus dem Inneren der Justiz … berichtet von Ulrich Vultejus, Verlag Lax Hildesheim 1998 ISBN 3-8269-6331-8, 164 Seiten, Hardcover 36.- DM