Themen / Sozialpolitik

»Packe ich das Leben noch?«

24. Februar 1985

aus vorgänge Nr. 73 (Heft 1/1985), S. 38-40

Donnerstag, 18 Uhr: Jour fixe im Münchner Arbeitslosenzentrum. Das Thema »Macht Arbeitslosigkeit krank?« hat viele hierher geführt. Langandauernde Arbeitslosigkeit  führt meist in eine berufliche und persönliche Krise: Ohne Arbeit hat Leben kaum noch Inhalt, müßte neu durchdacht und umgestaltet werden. Nur wenige sind dazu fähig. Viele wurden als Bewerber immer wieder abgelehnt, mit Wendungen, die knallhart oder zynisch klingen. Beziehungen sind zerbröckelt, Bekannte haben sich zurückgezogen. Niemand ist da, der einen auffängt.

An diesem Abend wird die psychische Belastung, ihr Bezug zum permanenten Geldmangel und der sozialen Isolation besonders deutlich. Krankheit, sagt der Psychologe, dabei kommt viel zusammen, das bin nicht nur ich, das hängt auch ab von anderen, wie sie auf mich reagieren, wie wohl ich mich unter ihnen fühle.
Jeder kennt das. Wie fühle ich mich, wenn die Kneipe schon zu teuer ist, natürlich auch  das Telefon und schließlich noch die Wohnung? Wenn der Vermieter seine Drohung wahrmacht und mir kündigt?
Ja, wie fühlen sie sich? Sie sprechen nicht gern darüber, daß sie abends nur noch vor der »Glotze« hocken, während auf dem Tisch ein Formular liegt: »Prüfung der Bedürftigkeit«. Da wird überprüft, ob bei Eltern oder Kindern noch Geld zu holen ist. Brieftaschen von Angehörigen — freigegeben zur Besichtigung. Wer das aushält, braucht starke Nerven. Kann ich darüber sprechen, daß der Zustand, arbeitslos zu sein, längst Vermittlungshemmnis ist? Begreift das ein Pensionär, der stolz ist, 40 Jahre treu »gedient« zu haben? Oder jemand, der selbst zittert um den Job, doch das nicht eingestehen will?

Und je größer der Kreis der Dauerarbeitslosen ist — 1983 bereits 29% der registrierten  Erwerbslosen — um so mehr müssen sie sich Erniedrigungen gefallen lassen, die sie als Sippenhaft empfinden. Der Kreis jener, die überhaupt keinen Leistungsanspruch haben oder nur Arbeitslosenhilfe beziehen, wächst ständig. Vielen von ihnen droht die Sozialhilfe und damit die sogenannte Pflichtarbeit ohne tarifliche Absicherung und für 1,55 DM in der Stunde. Langfristig Arbeitslose müssen alle Jahre neue Kürzungen der Leistungen hinnehmen, weil ihre Bemessungsgrundlagen (»das noch mögliche, erzielbare Einkommen«) herabgesetzt wird.

»Auch der Druck am Arbeitsplatz macht krank«, sagt der Psychologe. Die in der Runde sitzen, wissen das, und weil sie es selbst an sich oft genug erfahren haben, sind sie  so mutlos. Firmen benötigen — zum Beispiel wegen Rationalisierungen — nur noch eine Kernmannschaft. Der Rest wird ausgemustert. Die einen raus, die andern gar nicht erst rein — das ist das Prinzip, das »neue Armut« zeugt. Die Lage ist niederschmetternd. Mancher sieht keine Aussicht mehr, und man spürt hinter seiner Ohnmacht die Verzweiflung. Oft sind Anliegen auch in unscheinbare Fragen verkleidet, hinter denen verborgene Ängste schlummern. Es muß nachgefaßt werden.

In kleiner Runde sitzen wir anschließend noch beisammen. Eine Grafikerin taut auf: »In meinem erlernten Beruf war ich wie eingesperrt.« Damals erwachten die Träume:  die kleine Kunsthandlung, die Galerie. Sie hat Chancen gesehen. Gibt es nicht Kredite? Zusammen mit der Freundin mußte es doch klappen. Doch als die krank wird, zerschlagen sich die Pläne. »Da ist ein fester Kreislauf und der bricht zusammen. Ich ziehe mich zurück, halte aber die Ruhe dann nicht aus.« Sie geht nicht mehr in Ausstellungen. »Es ist wie eine Wand vor mir. Ich weiß, ich besitze Talent, doch das wird offensichtlich nicht gebraucht — keine Perspektive mehr.«

Besonders die Sensiblen zerbrechen an der Wirklichkeit. Und dann, als Arbeitslose, spüren sie nur noch einen dumpfen Nebel, der sie hindert, was zu unternehmen. Sie fühlen sich krank, doch diese Krankheit kommt nicht aus ihnen selbst. »Da konnte jemand neben einem sterben — und man tut nichts. Ja, es stimmt — ich fühle mich krank. Doch stempelt dieses Wort mich nicht schon ab?«

So entstehen Identitätskrisen, Minderwertigkeits- und Versagungsgefühle. Es fällt  schwer, aus eigener Kraft neue Beziehungen zu knüpfen, denn das Verbindende der Arbeit fehlt. Es mangelt an Ideen und Energie. Hier kann ein Arbeitslosenzentrum Unterstützung leisten, das Selbstbewußtsein stärken, helfen, Konflikte besser auszuhalten und zu bewältigen, eine tragfähige Lebensperspektive zu entwickeln, die eigene Existenz im gesellschaftlichen Zusammenhang zu begreifen.

Dies zu erreichen, ist schwierig und nicht immer von Erfolg gekrönt. Allzu leicht bilden  sich »Fraktionen«: Die einen interessieren sich einseitig für »soziales Lernen«, die anderen ausschließlich für gesellschaftspolitische Arbeit, vor allem jene, die schon vor der Phase der Arbeitslosigkeit politisch aktiv waren. Zum Anspruch von Erwerbslosenarbeit gehört aber, beides im Zusammenhang zu sehen: Soziales Lernen kann auch dazu befähigen, die eigenen Interessen als Arbeitsloser zu erkennen und nach außen zu vertreten, und gesellschaftspolitische Arbeit darf den Problemdruck beim einzelnen Betroffenen nie aus dem Auge verlieren.

Eine wichtige Brücke sind Seminare mit Rollenspielen. Wie geht die Initiativgruppe, die  politisch arbeitet, mit an Mitarbeit interessierten, aber mehr oder minder scheuen Neuen um und wie befriedigend ist der Arbeitsstil der Gruppe? Also spielen Teilnehmer die Entwicklung einer Hebevorrichtung für Leute, die zwischen zwei Stühlen sitzen und lernen dabei, daß sie sich — ähnlich wie in den Sitzungen — sich kaum zuhören. Wenn das hier schon mißlingt, wie erschreckend muß dann diese Vorstellung erst für im Fachchinesisch Ungeübte sein?

Solche Seminare außerhalb der Stadt haben auch den Vorteil, daß sich Konflikte in den  Gruppen, die oft mit enttäuschter Hoffnung auf einen Job und Isolierung zu tun haben, in ruhiger Atmosphäre gut aufgearbeitet werden können. Viele stellen fest: Es lohnt sich, in der Gruppe auch mal einen schwierigen Konflikt durchzustehen — und nicht nur anzutippen und die Beteiligten dann damit alleinzulassen.

Mit der Arbeitslosigkeit leben muß auch heißen, die Fähigkeit entwickeln, sich nicht mehr selbst was vorzumachen. Da wird die Vielzahl der Bewerbungen oft zum Schutzschild: Wer sich bewirbt, der hofft noch, doch um so härter kann der Bruch sein, die  Erkenntnis: Jetzt ist es aus. Du findest nie mehr was. Da ist es wichtig, zu wissen: Die, die dich beraten, sind auch arbeitslos gewesen, Verbündete. Jeder weiß, wovon er spricht, und so lernen es auch Frauen, sich zu behaupten — sie, die in der Arbeitswelt nur wenig zählen, über die oft mit einem Federstrich entschieden wurde.
Auch Schreiben kann da helfen, Selbstbewußtsein zu wecken. Auch ihr Leben, vermeintlich nur noch Randerscheinung, kann durchdrungen werden durch Beobachtung. Alltag als Hintergrund, um über Gefühle nachzudenken, über das, was man an sich erlebt hat.

Allmählich wächst der Mut, auch vorzulesen, Kritik zu ertragen. Über das Schreiben kommen sie zu genauem und vertieftem Reden, manchmal auch öffentlich,  lernen sie es, Zusammenhänge zu verstehen, standzuhalten, zu begreifen, daß ihre Lage kein Schicksal ist, das sie passiv zu ertragen hätten. Die Lage kann verändert werden — mit anderen zusammen. Diesen Weg zu gehen, heißt oft auch, schließlich sich zu fragen, ob die Bedingungen denn sinnvoll sind, unter denen viele Frauen und auch Männer leben, erwerbslos und am Arbeitsplatz. Die Zeit für sich zu nutzen, die Angst, zu stürzen, zu durchschauen, dem Leben einen Sinn zu geben — auch hierbei wollen Mitarbeiter eines Arbeitslosenzentrums helfen.

»Erst als Arbeitslose«, sagt eine Frau, »ist mir erst richtig klargeworden, was ich wert bin.«

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