
Politische Partizipation - eine provokante Herausforderung für Staatsbürger und Berufspolitiker?
Elitendemokratietheorien betrachten die Demokratie häufig als einen Markt, auf dem Parteien als politische Unternehmer um die Stimmen der Wählerschaft werben und politische Produkte oder Programme anbieten. Joseph Schumpeter meinte etwa, die Bürger hätten lediglich die Aufgabe, sich bei allgemeinen Wahlen zwischen den konkurrierenden politischen Eliten zu entscheiden und ihnen die Regierungsmacht zu übertragen. Nach der Wahl soll sich das Volk aus den politischen Belangen heraushalten und seine passive Rolle akzeptieren. Demokratie sei eine Methode, um mit Hilfe des Elitenwettbewerbs geeignetes Führungspersonal hervorzubringen und zu legitimieren. Fritz Bauer war dagegen der Meinung, dass in der Bundesrepublik von Anfang an eine elitäre Auffassung von Politik geherrscht habe, die den einzelnen Bürger beziehungsweise die einzelne Bürgerin weiterhin zum Untertanen degradiere und politisches Handeln und politische Verantwortung an erster Stelle den institutionalisierten Entscheidungsträgern und Eliten zugestand.
Auch Bundespräsidenten hatten mitunter ein schwieriges Verhältnis zum Staatsvolk als „Souverän“. Theodor Heuss scheute sich beispielsweise nicht, vor dem Volk wie vor einem bissigen Hund zu warnen und dem Parlamentarischen Rat sein berüchtigtes „Cave canem“ („Vorsicht Hund!“) zuzurufen. Roman Herzog begründete seine Ablehnung der direkten Demokratie wiederum damit, dass es „in vielen Bereichen unrealistisch [ist] anzunehmen, dass die intellektuelle Leistungsfähigkeit, die eine moderne Staatsführung verlangt, bei der Mehrheit des Volkes gegeben ist“.
Das Spannungsverhältnis zwischen Bürgerschaft und Berufspolitikertum ist offenkundig. Dies zeigt etwa der Bericht der Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ vom 3. Juni 2002. Hier wurden die Befürwortung, aber auch Vorbehalte hinsichtlich direktdemokratischer Elemente auf Bundesebene deutlich:
„Die Koalitionsfraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen haben sich in ihrem Koalitionsvertrag über die Einführung von Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheiden auf Bundesebene geeinigt und einen Gesetzentwurf in den Bundestag eingebracht (Bundestagsdrucksache 14/8503). Ziel des Gesetzentwurfes ist es, die bewährten Formen der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie durch direktdemokratische Elemente zu ergänzen. […] Die Fraktion der CDU/CSU lehnt die dafür notwendige Verfassungsänderung ab, weil direkte Demokratie auch immer mit Kompetenzen bei den Bürgerinnen und Bürgern verbunden sein muss, die über direktdemokratische Formen auf der Kommunal- und Landesebene erst eingeübt werden müssen. Danach sei an eine Erweiterung des Spektrums der politischen Willensbildung auf Bundesebene zu denken, da hier die Sachverhalte komplexer und die Gefahr des populistischen Missbrauchs entsprechend größer seien.“ (Deutscher Bundestag Drucksache 14/8900, 14. Wahlperiode 03. 06. 2002)
„Parteien streben nach Macht und versuchen dabei, die staatlichen Einrichtungen der politischen Entscheidungsbildung ihrer Kontrolle zu unterwerfen“[1], beschreibt Elmar Wiesendahl das Wesen der Parteien. Seiner Ansicht nach stellt sich daher die Frage, inwieweit die Parteien mit ihrem Machtstreben zur Verwirklichung demokratischer Herrschaftsverhältnisse beitragen. Richard von Weizsäcker kritisierte als Bundespräsident schon 1992, Deutschland sei zu einer Parteiendemokratie geworden. Die Parteien hätten ihre Macht weit über die ihnen im Grundgesetz zugedachte Rolle hinaus ausgedehnt; sie beherrschten die Verfassungsorgane und versuchten zu verhindern, dass sich die Bürgerinnen und Bürger stärker am demokratischen Prozess beteiligen.
In einer Parteiendemokratie führt es zwangsweise zu Schwierigkeiten, wenn den Parteien die Mitglieder davonlaufen: Bundestagsparteien verloren im Zeitraum von 1990 bis 2022 zusammen 1,36 Millionen. Mitglieder (das entspricht 53,9 Prozent), und sie verzeichnen im Jahr 2023 nur noch 1,14 Millionen Mitglieder. Ernsthaft kann kaum bestritten werden, dass diese gravierenden Mitgliederverluste zu einem „Brain drain“ in den Parteien führen und die verbleibenden Mitgliedern den anspruchsvollen Aufgabenstellung, die das Bundesverfassungsgericht formulierte, nicht mehr gerecht werden:
„Die Parteien sollen die politische Beteiligung der Bürger gewährleisten und die Verbindung zwischen dem Volk und den Staatsorganen herstellen: Sie sind darüber hinaus Bindeglieder zwischen den einzelnen und dem Staat, Instrumente, durch die der Bürgerwille auch zwischen den Wahlen verwirklicht werden kann, ‚Sprachrohr des Volkes‘. Sie stellen, sofern sie die Regierung stützen, die Verbindung zwischen Volk und politischer Führung her und erhalten sie aufrecht. Als Parteien der Minderheit bilden sie die politische Opposition und machen sie wirksam.“ (BVerfG vom 19.07.1966)
In unserer Parteiendemokratie erinnern die demokratiepolitischen Positionen der Regierungsparteien an Debatten zu Zeiten der Aufklärung und insbesondere an Immanuel Kant: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“ In der repräsentativen Parteiendemokratie kann politische Unmündigkeit als Zustand beschrieben werden, in dem Menschen auf die Entscheidungen von Repräsentantinnen und Repräsentanten politscher Parteien angewiesen bleiben sollen, obwohl sie die Fähigkeit besitzen, selbstständig zu urteilen und zu entscheiden.
Gertrude Lübbe-Wolf, ehemalige Richterin am Bundesverfassungsgericht und emeritierte Rechtswissenschaftlerin, argumentiert für direktdemokratisches Entscheiden und begründet dies unter anderem mit der Fragwürdigkeit der bei Bundestagswahlen vorgelegten Wahlprogrammen: „Die fertig geschnürten Politikangebotspakete, die die Parteien jeweils anbieten, treffen die Präferenzen einer individualisierten Wählerschaft nicht mehr ausreichend. Jeder, der nicht als Berufspolitiker oder sonstiger Weise seine Existenz auf eine bestimmte Partei gebaut hat, kennt das Problem: das Wählen wird immer schwieriger und zumutungs-reicher – so als dürfte man im Supermarkt die benötigten und gewünschten Lebensmittel nicht einzeln kaufen, sondern nur in nach Art eines Geschenkkorbs fertig arrangierten Zusammenstellungen, bei denen Vieles den eigenen Bedarf und Geschmack auch nicht trifft.“[2]
Welche politische Partizipation ist den Regierungsparteien auf Bundesebene genehm?
Die Regierungsparteien wiederholen gebetsmühlenartig ihre Aufforderungen an die Bürgerinnen und Bürger, sich für die Demokratie, für den Erhalt der Demokratie und gegen die Angriffe auf die Demokratie zu engagieren. Im auffälligen Kontrast dazu wird der Anspruch auf politische Partizipation insbesondere von Regierungsparteien jedoch nur in konkreten Grenzen akzeptiert: Bei der Wahl werden die Bürgerinnen und Bürger zur Beteiligung aufgerufen, und darüber hinaus wird die Mitgliedschaft und die Aktivität in einer Partei begrüßt. Bei allen anderen Ansprüchen auf politische Mitbestimmung wird sehr genau differenziert: Wenn zivilgesellschaftliche Vereine und Initiativen, die sich für kommunale Belange einsetzen, wird dies gelobt und unterstützt. Anders sieht es auf der bundespolitischen Ebene aus: Hier wird die Arbeit vieler NGOs, die Kritik an politischen Entscheidungen der Regierungsparteien öffentlichkeitswirksam formulieren, mit großem Argwohn beobachtet und sehr kritisch bewertet. Dies machte die CDU/CSU-Fraktion am 21. Februar 2025 mit ihrer kleinen Anfrage an die Bundesregierung deutlich: Vor dem „Hintergrund von Protesten gegen die CDU Deutschlands, die teils von gemeinnützigen Vereinen oder staatlich finanzierten Organisationen organisiert oder unterstützt wurden“ wurde gefragt, inwiefern sich gemeinnützige Vereine, die zusätzlich noch mit Steuergeldern gefördert werden, parteipolitisch betätigen dürfen, ohne ihren Gemeinnützigkeitsstatus zu gefährden. 2343 engagierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler reagierten darauf mit einem Brief an Friedrich Merz und Alexander Dobrindt und machten ihre Standpunkte deutlich:
„Statt eine unabhängige und kritische Zivilgesellschaft einzuschränken, ist es Aufgabe eines verantwortungsvollen Gesetzgebers, das Gemeinnützigkeitsrecht so zu modernisieren, dass zivilgesellschaftliches Engagement für Demokratie, Menschenrechte und Umwelt effektiver unterstützt wird. Dies wurde zuletzt von zahlreichen Rechtsexpert:innen und Wissenschaftler:innen gefordert. Ihre Anfrage erweckt jedoch den Eindruck, dass insbesondere Organisationen, die sich kritisch gegenüber rechtspopulistischen oder demokratiefeindlichen Strömungen äußern, einer besonderen Prüfung unterzogen werden sollen. Eine solche selektive Betrachtung widerspricht unseres Erachtens dem Gebot der Gleichbehandlung und läuft Gefahr, demokratische Engagementstrukturen gezielt zu schwächen.“
„Demokratie ist mehr als Wählen“, plakatierten Aktive der „Letzten Generation“ im Kontext der Bundestagswahl 2025 und machten damit auf die Unzufriedenheit vieler engagierter junger Menschen mit der derzeitigen Form der repräsentativen Demokratie deutlich. Die Regierungsparteien vereinbaren immer wieder mit großem Pathos ihr Interesse an neuen Formen des Bürgerdialogs wie etwa Bürgerräte. Die Realität zeigt ein anderes Bild – das zeigt ein kurzer Rückblick: Obwohl im Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD 2018 zum Thema Bürgerbeteiligung vereinbart wurde, eine Expertenkommission einzusetzen, die Vorschläge erarbeiten soll, ob und in welcher Form die parlamentarisch-repräsentative Demokratie durch weitere Elemente der Bürgerbeteiligung und direkter Demokratie ergänzt werden könne, wurde diese Kommission nie einberufen. 2021 wurde im Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP mit dem Titel Mehr Fortschritt wagen vereinbart, „die Entscheidungsfindung [zu] verbessern, indem wir neue Formen des Bürgerdialogs wie etwa Bürgerräte nutzen, ohne das Prinzip der Repräsentation aufzugeben.“ Es kam aber nur ein Bürgerrat zum Thema Ernährung zustande; der geplante Bürgerrat zur Aufarbeitung der Corona-Politik kam aufgrund koalitionsinterner Streitigkeiten nicht zustande. Zwar steht im 2025 ausgehandelten Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD mit dem Titel Verantwortung für Deutschland ein Bekenntnis zur Fortführung „dialogischer Beteiligungsformate wie zivilgesellschaftliche Bürgerräte des Deutschen Bundestages“. CDU/CSU und SPD wollen weitere bundesweite Bürgerräte einberufen. Allerdings findet sich von den Empfehlungen des 2023/24 durchgeführten Bürgerrates „Ernährung im Wandel“ in der schwarz-roten Vereinbarung fast nichts wieder. Auch Bürgerräte als Form der politischen Partizipation der Bürgerinnen und Bürger in Form von Beratung und Erarbeitung von Kompromissvorschlägen stoßen auf entschieden Vorbehalte. Bundestagspräsidentin Julia Klöckner führt die paternalistische CDU-Linie fort: „Bundestagspräsidentin Julia Klöckner hat sich gegen Bürgerräte ausgesprochen. Die demokratische Legitimierung des Bundestags sei größer als jedes Beteiligungsformat.“
Es bleibt festzustellen, dass die Regierungsparteien mit den durch das Grundgesetz und Richterrecht geschaffenen Parteienprivilegien im Rücken den demokratiepolitischen Diskurs verweigern und sich einer Debatte über bundesweite Volksentscheide und andere Mitbestimmungsmöglichkeiten auf Bundesebene wie institutionell verankerte Bürgerräte, über deren Ergebnisse der Bundestag entscheidet, entziehen.
Lübbe-Wolff, legt in ihrem Buch Demophobie mit ihrem profunden Fachwissen dar, warum „direktdemokratische Formen der politischen Beteiligung“ der Bürgerinnen und Bürger legitimiert werden sollten und schreibt in ihrem Fazit über einschlägige Bedenken: „Oft steht, wo solche Vorbehalte geltend gemacht werden, dahinter auch nur die Erwartung, dass direktdemokratisches Entscheiden, weniger als repräsentativdemokratisches, die eigenen politischen Präferenzen bedienen würde. Und ganz überwiegend handelt es sich um mitgeschleppte ideologische Rückstände einer Demophobie, die einst von jeder Demokratisierung Unheil erwartete.“[3]
Nachdenkliche Bürgerinnen und Bürger kommen angesichts dieser Gemengelage ins Grübeln und fragen sich: Welcher Art ist eine Demokratie, in der politische Mitbestimmung der Staatsbürgerinnen und Staatsbürger auf Bundesebene nicht selbstverständlich beziehungsweise kein Grundrecht ist?
Michael Köhler
Anmerkungen
[1] zitiert nach Deutscher Bundestag/WD 1 – 080/07 2007: Parteiendemokratie in Deutschland – Parteiendemokratie in Rumänien? Berlin, S. 4, https://www.bundestag.de/resource/blob/411790/WD-1-080-07-pdf.pdf
[2] Lübbe-Wolff, Gertrude 2023: Demophobie, Frankfurt am Main, S. 136.
[3] Lübbe-Wolff, Gertrude 2023: Demophobie, Frankfurt am Main, S. 147.
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