Themen / Demokratisierung

Verfas­sungs­be­schwerde eines Bremer Demon­s­tranten

01. August 1970

Aus: vorgänge Heft 8-9/1968, S. 305-306

(vg) Soweit der Bericht über die Verhandlung des Gerichts in erster Instanz und deren Kritik. Die Jugendkammer I des Landgerichts Bremen hat am 17. 4. 1968 auch die Berufung des Angeklagten verworfen.

Wie die Bremer Berufungsinstanz die Spannung zwischen Grundrecht und StGB-Paragraph aufzulösen trachtete, wird durch Zitate und durch die Tendenz der Verfassungsbeschwerde deutlich, die Heinrich Hannover namens des Beschwerdeführers Wolfgang Schwiebert am 25. Juni 1968 beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe einreichte.

Namens und in Vollmacht des Beschwerdeführers Wolfgang Schwiebert erhebe ich Verfassungsbeschwerde gegen folgende Entscheidung: 1. Urteil des Jugendrichters in Bremen vom 23.2.1968, 2. Urteil des Jugendrichters in Bremen vom 17.4.1968.-Durch die bezeichneten Urteile wird der Beschwerdeführer in seinen Grundrechten aus Artikel 5 (Freiheit der Meinungsäußerung) und Artikel 8 (Versammlungsfreiheit) – im folgenden zusammenfassend als Demonstrationsfreiheit bezeichnet – verletzt.

Durch das Urteil des Jugendrichters vom 23.2.1968 ist der Beschwerdefüher eines Vergehens nach § 116 StGB schuldig befunden worden. Die Berufung des Beschwerdeführers gegen dieses Urteil ist durch das Urteil der Jugendkammer I des Landgerichts Bremen vom 17. April 1968 als unbegründet verworfen worden. Die strafbare Handlung des Beschwerdeführers ist darin gefunden worden, daß er an einer Straßendemonstration teilgenommen und sich trotz dreimaliger Aufforderung der Polizei nicht entfernt hat.

Nach Auffassung des Beschwerdeführers steht das Recht der Demonstrationsfreiheit einer verurteilung nach § 116 StGB im vorliegenden Fall entgegen. Im Hinblick auf die überragende Bedeutung des Grundrechts der Demonstartionsfreiheit muß, sofern das Grundrecht mit einfachem Gesetzesrecht kollidiert( hier mit § 116 StGB), eine Güterabwägung stattfinden. Keinesfalls darf das Grundrecht der Demonstartionsfreiheit, das gem. Artikel 1 Abs. 3 GG auch den Gesetzgeber und auch den Richter bindet, durch einfaches Gesetzesrecht relativiert werden, ohne daß eine Prüfung stattfindet, ob und inwiewiet das Grundrecht seinerseits dem Gesetzesrecht Grenzen setzt. Es müssen insoweit die Grundsätze Anwendung finden, die das Bundesverfassungsgericht im sogenannten Lüth- Urteil zum Grundrecht des Artikel 5 GG entwickelt hat.

Aus diesem Prinzipien, die auch für das aus Artikel 5 und Artikel 8 kombinierte Grundrecht der Demonstrationsfreiheit Anwendung finden müssen, ist als Auslegungsregel zu § 116 StGB der Grundsatz abzuleiten, daß nicht jede polizeiliche Aufforderung, sich zu zerstreuen, für die Demonstarnten die strafrechtlichen Folgen des Auflaufs auslösen kann, sondern nur eine solche polizeiliche Aufforderung, die sich ihrerseits zum Schutz höherwertiger Rechtsgüter als notwendig erweist. Bis hierher scheint auch das Landgericht der Rechtsauffassung des Beschwerdeführers zu folgen. Es entwickelt jedoch sodann in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und des Bayerischen Obersten Landesgerichts Grundsätze, die im Ergebnis die Grenzen des Grundrechts vom pflichtgemäßen Ermessen eines Polizeibeamten abhängig machen. Als zulässigen Eingriff in das Grundrecht der Demonstrationsfreiheit betrachtet das Gericht eine polizeiliche Anordnung, die sich auf Auflösung der Demonstration richtet, bereits dann, „wenn der örtlich und sachlich zuständige Beamte im Bewußtsein seiner Verantwortung und unter bestmöglicher pflichtgemäßer Abwägung der Umstände sein Einschreiten für nötig und sachlich gerechtfertigt halten durfte” (aus dem Berufungs-Urteil).

Damit wird das Grundrecht reduziert auf einen Schutz vor willkürlichen Polizeimaßnahmen. Alle nur irgend denkbaren polizeilichen Motivationen für eine Demonstrationsauflösung erhalten durch diese Rechtsprechung den Vorrang vor dem Grundrecht der Demonstrationsfreiheit. Dabei wird verkannt, daß durch das Grundrecht der Demonstrationsfreiheit gerade auch der polizeilichen Motivation Richtlinien gesetzt werden, die sich auf die vereinfachende Formel bringen lassen: Demonstrationsfreiheit geht vor Straßenverkehr. Das Grundgesetz hat durch die Grundrechte die politische Betätigung des Staatsbürgers privilegiert. Der Prozeß der öffentlichen Meinungs- und Willensbildung, an dem mitzuwirken die legitime Aufgabe eines jeden Staatsbürgers ist, wird durch die Garantie der Demonstrationsfreiheit auch gegenüber solchen polizeilichen Maßnahmen abgesichert, die sich auf eine an sich legitime polizeiliche Motivation stützen.

Die Zerstreuung einer Menschenansammlung, die zu einer Behinderung des Straßenverkehrs führt, ist eine an sich legitime polizeiliche Aufgabe. Hat diese Menschenansammlung einen unpolitischen Charakter, ist sie also beispielsweise die Folge eines Unfalls oder eines Brandes, der Neugierige anlockt, so wird der örtlich und sachlich zuständige Beamte im Bewußtsein seiner Verantwortung und unter bestmöglicher pflichtgemäßer Abwägung der Umstände eine Auflösung der Menschenansammlung für nötig und sachlich gerechtfertigt halten dürfen. Er braucht kein höherwertiges Recht der versammelten Menschen in Betracht zu ziehen, weiterhin versammelt zu bleiben. Anders wird die Rechtslage aber in dem Falle, daß die Menschen mit ihrer Versammlung ein politisches Grundrecht ausüben. In diesem Falle handelt der Polizeibeamte, der die Auflösung verfügt, weil er dies im Interesse der Flüssigkeit des Straßenverkehrs für wünschenswert hält, nicht ohne weiteres rechtmäßig. Er muß vielmehr prüfen, ob der von ihm verfolgte politische Zweck sich nicht auf andere Weise ohne Eingriff in das Grundrecht der Demonstrationsfreiheit verwirklichen läßt, z. B. durch Umleitung des Verkehrs oder durch Freihaltung einer Gasse für den fließenden Verkehr. Eine Auflösung der Versammlung darf im Hinblick auf die überragende Bedeutung des Grundrechts der Demonstrationsfreiheit nur das letzte Mittel sein, wenn andere Lösungen des Straßenverkehrsproblems im konkreten Falle nicht möglich sind.

Die Gerichte durften sich im vorliegenden Falle daher nicht darauf beschränken, festzustellen, daß der verantwortliche Polizeibeamte subjektiv unter bestmöglicher pflichtgemäßer Abwägung der Umstände sein Einschreiten für nötig und sachlich gerechtfertigt halten durfte. Eine solche Rechtsprechung macht das wichtigste und eine freiheitliche demokratische Verfassung geradezu konstituierende Grundrecht der Demonstrationsfreiheit vom subjektiven Ermessen eines Polizeibeamten abhängig und relativiert damit dieses Grundrecht in ähnlich verhängnisvoller Weise, wie dies die Grundrechtsinterpretation in der Weimarer Republik getan hat. Die Erwägungen, mit denen das Landgericht die Auflösungsverfügung für rechtmäßig erklären will, verkennen völlig die Rangordnung zwischen Grundrecht und Gesetzesrecht, wenn es in dem Urteil heißt, „daß das Recht der Allgemeinheit, die Straße für den Verkehr zu benutzen, Vorrang vor dem Recht einzelner (habe), sich zum Zwecke einer Demonstration auf ihnen in der Weise zu versammeln, daß ein Verkehr über Stunden unmöglich wird”. Dieser Grundsatz erweist sich bei näherem Zusehen als ein Bekenntnis zum Prinzip der polizeilichen Autorität, die, wie es ein führender Bremer Politiker seinerzeit formuliert hat, nicht „dem Druck der Straße weichen” soll. Völlig unbeachtet läßt das Gericht die Möglichkeit, den Straßenverkehr vorübergehend umzuleiten, um das Stattfinden der Demonstration zu ermöglichen. Das ist umso erstaunlicher, als gerade die Bremer Erfahrung auch dem Landgericht nicht verborgen geblieben sein kann, daß demokratiegemäßere Mittel als der autoritäre und zum Teil äußerst brutale Polizeieinsatz sich als geeigneter erwiesen haben, den Straßenverkehr wieder zu ermöglichen. Am Freitag, dem 19. Januar 1968, ist gegen die zu Tausenden zählende Demonstrantenmenge nicht mehr mit Wasserwerfern und Polizeiknüppeln vorgegangen worden, sondern führende Politiker des Stadtstaates haben sich der Menge zu öffentlichen Diskussionen gestellt und damit das erreicht, was in den Tagen vorher unter teilweise brutalstem Einsatz der Polizeigewalt nicht erreicht werden konnte: die Beendigung der Demonstrationen und die Wiederherstellung normaler Straßenverkehrsverhältnisse.

Nur die Justiz hat noch nicht begriffen, daß eine aus dem Jahre 1871 stammende und damals durchaus zeitgemäße Vorschrift, wie der §116 StGB, angesichts der Geltung eines Grundrechts auf Demonstrationsfreiheit neu interpretiert werden muß. Die mit der Verfassungsbeschwerde angefochtenen Urteile der Bremer Justiz wollen minderjährige Teilnehmer der Demonstrationen, die aus demokratischer Gesinnung gegen Maßnahmen der Staatsgewalt demonstriert haben, zu Rechtsbrechern stempeln. Auch dem Beschwerdeführer kann nichts weiter vorgeworfen werden, als daß er gegenüber dem polizeilichen Befehl, nach Hause zu gehen und die Demonstration abzubrechen, ungehorsam gewesen ist. Mit diesem Ungehorsam hat er sich so verhalten, wie es eine freiheitliche demokratische Verfassung, die gerade im ausdrücklichen politischen Widerspruch zu dem vergangenen Untertanensystem errichtet worden ist, von ihm erwartet. Die aus dem Kaiserreich stammende Bestimmung des § 116 StGB, die eine obrigkeitliche Manipulation jeder unmittelbaren politischen Äußerung des Volkes ermöglichen sollte, muß im Lichte der Artikel 5 und 8 interpretiert und auf ihren noch heute gültigen Kern reduziert werden.

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