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Gewinn­pflege statt Steuer­ge­rech­tig­keit

Grundrechte-Report 2007, Seiten 133 – 137

Seit fünfzehn Jahren zeigen die Löhne und Gehälter in Deutschland eine Tendenz nach unten. Die gesamte Nettolohn- und Gehaltssumme lag 2005 inflationsbereinigt um 5,7 Prozent unter dem Wert von 1991. Dies hat zwei Ursachen: einerseits anhaltend niedrige Tarifabschlüsse, andererseits steigende steuerliche Belastungen. Plakativ kann man von einem »Marsch in den Lohnsteuerstaat« sprechen. In der Folge immer neuer Steuerreformen sank die Steuerbelastung der privaten Gewinn- und Unternehmenseinkommen von 20,3 Prozent im Jahr 1980 auf 9,8 Prozent im Jahr 2005. Im gleichen Zeitraum stieg die Steuerbelastung der Löhne und Gehälter dagegen von 15,7 Prozent auf 17,3 Prozent an. Angekündigte neuerliche Steuerreformen der großen Koalition werden diesen Trend noch verstärken. Und 2006 fielen die Reallöhne weiter um knapp ein Prozent.

Das geschah und geschieht vor dem Hintergrund eines anhaltend steigenden Volkseinkommens – seit 1991 um rund 40 Prozent. Unter Berücksichtigung der Preissteigerung bleibt ein realer Anstieg von rund sechs Prozent. Es gibt also nicht weniger, sondern deutlich mehr zu verteilen, so viel wie noch nie! Bei der Aufteilung des Volkseinkommens auf Arbeitnehmerentgelte (Bruttolöhne und Gehälter zuzüglich Sozialbeiträge der Arbeitgeber) einerseits und Unternehmens- und Vermögenseinkommen andererseits zeigt sich deutlich, wem der Zuwachs vor allem zugute gekommen ist: Das Volkseinkommen erhöhte sich zwischen 2000 und 2005 um 151 Milliarden Euro, davon flossen den Unternehmens- und Vermögenseinkommen 122 Milliarden zu, den Arbeitnehmerentgelten gerade einmal 29 Milliarden Euro. Die fehlende Steigerung der Arbeitnehmereinkommen führte zu einer massiven Schwächung der Binnennachfrage und des Wachstums.

Neoliberale Wirtschafts­po­litik von Kohl bis Merkel

Die Umverteilung von den Einkommen zu den Gewinnen stellt keineswegs einen Betriebsunfall dar. Sie wurde von der Wirtschaft wie von der Politik als notwendige Voraussetzung für die überwindung von Wachstumsschwäche und Arbeitslosigkeit propagiert: Die Gewinne von heute seien die Investitionen von morgen und die höhere Beschäftigung von übermorgen. Dabei wurde jedoch die Nachfrage völlig vergessen. Werden Gewinne einseitig zu Lasten der Masseneinkommen gesteigert, verschlechtern sich automatisch die Absatzbedingungen der Unternehmen. Gelingt es diesen immer schlechter, ihre laufende Produktion abzusetzen, werden auch bei steigenden Gewinnen keine arbeitplatzschaffenden Investitionen getätigt. Sofern das Geld nicht sofort auf die Finanzmärkte fließt und dort unter anderem in Private Equity- und Hedge-Fonds sein Unwesen treibt, wird es vor allem für Rationalisierungsmaßnahmen verwendet – dann allerdings mit weiteren negativen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt.

Tatsächlich haben die letzten Jahre diese Entwicklung eindrucksvoll bestätigt: Die Gewinne allein der Kapitalgesellschaften sind zwischen 2000 und 2005 um rund 50 Prozent von 224 Milliarden Euro auf 337 Milliarden Euro gestiegen. Trotz dieses enormen Gewinnsprungs kam es nicht zu einem Anstieg der Investitionen und zur Schaffung einer nennenswerten Anzahl neuer Arbeitsplätze. Im Gegenteil: Die Investitionen gingen sogar um rund zehn Prozent von 251 Milliarden Euro auf 227 Milliarden zurück.

Und die Verfassung?

Tatsächlich aber verpflichtet das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes den Staat zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit. Auch muss der Gesetzgeber, wie das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 27. April 1999 ebenfalls feststellte, für einen »Ausgleich der sozialen Gegensätze« sorgen (BVerfGE 100, 284). Die Gesetzgebung der letzten Jahre bewirkt aber genau das Gegenteil.

Aus dem Gleichheitssatz des Artikel 3 Absatz 1 GG folgt, dass die Steuerpflichtigen »rechtlich und tatsächlich gleich belastet werden«. Dies hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 27. Juni 1991 zur Zinsbesteuerung (BVerfGE 84, 239) betont. Damit meint es freilich nicht, dass alle Steuerzahler und -zahlerinnen gleich viel bezahlen sollen. Aus dem Prinzip der vertikalen Steuergerechtigkeit folgt vielmehr, dass sich die Höhe der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit richtet: Wer wohlhabend ist, soll auch relativ mehr Steuern bezahlen.

Die Wirklichkeit sieht allerdings anders aus: Durch die Steuerreformen von Kohl bis Merkel wurden und werden vor allem Reiche und Unternehmen entlastet. Hätten wir heute noch einen gleich hohen Anteil der Steuereinnahmen am Bruttoinlandsprodukt wie im Jahr 2000, würde der Staat Jahr für Jahr über Mehreinnahmen von über 50 Milliarden Euro verfügen. Dies zeigt, dass genügend Spielraum zur Finanzierung etwa eines öffentlichen Investitionsprogramms für Arbeit, Bildung und Umwelt besteht.

Vor diesem Hintergrund hat die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, zusammen mit ver.de, der IG Metall und attac ein umfassendes Steuerkonzept vorgelegt . Das »Konzept Steuergerechtigkeit« zeigt, dass das geforderte Investitionsprogramm weitgehend ohne zusätzliche Schuldenaufnahme zu finanzieren ist. Eckpunkte dieses Konzepts sind eine Anhebung des Spitzensteuersatzes auf 48 Prozent, eine Erhöhung des Körperschaftssteuersatzes von 25 Prozent auf 33 Prozent, die Wiedereinführung der Vermögensteuer (wie sie in vergleichbaren Ländern erhoben wird), eine moderate Erhöhung der Erbschaftsteuer und eine konsequente Bekämpfung von Steuerflucht und Steuerhinterziehung.

Gesetz­li­cher Mindestlohn

Einen Ausweg aus dem Teufelskreis einer immer weiter wegbrechenden Binnennachfrage stellt neben einer deutlichen Ausweitung der öffentlichen Ausgaben für Arbeit, Bildung und Umwelt auch der gesetzliche Mindestlohn dar. Forderungen der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik und der Gewerkschaften bewegen sich zwischen 7,50 Euro und neun Euro. Als Folge würden die Löhne und Gehälter von fast sieben Millionen Beschäftigten steigen, die heute für Niedriglöhne (weniger als 66 Prozent des Medianeinkommens, also des Einkommens, das 50 Prozent aller Betrachteten höchstens verdienen) arbeiten müssen (Vollzeitbeschäftigte, sozialversicherungspflichtige Teilzeitbeschäftigte und geringfügig Beschäftigte). Dies würde eine spürbare Verbesserung ihres Einkommens bedeuten und zusammen mit den höheren öffentlichen Ausgaben zusätzliche Impulse für die Nachfrage bringen.

Zusammenfassend lässt sich festhalten: Eine Politik, die den Beschäftigten ihren gerechten Anteil am Wohlstandszuwachs vorenthält, läuft nicht nur allen Vorstellungen einer gerechten Verteilung des Reichtums entgegen. Sie bremst auch das Wachstum, reduziert die Investitionen und steigert die Arbeitslosigkeit.

Literatur

Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, Memorandum 2006.
Mehr Beschäftigung braucht eine andere Verteilung, Köln 2006

Martin Kutscha, Erinnerung an den Sozialstaat, in: Blätter für deut-
sche und internationale Politik 3/2006, S. 355-364

Norbert Reuter, Hedgefonds oder Arbeitsplätze, in: Blätter für deut-
sche und internationale Politik, 10/2006, S. 1180-1183

ver.di-Bundesvorstand (Hg.), Arm trotz Arbeit? Wir brauchen den
gesetzlichen Mindestlohn, 2. Auflage, Berlin 2006

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