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«Landes­ver­tei­di­gung» am Hindukusch

Volker Böge

Grundrechte-Report 2003, S. 173-178

Das Berichtsjahr begann damit, dass Angehörige des Kommandos Spezialkräfte (KSK), die Elite der deutschen Interventionstruppen, in Afghanistan in «richtige» Kampfhandlungen verwickelt waren. Es endete mit der Ankündigung des deutschen Verteidigungsministers, den Auftrag der Bundeswehr von «Landesverteidigung » auf «Krisenbewältigung» umzustellen, ihn mithin so einschneidend zu verändern, dass er mit dem im Grundgesetz festgeschriebenen Mandat deutscher Streitkräfte nicht mehr vereinbar ist. Heißt es doch in Artikel 87a GG: «Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf». Bisher stimmten alle darin überein, dass «Verteidigung» einen voraufgehenden bewaffneten Angriff auf Land und Leute, für die das Grundgesetz Geltung hat, voraussetzt. Nun aber soll gelten: «Die Sicherheit der Bundesrepublik wird auch am Hindukusch verteidigt» (Verteidigungsminister Struck, zitiert nach Frankfurter Rundschau, 6. 12. 2002, S. 1).

Es ist zu befürchten, dass sich auch für diese Ansicht mit einigen Verrenkungen eine juristische Rechtfertigung finden lassen Die allgemeinen Regeln des Völkerrechtes sind Bestandteil des Bundesrechtes wird. Denn noch haben Legislative und Judikative in diesem Land jeden Schritt der von der Exekutive im letzten Jahrzehnt betriebenen dramatischen Veränderung der bundesdeutschen Militärpolitik und der ihr zugeordneten Mittel hin zu einer Interventionspolitik mitgetragen und abgesegnet. Erinnert sei nur an das Bundesverfassungsgerichtsurteil vom Juli 1994, mit dem der Einsatz deutscher Streitkräfte auch außerhalb des NATO-Vertragsgebiets («out of area») für rechtens erklärt und damit von einer jahrzehntelang gültigen Verfassungsinterpretation Abschied genommen wurde. Und so wird sich denn ein Minister, der deutsche Soldaten auf der arabischen Halbinsel, im Kaukasus oder in Zentralasien in den Kampf zu schicken bereit ist, auch künftig mit dem irreführenden Terminus «Verteidigungs»minister schmücken dürfen. «Die allgemeinen Regeln des Völkerrechts» geraten allemal unter die Räder – oder besser: die Panzerketten.

Verfas­sungs­bruch in Permanenz

Sowohl die Aufregung über KSK-Kampfeinsätze als auch über die «Landesverteidigung am Hindukusch» kamen zu spät, denn der Sündenfall lag beide Male schon deutlich früher – in der Zustimmung der großen Mehrheit des deutschen Parlaments am 16. November 2001 zur Beteiligung deutscher Soldaten am «Krieg gegen den Terrorismus» im Rahmen der US-geführten Operation «Enduring Freedom» und in dem Beschluss der Bundesregierung zur Reform der Bundeswehr vom 14. Juni 2000. Mehr noch: Der gesamte seit der Wiedervereinigung betriebene Prozess der Ausgestaltung der deutschen militärischen Potenziale zu Instrumenten herkömmlicher Machtpolitik in neuem – also nicht krude nationalistischem, sondern NATO- und EU-kompatiblem – Gewande ist der eigentliche Verfassungsbruch in Permanenz.

Der Umbau der Bundeswehr zur Interventionsarmee mit den entsprechenden Um- und Aufrüstungen sowie Umstrukturierungen wird von herrschender Politik als «Rückkehr zur Normalität » verkauft. «Normal» ist dabei nach herrschender Auffassung, dass ein Staat von dem ökonomischen Gewicht der Bundesrepublik entsprechend gewichtige militärische Mittel vorhalten und – so es die eigenen Interessen gebieten – auch einsetzen muss, das heißt heutzutage: interventionsfähig sein muss. Die Zeiten der militärischen (Selbst-)Beschränkung und «Machtvergessenheit » sind endgültig vorbei.

Verteidigungsminister Strucks Ankündigungen zeugen insofern – da hat der grüne Abgeordnete Winfried Nachtwei Recht – lediglich von «nachgeholtem Realismus». Denn realiter ist die Umstellung von Landesverteidigung auf Intervention schon weit vorangekommen. Es ist letztlich dieser gesamte Prozess, der die Unterordnung unter die «Regeln des Völkerrechts» aushebelt; punktuelle Kritik an einzelnen völkerrechtswidrigen Maßnahmen oder Absichtserklärungen wie dem Einsatz der KSK in Afghanistan und der «Verteidigung am Hindukusch» ist vor diesem Hintergrund zwar weiterhin notwendig, sie muss bei jeder Einzelmaßnahme, bei jedem weiteren Schritt in die falsche Richtung immer wieder laut und vernehmlich vorgetragen werden. Sie greift aber zu kurz, wenn sie das Gesamttableau nicht mit in den Blick nimmt.

Völker­rechts­wid­riger KSK-Einsatz

Der Einsatz der KSK in Afghanistan war und ist völkerrechtswidrig und damit – siehe Artikel 25 GG – verfassungswidrig. Terroristische Anschläge nichtstaatlicher Akteure wie jene in den USA im September 2001 sind nicht als bewaffnete Angriffe, die ein in dividuelles und kollektives Recht auf Selbstverteidigung nach Artikel 51 UNCh begründen, zu qualifizieren; die Proklamation des Bündnisfalls durch die NATO nach Artikel 5 des Nordatlantikvertrags war folglich völkerrechtswidrig und damit auch der hiermit legitimierte Kampfeinsatz des KSK. Zudem lassen sich aus den Entscheidungen der Vereinten Nationen, die auf die Ereignisse vom 11. September 2001 folgten, auch keine Mandate zu militärischen Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII der UNCh ableiten; der KSK-Einsatz wird mithin auch hiervon nicht gedeckt.

Mit anderen Worten: Die beiden einzigen Ausnahmen vom allgemeinen Gewaltverbot des Artikel 4 UNCh – Recht zur Selbstverteidigung, militärische Sanktionen der UN – greifen nicht. Da die UNCh zum Kernbestand der «allgemeinen Regeln des Völkerrechts » gehört, damit «Bestandteil des Bundesrechtes» ist, den «Gesetzen vor»geht und «Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes» erzeugt, verstoßen die Bundesregierung, die am 16. November 2001 dem Einsatz zustimmenden Parlamentarierinnen und Parlamentarier sowie die in Afghanistan kämpfenden KSK-Angehörigen gegen Recht und (Grund-)Gesetz. Und ein Verteidigungsminister, der den möglichen Einsatz deutscher Soldaten zur «Verteidigung» am Hindukusch ankündigt, kündigt Völkerrechts- und damit Verfassungsbruch an. Vonseiten der gewählten Volksvertreter ist kein Einspruch zu erwarten, hat sich das Parlament doch entmündigen lassen und duldet klaglos, dass das KSK in Afghanistan ohne jegliche parlamentarische Kontrolle kämpft.

Kriegs­be­tei­li­gung durch indirekte Unter­stüt­zung

Doch die Brisanz der Lage wird verfehlt, wenn sich die Kritik auf diesen Sachverhalt beschränkt. Nicht zu vergessen ist: Moderne Kriegführung ist ein hochgradig arbeitsteiliges Geschäft. Im Fall Afghanistan /«Enduring Freedom» waren und sind darin nicht nur die KSK-Kämpfer in Afghanistan selbst einbezogen, sondern auch die Marinesoldaten auf Kriegsschiffen vor dem Horn von Afrika, im östlichen Mittelmeer und auf der Marinebasis in Dschibuti, die ABC-Abwehrkräfte in Kuwait, die in Kommandozentralen in den USA abgeordneten Bundeswehrangehörigen sowie alle jene, die an der Heimatfront in die Logistik und Führung dieser gigantischen komplizierten Militärmaschinerie involviert sind. Kritik darf sich nicht beschränken auf jene, die direkt schießen, sondern muss auf diesen gesamten Apparat und die dahinter stehende Politik zielen. Selbst wenn das KSK nicht in Afghanistan wäre, müsste die deutsche Kriegsbeteiligung gleichermaßen verurteilt
werden.

Und selbst wenn deutsche Truppen am angekündigten Krieg gegen Irak nicht teilnehmen, so muss die indirekte deutsche Unterstützung der USA gleichermaßen verurteilt werden. Auch wenn nur Überflugrechte gewährt werden, nur US-Basen und Kommandozentralen auf deutschem Boden genutzt werden, nur deutsche Soldatinnen und Soldaten im NATO-Kontext zusätzliche Aufgaben übernehmen, um am Krieg gegen Irak beteiligte amerikanische Soldaten zu ersetzen, dann ist das gleichwohl Kriegsbeteiligung. Auch ein Staat, der einem Aggressor auf diese indirekte Weise hilft, bricht das Völkerrecht.

Im Kampf gegen den Krieg reicht das Vertrauen auf Völkerrecht und Grundgesetz allein nicht hin; darüber hinaus ist die Abschaffung der Mittel des Krieges anzustreben. Wenn es keine zur Interventionsfähigkeit umgerüstete Bundeswehr gäbe, gäbe es auch kein KSK, das man nach Afghanistan schicken kann, gäbe es mithin auch keine Möglichkeit zu entsprechendem Völkerrechtsund Verfassungsbruch. Wenn es keine US-Basen auf deutschem Boden gäbe, gäbe es auch keine Möglichkeit zur Beteiligung an einem völkerrechtswidrigen Krieg. Abrüstung ist also das (Verfassungs) Gebot der Stunde.

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