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Die UN-Kon­ven­tion zu den Rechten Behinderter – ein Prüfstein für Zwangs­maß­nahmen

Grundrechte-Report 2011, Seiten 83 – 88

Im Dezember 2006 hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen (UN) nach langer Vorarbeit die »Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung« verabschiedet. Im Dezember 2008 hat der Deutsche Bundestag diese Konvention ohne Vorbehalt ratifiziert. Seit 26. März 2009 sind die Regelungen der Konvention innerstaatliches deutsches Recht. Beim Vormundschaftsgerichtstag in November 2010 war die UN-Konvention ein Schwerpunkt der Diskussionen. Die Konvention stellt insgesamt eine große Herausforderung für die gesellschaftliche Praxis im Umgang mit Menschen mit Behinderung dar, wenn man die in der Konvention enthaltenen Normen und konkreten Rechte betrachtet. Eine besondere Herausforderung für das Betreuungsrecht und Fragen der Zwangsmaßnahmen enthält die in Artikel 12 enthaltene volle Rechts- und volle Handlungsfähigkeit (»legal capacity«), die allen Menschen mit Behinderung zuerkannt wird.

In keinem Fall ist ein Freiheits­entzug gerecht­fer­tigt

Bezüglich einer Freiheitsentziehung stellt die Konvention in Artikel 14 unmissverständlich fest, dass das Vorliegen einer Behinderung in keinem Fall eine Freiheitsentziehung rechtfertige. In der Denkschrift der Bundesregierung heißt es dazu, »ein Freiheitsentzug (ist) allein aufgrund des Vorliegens einer Behinderung in keinem Fall gerechtfertigt«. Die Konvention lässt aber eine Behinderung weder als Mitbedingung noch als Teilbegründung einer freiheitsentziehenden Maßnahme zu. Vielmehr verlangt Artikel 14 in Verbindung mit Artikel 12 u. a. ein finales Denken, also den Bezug auf das tatsächliche und nachweisliche Verhalten und seine Konsequenzen im individuellen Fall, statt einem kausalen Denken, bei dem die Gefährdung als Folge einer Erkrankung oder Behinderung gesehen und bewertet wird. Das wird nicht ohne Folgen im Betreuungs- und Unterbringungsrecht (BGB und Freiheitsentziehungsgesetze der Länder-PsychKGs) bleiben. Die Konvention betrifft unstreitig sowohl Menschen mit einer Behinderung im engeren Sinne als auch Psychisch Kranke.

Als Konsequenz für die Zwangsunterbringung ergibt sich: Das Betreuungsrecht in § 1906, BGB, Absatz 1, Satz 1 und die Psychisch-Kranken-Gesetze (PsychKGs) der Länder stehen insofern im Einklang mit der UN-Konvention, als hier eine Unterbringung ausschließlich final mit der tatsächlichen Selbst- oder Fremdgefährdung begründet wird, also nicht kausal auf die Behinderung oder Krankheit bezogen. Die darauf aufbauende Rechtspraxis ist aber genauer zu untersuchen und zu ändern. Unterbringungsbegründungen, wie beispielsweise eine Selbstgefährdung, die anders nicht abgewendet werden kann, oder der Verlust der Eigensorge, wären mit der UN-Konvention vereinbar. Gründe wie ausgeprägter Rückzug, Verfolgungszustände oder Gefahr der Chronifizierung (bei Ersterkrankung) wären nicht vereinbar. Die regionalen Unterschiede in der Anordnung der Zwangsunterbringungen (von 0,13 Unterbringungen auf 1000 Einwohner in Sachsen bis 0,96 Unterbringungen in Bayern) und die enorme Zunahme an Unterbringungsmaßnahmen nach Betreuungsrecht (§ 1906 BGB) deuten auf eine Rechtspraxis »im Zweifel für die Unterbringung« hin, die mit dem Geist der UN-Konvention nicht vereinbar ist. Während die
Zahl der Unterbringungen nach PsychKGs von 52000 in 1992 auf 58000 im Jahr 2002 angestiegen ist, ist die Zahl der Unterbringungsmaßnahmen nach Betreuungsrecht (§ 1906 BGB) im
gleichen Zeitraum von 40000 auf 107000 angestiegen.

Große regionale Unter­schiede in der Recht­s­praxis

Die Zwangsbehandlung der Anlasserkrankung (wie in den meisten Psych-KGs vorgesehen) und die Unterbringung zur Heilbehandlung (§ 1906 BGB, 1, 2), werden dagegen eindeutig mit einem für nicht authentisch gehaltenen oder krankhaft beeinflussten und deshalb nicht ernsthaft zu beachtenden Willen begründet. Ähnlich wie im Bereich der Zwangsunterbringung gibt es auch hier große regionale Unterschiede in der Rechtspraxis, die aufklärungsbedürftig sind. Es ist sicherlich nicht so einfach von der Hand zu weisen, wenn argumentiert wird, eine Zwangsbehandlung sei mit der Konvention vereinbar, weil andernfalls eine Kollision mit den Grundrechten auf Leben, Gesundheit oder körperliche Unversehrtheit eintrete. Das steht aber in augenfälligen Konflikt mit der Konventionsaussage der gleichen Rechtsfähigkeit aller Personen und der damit noch gewichtiger werdenden, ansonsten aber unstrittigen Position, dass eine Behandlung ohne Einwilligung eine Körperverletzung ist.

Die Konvention verwirft, dass Menschen zu ihrem eigenen Vorteil auch gegen ihren Willen behandelt werden müssen. Es gilt also vielmehr die Autonomieposition. Diese könnte zur Folge haben: Menschen dürfen nur freiwillig behandelt werden, auch weil dann eine Behandlung in der Regel wirksamer ist. Verweigern sie eine Behandlung, auch wenn der Grund dafür in einer psychischer Beeinträchtigung liegt, dürfen sie dennoch nicht zwangsweise behandelt werden. Die Rechtserheblichkeit
des Willens darf nicht auf Grund einer behinderungsbedingten oder krankheitsbedingten Beeinflussung des Willens in Frage gestellt werden.

Diese sicherlich mit der Haltung vieler psychiatriekritischer Kräfte übereinstimmende Position ist aber schwierig durchzuhalten und führt zu erheblichen Widersprüchen, wenn man  beispielsweise auf das Gebiet Suizid und freier Wille schaut.

Es kann als Konsens gelten, dass Suizidhandlungen, die frei verantwortlich (d. h. ohne fremde Beeinflussung, ohne psychische Beeinträchtigung und für Dritte nachvollziehbar) durchgeführt worden sind, die nachträgliche Rettungspflicht der Personen in Garantenstellung und die Hilfeverpflichtung anderer Personen einschränken. Auch umgekehrt kann als Konsens gelten, dass für Personen, die unter dem krankhaften Einfluss einer Depression eine Suizidhandlung begangen haben, diese Ausnahme nicht gilt und auf jeden Fall die Lebensrettungspflicht der Garanten und die Hilfeverpflichtung anderer Personen besteht. Der Wille des Betroffenen wird hier somit eindeutig vor dem Hintergrund gesund – krank bewertet.

Im Falle der Suizidprophylaxe, bzw. der Lebensrettungsverpflichtung
kommt es also nicht auf die finalen Folgen der Handlung an, sondern auf die jeweiligen kausalen Motive und Hintergründe des Willens und die Bewertung seiner Freiverantwortlichkeit bzw. krankhaften Beeinflussung. Eine rein finale Begründung würde zu ethisch nicht vertretbaren Handlungen führen, wenn es sich um lebensrettende Maßnahmen handelt.

Schlussfolgerungen

Die UN-Konvention wirft bezüglich der Zwangsmaßnahmen wichtige und schwierige Fragen auf. Ein »Weiter-so« ist aber nicht mehr möglich:

  • Es muss alles getan werden, um die Anwendung von Zwangsmaßnahmen einzuschränken, durch
  • die Reorganisation sozialpsychiatrischer Netzwerkarbeit in
    den Regionen,
  • den breiten Einsatz von Behandlungsvereinbarungen, wie sie
    u. a. von Psychiatriebetroffenen vertreten werden,
  • Programme zur Reduzierung von Fixierungen.
  • Es sollte eine bundesweit vergleichende Rechtstatsachenforschung durchgeführt werden.

Dabei sollte die Anordnungspraxis des Einwilligungsvorbehalts genauso untersucht werden wie die regionalen Unterschiede in der Anordnung der Zwangsunterbringungen und Zwangsbehandlungen.

Das Betreu­ungs­recht sollte weiter­ent­wi­ckelt werden

Als Konsequenz aus der UN-Konvention wäre nicht nur eine Änderung des Grundverständnisses der gesetzlichen Betreuung von einer Rechtsvertretung zu einer Rechtsunterstützung wünschenswert, sondern auch die Überprüfung, ob Zwangsmaßnahmen aus dem Betreuungsgesetz herausgenommen werden sollten. Dafür könnte sprechen, die Betreuer von hoheitlichen Aufgaben zu entbinden. Dagegen könnte sprechen, dass Betreuer auch in einer Assistenzfunktion zum Schutz ihrer Klienten in Zukunft immer mit diesem Bereich zu tun haben werden, insbesondere auch, wenn es um die Begrenzung solcher Maßnahmen geht. Wenn Zwangsmaßnahmen aber im Kompetenzbereich der gesetzlichen Betreuung beibehalten werden, werden sie in gewisser Weise immer ein Dilemma offenbaren. Ihre Rückbindung an ausschließlich finale Begründungen, wie es die Konvention fordert, kann im Falle von lebensrettenden Behandlungen
nicht durchgehalten werden, so dass es in diesem Bereich Ausnahmen geben muss, die wohl nur durch strenge Verfahrensvorschriften gesichert werden können.

Diese Schlussfolgerungen zeigen, dass die Diskussion nicht beendet ist, vielmehr durch die UN-Konvention ein Prozess des Hinterfragens und neuen Nachdenkens angestoßen wird. Ein »Weiter-so« kann es nicht geben.

Literatur

BT-Drs. 16/10808

Lachwitz, Klaus, UNO-Generalversammlung verabschiedet Konvention
zum Schutz der Rechte behinderter Menschen – Welchen
Einfluss hat dieses internationale Übereinkommen auf das deutsche
Recht? In: Rechtsdienst der Lebenshilfe 1/07 u. 2/07

Olzen, Dirk, Die Auswirkungen der UN-Konvention auf die Unterbringung und Zwangsbehandlung nach § 1906 BGB und §§ 10 ff.
PsychKK NRW, unter: www.dgppn.de/fileadmin/user_upload/_medien/download/pdf/Gutachten/gutachten-zur-behindertenrechtskonvention.pdf

Rohrmann, Eckhard, Macht-Hilfe-Gewalt – Öffentliche Gegenanhörung
zur Änderung des Betreuungsrechts, unter:
www.freedom-of-thought.de/gegenanhoerung/gegenanhoerung_vortrag.html

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