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Grundrechte mit Militä­r­vor­be­halt? Karlsruhe scheut vor neuer Wehrpflicht-Ent­schei­dung zurück

Hans-Ernst Böttcher

Grundrechte-Report 2003, S. 117-123

In ihrem Beitrag «Wehrpflicht ohne Wehrgerechtigkeit» schrieben Götz Frank und Ulrich Meyerholt im Grundrechte-Report 2001: «Die Wehrpflicht befindet sich in einer Phase intensiver gesellschaftlicher Diskussion.» Wäre es doch so! Ich kann dies weder für 2001 noch für 2003 so sehen. Ich halte die Diskussion, gemessen am Problem, eher für dürftig. Und das Eigenartigste dabei ist: Am allerwenigsten findet die sich aufdrängende verfassungsrechtliche Diskussion statt. Dabei gibt es kaum einen größeren Eingriff in die Grundrechte junger Männer als durch die Wehrpflicht. Wer von ihr erfasst wird, ob als Wehr- oder Zivildienstpflichtiger, wird vom Staat «in Pflicht genommen». Er kann sich Lebensgestaltung, Beruf und Wohnsitz nicht mehr aussuchen, weitere Grundrechte – so etwa die Meinungs- und die Petitionsfreiheit – sind eingeschränkt. Beim Wehrpflichtigen kommt hinzu: Er hat sich auf Befehl dafür bereit zu halten, zu töten und getötet zu werden. Die Verfügbarkeit geht also so weit, dass die Männer können zum Dienst in den Streitkräften verpflichtet werden höchsten Grundrechte, Leben und körperliche Unversehrtheit, zur Disposition stehen.

Der Wehrgesetzgeber der 50er Jahre hat nicht nur die Wehrpflicht einfachgesetzlich verankert, er hat sie auch in Art. 12a GG ins Grundgesetz aufgenommen: als gerechtfertigte Ausnahme zu der in Art. 12 GG gewährten Berufsfreiheit. Das mag auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges zu rechtfertigen gewesen sein, aber wie sieht es nach dem Fall der Mauer in Deutschland, der Demokratisierung in den ehemals kommunistischen osteuropäischen Staaten, der Implosion des Warschauer Paktes, dem Abzug fremder Truppen vom Gebiet der ehemaligen DDR und weitestgehend auch der Alt-Bundesrepublik sowie nach der weltweiten starken Abrüstung im Allgemeinen und in Europa und in Deutschland im Besonderen aus? Die Berechtigung der Fragen besteht, wie ich meine, auch nach dem 11. September 2001. Und die Antwort scheint mir nach wie vor klar: Der Eingriff steht außer Verhältnis.

Wer eine Diskussion unter den Größen der Staatsrechtslehre sucht, sucht vergeblich. Als ob die Grundrechte unter einem generellen «Militärvorbehalt» stünden, wird die Wehrpflicht nach wie vor für selbstverständlich gerechtfertigt angesehen.

Wo findet die Diskussion, wenn überhaupt, statt? Bei den Kriegsdienstverweigerern – kein Wunder, hängt doch die Zivildienstpflicht sozusagen am Tropf der Wehrpflicht, mit dem Wegfall der Wehrpflicht wird auch sie fallen; in weiter blickenden Militärkreisen – ebenfalls kein Wunder, ist doch unübersehbar, dass mit Fortschreiten der Spezialisierung und Technisierung der Armeen die Wehrpflichtigen mit ihrer kurzen Verweildauer im Grundwehrdienst und dem Missverhältnis zwischen Ausbildungs- und Verwendungszeit nicht mehr recht ins Bild passen; bei den Wohlfahrtsverbänden und den Sozialpolitikern – sie geben zu bedenken, dass mit dem Wegfall der Wehrpflicht ihnen die (billi gen und willigen) Zivildienstleistenden fehlen werden und dass womöglich Standards der Sozialversorgung in Gefahr geraten; schließlich bei den Finanzministern – in Zeiten knapper öffentlicher Kassen gelingt es ihnen noch immer am ehesten, politische Diskussionen anzustoßen.

In die verfassungsrechtliche und rechtspolitische Diskussion kommt häufig dadurch Bewegung, dass ein Gericht nach Art. 100 Abs. 1 GG ein Verfahren aussetzt, weil es ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig hält und deshalb die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einholt. So war es auch nach dem Vorlagebeschluss einer Strafkammer des Landgerichts Potsdam vom 19. März 1999 unter Vorsitz des Richters Braunsdorf.

Worum ging es? Ein «Totalverweigerer», aufgewachsen in der ehemaligen DDR und nunmehr zum Grundrechtsträger in der Bundesrepublik Deutschland geworden, stand wegen Zivildienstflucht in zweiter Instanz vor dem Berufsrichter als Vorsitzendem und zwei Schöffen des Landgerichts Potsdam. Im Sinne der oben angedeuteten Fragen nach der heutigen Verfassungsmäßigkeit der Wehrpflicht argumentierte das Landgericht Potsdam: Die Strafbarkeit der «Dienstflucht» nach § 53 des Zivildienstgesetzes (die der «Fahnenflucht» im militärischen Bereich nachgebildet ist) steht und fällt mit der Verfassungsmäßigkeit der Zivildienstpflicht, diese mit der Verfassungsmäßigkeit der Wehrpflicht. Wenn die Wehrpflicht nicht mehr gegeben ist, entfällt auch die gesetzliche Grundlage für die Strafbarkeit des Angeklagten. Dies nahm die Kammer an, weil sie unter den heutigen sicherheitspolitischen Gegebenheiten von der Verfassungswidrigkeit der Aufrechterhaltung der allgemeinen Wehrpflicht überzeugt war. Für das Verfassungsgericht sei es geboten, seine frühere grundsätzliche Billigung der Wehrpflicht zu revidieren.

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts entschied am 20. Februar 2002 einstimmig: «Die Vorlage ist unzulässig.» Die Verfassungsrichterinnen und -richter waren also gar nicht in die Sachprüfung eingetreten. Die Frankfurter Rundschau mit ihrer Überschrift auf der Dokumentationsseite «Karlsruhe sieht die Wehrpflicht im Einklang mit dem Grundgesetz» verkannte das zunächst, richtig sah es Reinhard Müller in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zumindest im Untertitel seines Namensartikels: «Das Bundesverfassungsgericht hat keine Entscheidung über die Wehrpflicht gefällt», ebenso die Süddeutsche Zeitung mit der Überschrift: «Die Wehrpflicht-Debatte ist damit nicht zu Ende» und dem Zitat des Wehrbeauftragten Penner: «Karlsruhe hat den Ball nur ins Feld der Politik zurückgespielt.»

So ist es: Mit dem Verwerfungsbeschluss liegt keine authentische und verbindliche Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungsmäßigkeit der Wehrpflicht nach dem Stand des Jahres 2002 vor.

Zunächst muss, auch vorbeugend gegen voreilige politische Kritik an den Richterinnen und Richtern, betont werden, dass beide Senate des Bundesverfassungsgerichts in ständiger Rechtsprechung die Hürden für die Zulässigkeit eines Vorlagebeschlusses nach Art. 100 Abs. 1 GG enorm hoch ausgestalten. Deswegen steht außer Frage, dass der Zweite Senat hier so entscheiden konnte, und zwar nach allen Regeln der Kunst.

Und doch: Abgesehen von evident unzureichend begründeten Richtervorlagen gibt es eine Grenzzone, in der jeder Entscheidung über die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit einer Richtervorlage ein wertendes Element innewohnt. Woran haben sich die «Acht Weisen» gestoßen? Sie argumentieren: Da der Angeklagte des Potsdamer Verfahrens schon 1993 zum Zivildienst eingezogen worden sei und diesen bis 1994 geleistet habe, hätte das Gericht näher darlegen müssen, dass und warum schon zu diesem Zeitpunkt – im Gegensatz zu früheren Perioden, in denen das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsmäßigkeit der Wehrpflicht anstandslos angenommen hat – die Strafnorm der Zivildienstflucht und die Zivildienst- und Wehrpflicht insgesamt verfassungswidrig gewesen seien. Weiter: Wie immer, wenn das Bundesverfassungsgericht bereits früher ein Problem ventiliert und die Verfassungsmäßigkeit einer Norm bejaht habe, müsse besonders klar, in Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des Gerichts und den aktuellen Meinungen in der Wissenschaft, herausgearbeitet werden, warum von den tatsächlichen Gegebenheiten her und in rechtlicher Hinsicht für das Gericht Anlass bestehe, erneut in eine verfassungsrechtliche Prüfung der Frage einzutreten. Dies gelte hier insbesondere für die vom Landgericht Potsdam bejahte Frage, ob die allgemeine Wehrpflicht an dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu messen sei. Hierzu habe das Verfassungsgericht nämlich schon früher festgestellt, dass die allgemeine Wehrpflicht «verfassungsrechtlich verankert und diese Pflicht daher nicht an dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu messen»
sei.

All diese Gründe entsprechen gefestigter Doktrin des Bundesverfassungsgerichts, wenn es darum geht festzustellen, ob eine Vorlage die Hürde der Zulässigkeit überschreitet. Andererseits haben beide Senate des Bundesverfassungsgerichts bisher immer noch einen Weg gefunden, die Zulässigkeit anzunehmen, wenn sie an eine Frage «ran wollten».

Meine These ist: Die acht Richterinnen und Richter des Zweiten Senats haben es an Problembewusstsein, an verfassungsrichterlicher Sensibilität fehlen lassen. Es mag in anderen Fällen eine «Frage politischer Klugheit» (so die Überschrift des schon zitierten Artikels in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung) sein, im Sinne eines judicial self restraint «den Ball ins Feld der Politik zurückzuspielen ». Wenn aber, wie hier, eine genuin verfassungs rechtliche Frage in der öffentlichen Auseinandersetzung in aller Regel unter Ausklammerung eben dieses Kerns debattiert wird, und wenn weiterhin ein Gericht mit einigermaßen tragfähiger Begründung die Verfassungsfrage vorlegt, dann sollte das Gericht sich nicht entziehen. Es ist nämlich wieder einmal der Punkt erreicht, dass eine Verfassungsfrage Spielball der politischen Beliebigkeit
ist.

Oder ist die Entscheidung noch schlimmer? Darauf deuten Überlegungen am Schluss der Entscheidung, die zwar, wie alles, (nur) im Kontext der Erwägungen stehen, mit denen die Verfassungsrichter dem vorliegenden Gericht die angeblich mangelnde Substanz seiner Begründung um die Ohren schlagen, die aber doch einen Unterton haben, als stehe die Prüfung von Verfassungsverstößen im Rahmen des Rechts der gesetzlichen Wehrpflicht und der Folgeregelungen bis hin zur Dienstflucht bei Zivildienstleistenden unter einem generellen «Militärvorbehalt». Beim Bundesverfassungsgericht klingt das so: «. . . obliegt es nach der gewaltenteilenden Verfassungsordnung des Grundgesetzes zunächst dem Gesetzgeber und den für das Verteidigungswesen zuständigen Organen des Bundes, diejenigen Maßnahmen zu beschließen, die zur Konkretisierung des Verfassungsgrundsatzes der militärischen Landesverteidigung erforderlich sind. Welche Regelungen und Anordnungen notwendig erscheinen, um gemäß der Verfassung und im Rahmen bestehender Bündnisverpflichtungen eine funktionstüchtige Verteidigung zu gewährleisten, haben diese Organe nach weitgehend politischen Erwägungen in eigener Verantwortung zu entscheiden.» Sollte das Bundesverfassungsgericht hier einen generellen «Militärvorbehalt» formuliert haben, dann allerdings wären wir in vorkonstitutionelle Zeiten
zurückgekehrt.

P. S.: Es gab im Jahr 2002 noch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Wehrpflicht, nämlich die der 4. Kammer des Zweiten Senats vom 27. März 2002. Hier ging es um einen Vorlagebeschluss des Amtsgerichts Düsseldorf, das sich zum einen argumentativ quasi an das Landgericht Potsdam «angehängt» hatte und zum anderen den Gleichheitssatz durch die nur für Männer geltende Wehrpflicht verletzt sah. Auch diese Vorlage wurde für unzulässig angesehen. Hier will ich das Verfassungsgericht weniger tadeln. Der Gleichheitssatz gebietet es keineswegs, ein für die Angehörigen eines Geschlechtes nicht (mehr) zu rechtfertigendes Übel nun auch noch auf das andere Geschlecht zu übertragen.

Literatur:

BVerfG, Beschluss vom 20. Februar 2002–2 BvL 5/ 99 –, in: Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE) Band 105, S. 61ff.
Hans-Ernst Böttcher, Weg von den staatlichen Zwangsdiensten – Hin zu freiwilligen gesellschaftlichen Diensten, in: Zeitschrift für Rechtspolitik, 1998, S. 399ff.
Bundesverfassungsgericht, 4. Kammer des Zweiten Senats, Beschluss vom 27. März 2002
– 2 BvL 2 / 02 –, in: Neue Juristische Wochenschrift, 2002, S. 1709f.

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