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Geld macht fettsüchtig

30. August 2020
Das Verhältnis zu Gott: Ans Zahlen gebunden
von Christa Nickels, aus: Die Zeit vom 26. 9. 1990

Als am 9. November letzten Jahres die Mauer fiel, da waren wir alle voller Freude und Staunen. Mit der Mauer fiel die Manifestation von Unterdrückung, Unfreiheit, von Block- und Lagermentalität, fiel ein Symbol des Kalten Krieges. Das hatten nicht Armeen oder mächtige Apparate erreicht. Das war das Werk Tausender Menschen, die lange Zeit genau hingesehen hatten, klar aussprachen was sie sahen, und den Lügen entgegentraten, die höchstpersönlich aufgestanden sind und auf den Straßen demonstrierten. Die dort, wo sie nichts sagen durften, eine Kerze anzündeten. Gewaltlosigkeit hat über steingewordene Gewalt gesiegt! Die DDR-Kirchen, viel ärmer als unsere, boten diesen Leuten Schutz und Asyl. Sie öffneten ihnen die Kirchentüren und gingen zusammen mit ihnen auf die Straßen. Sie wurden zum Ausgangspunkt für die großen Demonstrationen. Die Kirchen waren das, was sie sein sollen – Beistand für Menschen, Begleitung für Menschen auf dem von ihnen selbst gestalteten Weg zu Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Die Menschen selbst – das „Salz der Erde”, das „Licht der Welt” -„Steine des Anstoßes“!

Heute, ein Jahr später, ist der Aufbruch der DDR unter das Diktat einer rasenden Zeitmaschine und unter die Fuchtel der Ökonomie geraten. Viele Menschen sind arbeitslos, noch weit mehr werden ihren Arbeitsplatz verlieren, die Lebenshaltungskosten steigen, die traditionelle Lebens- und Arbeitsweise zerfällt den Menschen unter den Händen. Und durch alles zieht sich wie eine schleichende Krankheit die Frage, was der eigene Anteil daran war, daß dieses Unrechtsregime so lange mächtig bleiben konnte. Zukunftsangst, Sinnfragen und die Suche nach Mitgestaltungsmöglichkeiten treiben die Menschen um. Da ist das Engagement der Kirchen ebenso brotnötig wie in vorrevolutionären Zeiten.

Aber wieso ist der erste Akt im deutsch-deutschen Amtskirchenkonzert die Einführung des Kirchensteuersystems auch in der DDR? Weil die notwendige Unabhängigkeit der Kirchen und die Fülle der Aufgaben das erforderlich und ratsam erscheinen lassen, so lautet die Antwort. Was das mit Unabhängigkeit zu tun hat, wenn Kirchen sich mit staatlichen Bürokratien verbünden, ist mir ein Rätsel. Unser Kirchensteuersystem bedeutet: Die Kirchensteuer wird prozentual von der Lohn- und Einkommensteuer erhoben. Damit macht diese Haupteinnahmequelle die Kirchen (in der Bundesrepublik bringt sie den Kirchen 1990 immerhin vierzehn Milliarden Mark ein) abhängig von der staatlichen Lohn- und Steuerpolitik wie auch vom Wirtschaftswachstum. Der Einzug der Steuer wird von den Bundesländern über die Finanzämter betrieben, bei Zahlungsunwilligen bis hin zur Pfändung. ArbeitnehmerInnen sind gezwungen, auf der Lohnsteuerkarte den Arbeitgeber über ihre Konfessionszugehörigkeit zu informieren. Die Arbeitgeber wiederum müssen die Buchhaltungskosten für den Kirchensteuereinbehalt mitübernehmen, selbst wenn sie nicht mit den Zielen der Kirchen übereinstimmen.

Ist das etwa noch vereinbar mit der in Artikel 4 Grundgesetz normierten Glaubens- und Gewissensfreiheit? Eine besonders pikante Frage in bezug auf die DDR, wo nur etwa dreißig Prozent der Bevölkerung sich zu den beiden großen christlichen Konfessionen bekennen. Kirchen, die sich wirtschaftlich so an den Staat binden, sind im Konfliktfall potentiell erpreßbar mit der Drohung, daß der Geldhahn zugedreht wird. Das ist ein großes Hindernis für die Kirchen, ihre Glaubwürdigkeit und kritische Distanz zur Gesellschaft zu wahren. So hängt das politische Stillhalten der Kirche in den frühen Jahren der Hitlerdiktatur sicher auch mit den engen Bindungen an den Staat zusammen. Das Kirchensteuersystem begünstigt auch eine Verselbständigung der innerkirchlichen Bürokratie. Es begünstigt die Machtkonzentration auf höheren Leitungsebenen, die bei den Katholiken ausschließlich Männern vorbehalten sind, und macht Pfarreien und kirchliche Einrichtungen von diesen Männern und ihren Verwaltungsapparaten abhängig. Diese Abhängigkeit wird in der Bundesrepublik seit Jahr und Tag schamlos zur Disziplinierung aufmüpfiger Laiengremien oder „abweichlerisch“ lebender oder redender Gläubiger ausgenutzt.

Die Beispiele finanziellen Drucks von oben füllen ganze Ordner. Gläubigen, die diese durch „Geldfettsucht“ ausgelösten Fehlentwicklungen ihrer Kirche nicht mehr mit ihren Kirchensteuern fördern wollen, bleibt nur der Weg des Kirchenaustritts vor dem Amtsgericht oder Standesamt, ein Schritt, der in den Bistümern Köln und Trier automatisch die Exkommunikation nach sich zieht. Das Verhältnis zu Gott ist für die Mitglieder der christlichen Großkirchen in der Bundesrepublik Deutschland ans Zahlen gebunden. Unsere Kirchenoberen pflegen bei Kritik gerne auf die segensreichen Früchte der Kirchensteuer im Sozial- und Bildungswesen hinzuweisen. Aber leider ist auch das nur ein frommes Bischofsmärchen. Tatsächlich gibt die katholische Kirche gerade mal sieben Prozent, die evangelische Kirche neun Prozent der Einnahmen für soziale Zwecke wieder aus. Zwar haben die großen christlichen Kirchen auf dem sozialen Sektor mittlerweile als zweitgrößte Arbeitgeberin in der Bundesrepublik Deutschland – mit mehr als 500000 Beschäftigten – eine Monopolstellung. Ihre finanzielle Beteiligung liegt aber nur bei etwa dreizehn Prozent der anfallenden Kosten. Den Rest tragen die Länder, Kommunen, Krankenkassen oder Privatpersonen.

Für diesen Beitrag üben sie gehörigen Druck auf die Belegschaften aus. Die Kirche ist keine Arbeitgeberin wie jede andere. Entgegen den Forderungen der katholischen Soziallehre schränkt sie die MitarbeiterInnenrechte ein. So muß bei Ehescheidung oder Heirat eines geschiedenen Partners, bei Kirchenaustritt und Stellungnahmen gegen die kirchliche Lehrmeinung mit Kündigung oder Nichteinstellung gerechnet werden. In manchen Gegenden Deutschlands kommt das für Betroffene aus bestimmten Berufen – zum Beispiel für ErzieherInnen – einem Berufsverbot gleich. Häufig nutzen die Kirchen ihre Monopolstellung auch dazu, Konkurrenz im Sozialbereich aus den sozialen Bewegungen mit unfeinen Methoden wegzubeißen. Diese Praktiken stehen meiner Meinung nach nicht in Übereinstimmung mit Artikel 3 Absatz 3 Grundgesetz, der besagt, daß niemand wegen seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Weltanschauung benachteiligt werden darf. Wie kommt es, daß bei uns die meisten Gläubigen trotzdem ihre Kirchensteuer einziehen lassen? Mir scheint, daß so ein Verhalten sich aus dem Gefühl speist, mit der Zahlung der Kirchensteuer, in so eine Art „Liebe-Gott-Versicherung” einzuzahlen. Damit erkaufen wir uns einmal den sakralen Rahmen für wichtige Lebensabschnitte.

Zum anderen erwarten wir, daß die Versicherungsagentin Kirche uns bei Eintritt eines „Schadensfalles” wie einer schweren Krankheit oder dem Tod sicher „ans rettende Ufer” geleitet. Durch das Kirchensteuerzahlen „entlasten” sich viele auch davon, sich persönlich von der frohen Botschaft des Evangeliums anrühren zu lassen. Durch die Entrichtung des Obulus fühlen sie sich davon befreit, selbst parteilich zu sein für Arme, Verachtete und an den Rand Gedrängte. Die Kirchenoberen wissen das und tun wenig, um es zu ändern, sichert es doch ihre Machtfülle.

Die Einladung des Evangeliums an alle Menschen, die Geborgenheit des eigenen Lebens aus der Nachfolge Jesu zu schöpfen, halten die Kirchenoberen offensichtlich für eine uneinlösbare Zumutung an ihre Schäfchen. Sie trauen den Menschen nichts zu. Sie scheinen nicht an die starke soziale Kraft von Freiwilligkeit zu glauben und erst recht nicht daran, daß Christinnen und Christen sich für eine Kirche, die sich als pilgerndes Volk Gottes auf dem Wege versteht, tatkräftig und freiwillig mit Kopf, Herz, Hand und auch mit ihrem Geldbeutel einsetzen. So können und so wollen die Kirchen nicht begreifen, daß sie mit der Einführung der Kirchensteuer in der DDR den Anteil der Kirchen an der friedlichen Revolution in der DDR verleugnen, die ja auch ein Stück weit von der Kraft widerständig und eigenverantwortlich gelebten Glaubens getragen worden ist.

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