Erste Erfahrungen mit der Hauptverhandlungshaft
Stefan Soost
Grundrechte-Report 1998, S. 262-266
Der Deutsche Bundestag hat durch Gesetz vom 17. 07. 1997 (BGBl. Teil I, S. 1822) die Sicherung der Hauptverhandlung im beschleunigten Verfahren als neuen Haftgrund und ein dazugehöriges vorläufiges Festnahmerecht in die Strafprozeßordnung (StPO) eingefügt. Der Gesetzentwurf wurde im Bundestag mit der Mehrheit von CDU/CSU und FDP verabschiedet, nachdem zuvor der Bundesrat mit den Stimmen der SPD-regierten Länder den Vermittlungsausschuß angerufen hatte. Damit hat die Regierungskoalition einen weiteren Schritt in Richtung eines „starken Staates“ getan, der versucht, im Bereich der sogenannten „Inneren Sicherheit“ durch Einschränkung von Grund- und Schutzrechten der Betroffenen Stärke zu signalisieren.
Auf frischer Tat ertappte Straftäter können nunmehr gemäß dem neuen § 127 b StPO für maximal eine Woche in Haft genommen werden, wenn in dieser Zeit die Durchführung der Hauptverhandlung des Strafprozesses gegen sie zu erwarten ist. Voraussetzung ist, daß eine Entscheidung im beschleunigten Strafverfahren gemäß § § 417ff. StPO wahrscheinlich und auf Grund bestimmter Tatsachen zu befürchten ist, daß der Festgenommene der Hauptverhandlung fernbleiben wird. Im beschleunigten Verfahren kann das Strafgericht auf Antrag der Staatsanwaltschaft, wenn die Sache auf Grund des einfachen Sachverhalts oder der klaren Beweislage zur sofortigen Verhandlung geeignet ist, gegen den Beschuldigten eine Haftstrafe bis zu einem Jahr und die Entziehung der Fahrerlaubnis anordnen, ohne daß dem Beschuldigten die vollen strafprozessualen Schutzrechte zustehen. So ist es beispielsweise zulässig, daß die Anklage nur mündlich erhoben wird, dem Beschuldigten lediglich eine verkürzte Ladungsfrist zusteht und der Amtsermittlungsgrundsatz nicht in vollem Umfang gilt (vgl. Meertens, Grundrechte-Report 1997, S. 200). Zielgruppe dieses besonderen Verfahrens sind vor allem sogenannte „reisende Straftäter“, „gewalttätige Demonstranten“, Obdachlose und Ausländer ohne festen Wohnsitz im Bundesgebiet.
Gegen die Hauptverhandlungshaft sind schwerwiegende Bedenken erhoben worden. Insbesondere verletzt die Hauptverhandlungshaft das Prinzip der Unschuldsvermutung, nach dem der Beschuldigte bis zu seiner Verurteilung von der Staatsgewalt als unschuldig anzusehen ist, da mit der Einführung der Hauptverhandlungshaft laut Gesetzentwurf auch eine abschreckende und erzieherische Wirkung beabsichtigt ist (vgl. die Begründung in der BT-Drucksache 13/2576, S. 3). In der Regel handelt es sich bei den für dieses Verfahren in Frage kommenden Straftaten um Fälle aus dem Bereich der Bagatelldelikte und der Massenkriminalität, die überwiegend mit Geldstrafe geahndet werden. Insofern steht die Hauptverhandlungshaft, auch wenn deren maximale Dauer nur eine Woche beträgt, regelmäßig außer Verhältnis zu der zu erwartenden Strafe, so daß das durch die Verfassung geschützte Prinzip der Verhältnismäßigkeit nicht hinreichend beachtet ist. Weiterhin liegt die Vermutung nahe, daß ein faires Verfahren durch die eingeschränkten Verteidigungsmöglichkeiten nicht gewährleistet ist. Selbst wenn es dem Beschuldigten gelingt, innerhalb der kurzen Frist bis zur Hauptverhandlung aus der Haft heraus einen Verteidiger einzuschalten, ist es fraglich, ob dieser sich ausreichend auf die Verteidigung vorbereiten kann (vgl. Asbrock, Strafverteidiger 1/1997, S. 43 f.). Bisher ist die Hauptverhandlungshaft eher zögernd angewendet worden, so daß es für eine breite empirische Untersuchung noch an dem nötigen Fallmaterial fehlt. Die bei Einführung der Regelung befürchteten Gefahren lassen sich aber schon heute anhand von Beispielen aus der Praxis exemplarisch darstellen.
Das Amtsgericht Suhl verurteilte am 2. September 1997 sieben junge Leute zwischen 21 und 27 Jahren, die aus Protest gegen den Bau der Thüringer-Wald-Autobahn drei Kräne auf einer Baustelle bei Suhl besetzt hatten, im beschleunigten Verfahren zu Bewährungsstrafen und Geldstrafen bis zu 1350 Mark. Zuvor mußten die „Waldpiraten“ eine Woche Hauptverhandlungshaft erdulden, bis sie dann in Handschellen dem Gericht vorgeführt wurden. Eine Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen bezeichnete den Vorgang als skandalös, weil es das erste Schnellverfahren mit einem politischen Zusammenhang in Thüringen gewesen sei, während bei den zahllosen Straftaten mit rechtsextremistischem Hintergrund dieses Instrument bisher nicht genutzt wurde (vgl. Frankfurter Rundschau vom 5. 9. 1997, S. 1; Thüringer Allgemeine vom 1. 9. 1997). Diese Umstände deuten darauf hin, daß nicht nur die mit der Hauptverhandlungshaft bezweckte Sicherung der Hauptverhandlung erreicht, sondern daß hier ein Exempel gegen mißliebige Demonstranten statuiert werden sollte. Dabei hat das Bundesverfassungsgericht festgesetzt, daß es die Unschuldsvermutung verbietet, im konkreten Strafverfahren ohne gesetzlichen Schuldnachweis, also eine Verurteilung, Maßnahmen gegen den Beschuldigten zu verhängen, die in ihrer Wirkung einer Strafe gleichkommen (BVerfGE Bd. 74, S. 358, 371).
In Bremen wurde am 5. Oktober 1997 ein Mann vor dem Amtsgericht wegen Aufbruch eines Autos zu sechs Monaten Haft ohne Bewährung im beschleunigten Verfahren verurteilt. Schon im Sommer desselben Jahres war er wegen desselben Delikts rechtskräftig verurteilt worden. Der Skandal des neuen Urteils liegt darin, daß dem Angeklagten kein Verteidiger bestellt wurde, obwohl dies vom Gesetz vorgeschrieben ist, sobald eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten zu erwarten ist. Da der Angeklagte auf Rechtsmittel verzichtete, wurde das Urteil sofort rechtskräftig (vgl. die tageszeitung Bremen vom 30. 10. 1997). Hier zeigt sich, daß die Behauptung, Fehler im beschleunigten Verfahren könnten in der Berufungsverhandlung korrigiert werden, an der Realität vorbeigeht. Praktisch finden fast alle beschleunigten Verfahren ohne Verteidiger statt, und die Angeklagten verzichten regelmäßig auf die Einlegung von Rechtsmitteln, ohne sich noch einmal anwaltlich beraten zu lassen.
In Ingolstadt sollte dem einundzwanzigjährigen Behindertenbetreuer Hans-Georg E. am 3. November 1997 ein kurzer Prozeß gemacht werden, nachdem er am Tag zuvor nach einer antifaschistischen Demonstration gegen ein Neonazi-Treffen im bayerischen Kösching von der Polizei in Haft genommen worden war. Ihm wurden schwerer Landfriedensbruch und schwere Körperverletzung vorgeworfen. Als sein Anwalt wider Erwarten zur kurzfristig angesetzten Hauptverhandlung erschien, blies die Staatsanwaltschaft den Schnellprozeß wieder ab. Die Hauptverhandlungshaft wurde in diesem Fall verhängt, obwohl der Beschuldigte in München über einen festen Wohnsitz und einen Arbeitsplatz verfügt (vgl. Junge Welt vom 5. 11. 1997, S. 4). Daher ist nicht erkennbar, aufgrund welcher Tatsachen die Prognose getroffen wurde, daß der Festgenommene der Hauptverhandlung fernbleiben wird. Damit wurde dem Angeklagten ein faires Verfahren unter Hinzuziehung seines Answalts beinahe versagt.
Die angeführten Beispielfälle sind nicht geeignet, die grundsätzlichen Bedenken gegen die Hauptverhandlungshaft zu entkräften. Vielmehr ist zu befürchten, daß die bisher nur an Einzelbeispielen sichtbar gewordenen Gefahren sich bei eingehenden Untersuchungen in größerem Umfang bestätigen werden. Es steht zu erwarten, daß das für jeden Angeklagten vorgesehene Recht, sich im Strafverfahren eines Verteidigers bedienen zu können, um sich vor Gericht ausreichend rechtlich Gehör zu verschaffen, durch das mit der Hauptverhandlungshaft gesicherte Schnellverfahren ad absurdum geführt wird. Die bisher noch geringe Anzahl beschleunigter Verfahren, die mit der Anordnung von Hauptverhandlungshaft einhergehen, kann da nicht beruhigen, denn zur Zeit werden in allen Bundesländern Pilotprojekte ausgewertet und Sonderdezernate eingerichtet, um den Anteil der Schnellverfahren zu steigern. Gerade im Wahlkampfjahr 1998 werden die zuständigen Ministerien nichts unversucht lassen, um Erfolge bei der Kriminalitätsbekämpfung vorzuweisen, auch wenn dabei ein Stück Rechtsstaat verlorengeht.