Was Kirche ist, bestimmt der Staat
Udo Kauß
Grundrechte-Report 1998, S. 70-76
Unsere Verfassung schützt die Religions- und Weltanschauungsfreiheit, gleich welche Inhalte davon umschlossen sind. Schranken können nur allgemeine, nicht auf die Beschränkung der Religionsausübung gerichtete Gesetze aufrichten. Dagegen findet sich im „Kleingedruckten“ zur Verfassung eine erkleckliche Zahl von Sonderbestimmungen, die im Mantel allgemeiner Gesetze insbesondere den beiden großen christlichen Kirchen ganz erhebliche Privilegien verschaffen. Hierzu gehört das Recht, sich in der Form einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft zu organisieren. Dies hat unter anderem den Effekt, daß die beiden großen Kirchen ihre Mitgliedsbeiträge bar jeder vertraglichen Vereinbarung in der Form einer Steuer von ihren Mitgliedern „erheben“ und per Zwang durch den Staat (Finanzämter) eintreiben. Mit dem Status einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft sind ferner verbunden zahlreiche Vergünstigungen für die Kirche, das sogenannte Privilegienbündel: Befreiung von Steuern, Kosten, Gebühren; Recht zur Teilnahme an staatlichen Planungsverfahren, Mitwirkung in öffentlich-rechtlichen Gremien wie den Rundfunkräten; Anerkennung als Träger freier Jugendhilfe; Missionierungsrecht in öffentlichen Anstalten wie Bundeswehr, Krankenhäusern, Strafanstalten, auch an Schulen etc. (vgl. Art. 140 GG i. V. m. Art. 136ff. der Weimarer Reichsverfassung).
Wer hier seinen Mitgliedern auferlegt, von dem grundgesetzlich selbstverständlichen Recht, nicht an den politischen Wahlen teilnehmen zu müssen, Gebrauch zu machen, und damit – in allerdings keineswegs zwingender Interpretation des Gebots der „christlichen Neutralität“ – eben nur „Neutralität“, nur Distanz, keinesfalls Gegnerschaft demonstriert, soll nicht in den Genuß des Status einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft kommen. So wurde den Zeugen Jehovas, nachdem ihnen zunächst vor den Verwaltungsgerichten der Status einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft im Land Berlin zuerkannt worden war, vom Bundesverwaltungsgericht die Verleihung dieses Status mit ebendieser Begründung verweigert.
Die beiden großen Kirchen brauchen sich um ihre Finanzierung insbesondere durch Steuerfreiheit keine Sorgen zu machen, da sie den größten Teil ihrer Einnahmen vorab über die Kirchensteuern erlangen. Alle anderen Glaubensgemeinden müssen zusätzlich noch darum kämpfen, ob ihr religiöses Anliegen vor den Schranken der Steuerbehörden und Gerichte als kirchliches auch akzeptiert wird und nicht, wie etwa im Fall der Scientology-Organisation, nur als Vorwand für eine in Wirklichkeit auf Einkommenserzielung gerichtete gewerbliche Tätigkeit angesehen wird. Solche Bevorzugung durch staatliche Geldbeitreibung ist beispielsweise in den USA fremd: Dort müssen alle sich als Religionsgemeinschaften verstehenden Gruppen sich um ihre Anerkennung als Kirchen mühen.
In Deutschland gründete die Verleihung des öffentlich-rechtlichen Status an die großen christlichen Konfessionen in der Weimarer Republik, als diese Religionen einen Anteil von 95 Prozent an der Bevölkerung repräsentierten. Aufgrund der laufenden Verringerung des Anteils der Mitglieder der beiden großen christlichen Bekenntnisse an der Gesamtbevölkerung (1994: 68 Prozent) ist deren Privilegierung und die gleichzeitige systematische Benachteiligung anderer Religionsgruppen heute verfassungsrechtlich nicht mehr haltbar. So gut es nachvollziehbar ist, der Vielzahl exotischer bis obskurer, zum Teil gefährliche Abhängigkeiten produzierender religiöser Gruppen, Sekten und Kulte den Status öffentlich-rechtlicher Körperschaften nicht verleihen zu wollen, kann die Lösung nicht in der selektiven staatlich-institutionellen Bevorzugung liegen, sondern nur in der Abschaffung dieses Status für Glaubensgemeinschaften.
Staatliche Definitionsmacht: Wer darf Kirche sein?
An die Bewertung als Kirche bzw. als Weltanschauungsgemeinschaft knüpfen zahlreiche weitere Rechte an, die der Bekenntnisfreiheit geschuldet sind und daher nicht als Privilegien im vorgenannten Sinn betrachtet werden können. So gelten für hauptamtliche Geistliche nicht die Schutzbestimmungen der Arbeitsgesetze. Auch sind diese Geistlichen von der Wehrpflicht befreit. Sonstige Mitarbeiter genießen eine durch den sogenannten Tendenzschutz beschränkte Anwendung der Kündigungsschutzgesetze. Kirchen haben freie Hand bei der Entlohnung ihrer hauptamtlichen Mitarbeiter.
In diesem Zusammenhang hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) in einem 1995 entschiedenen Rechtsstreit, in dem ein früher hauptamtlicher und geistlicher Mitarbeiter der Scientology-Organisation rückwirkend nicht vereinbarte Gehaltsansprüche geltend gemacht hat, der Organisation die Berufung auf die Eigenschaft als Kirche bzw. Weltanschauungseigenschaft verweigert. Damit hat das Gericht den Weg eröffnet, weitere Gehaltsansprüche unter Anwendung der allgemeinen arbeitsrechtlichen Vorschriften vor den Arbeitsgerichten geltend zu machen. Das BAG hat seine Entscheidung damit begründet, daß die Scientology-Organisation ihr religiöses Gewand nur als Vorwand gebrauche, um ungehindert von Arbeitnehmerschutzrechten allein auf Gewinnerzielung gerichtete Erwerbstätigkeit zu betreiben. Mit dieser Entscheidung, eine Fundgrube für scientologische Quellentexte, hat sich das BAG letztlich zum Definitionsherrn darüber gemacht, was zulässig und damit geschützte Religionsausübung ist und was nicht. In Art. 4 GG kann solche Rechtsprechung keine Stütze finden, denn der grundrechtliche Schutz beschränkt sich nicht auf „Kirchen“ im engeren Sinne, sondern auf Weltanschauungen, auf Gewissensartikulation schlechthin. Der Art. 4 GG gewährt einen staatsfreien Raum, in dem es dem Staat schlechthin verboten sein muß, die Ernsthaftigkeit des Bekenntnisses zu überprüfen.
Diesen gefährlichen, weil inquisitorischen Irrweg des BAG hat das Bundesverwaltungsgericht in seiner Entscheidung vom 6. November 1997, soweit die mündliche Begründung hoffen läßt, nicht fortgesetzt. In dem Rechtsstreit, in dem es um die Frage der Anerkennung der Scientology-Organisation als ideeller Verein, sprich die Steuerfreiheit gegangen ist, hat das Gericht eine akzeptable Lösung in der positiven Bestimmung rein erwerbswirtschaftlicher Tätigkeit vorgegeben. Der verbleibende Rest religiös geprägter Tätigkeit fiele weiter unter den Schutz des Art. 4 GG.
Sekten und Psycho-Gruppen: die neue Gefahr?
Mit dem Begriff „Sekten“ sind Gruppen gemeint, die als Minderheiten betrachtet werden, also diejenigen, die das nicht erreicht haben, was herrschende Gruppierungen erreicht haben. Damit ist zugleich ein Konkurrenzverhältnis beschrieben. Gerade in diesem Sinne hat der Zwischenbericht der Enquête-Kommission des deutschen Bundestages „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“ deren Aufgabenfeld umrissen. Zu Sekten und Psychogruppen zählen alle Gruppen, die nicht zu den evangelischen Landeskirchen oder zu der römisch-katholischen Kirche, zu sogenannten freikirchlichen Gemeinschaften oder der orthodoxen Kirche sowie den jüdischen Gemeinden zählen (BT-Drucks. 13/8170 v. 7. 7. 1997, S. 44). Damit ist die kritische Grenze bezeichnet: Gruppierungen jenseits dieser Grenze finden sich somit höchst offiziell dem Bereich der Sekten und Psychogruppen zugeordnet. Als solchermaßen definierter Beobachtungsgegenstand sehen sie sich einem parlamentarisch legitimierten Pauschalverdacht ausgesetzt. Hier geht es keinesfalls um vernächlässigbare Größenordnungen, bei etwa immerhin weit über 100000 Baptisten oder 430000 Mitgliedern der Neuapostolischen Kirche in Deutschland. Dieser diskriminierende Effekt ist von der Enquête-Kommission bewußt in Kauf genommen worden. Warnende Stimmen innerhalb der Kommission konnten sich nur über ein Sondervotum zum Zwischenbericht Gehör verschaffen.
Ungewöhnlich für einen ersten problemorientierten Zwischenbericht sind die Handlungsempfehlungen. In einem Punkt sind sie so präzise, als läge bereits ein Endbericht vor: Ausdrücklich begrüßt wird der Beschluß der Innenministerkonferenz vom 6. Juni 1997, die Scientology-Organisation durch das Bundesamt bzw. die Landesämter für Verfassungsschutz beobachten zu lassen.
Damit wird zum erstenmal in der Republik eine sich als Kirche verstehende Gruppierung, die keinesfalls nur konspirativ arbeitet, mit Mitteln der politischen Extremismusbekämpfung angegangen. Und zwar nicht nur auf ein Jahr begrenzt, wie bisweilen verlautbart. Die Verfassungsschutzämter haben die Aufgabe erhalten, alles öffentliche Material über die Scientologen zusammenzufassen und aufzuarbeiten. Zum Beobachtungsszenario zählt weiter die Observation von Mitgliedern und Kontaktpersonen, die Einschleusung von Mitarbeitern des Verfassungsschutzes in die Organisation, auch die Telefonüberwachung nach dem G-10-Gesetz, der Besuch von Veranstaltungen, Notieren der maßgeblichen Personen und von deren Reden. Was soll mit solchen Methoden mehr erreicht werden, als dies die Analyse öffentlich zugänglichen Materials inklusive zahlreicher Aussteigerberichte zuläßt? Die Antwort der Verfassungsschützer ist klar: Mitgliederlisten, mit denen sich die Mitgliederzahl und gesellschaftliche bzw. berufliche Positionierung der Mitglieder nachvollziehen läßt.
Hat der Verfassungsschutz jedoch solche Daten, dann gerät er mit der von ihm selbst gerne so gesehenen (Schönwetter-)Rolle eines politischen Frühwarnsystems in Konflikt. Was nützen diese Daten, wenn sie nicht administrativer Nutzung zugeführt werden? Im bundesrepublikanischen Sicherheitskalkül dürfte es als undenkbar erscheinen, wenn ein Polizeibeamter oder Richter, schlimmer noch Lehrer, Mitglied der Scientology-Organisation ist. Bayern exerziert es schon vor: Dort müssen seit Sommer 1997 die Bewerber um Stellen im öffentlichen Dienst angeben, wenn sie Mitglied der Scientology-Organisation sind.
Betroffen ist eine Organisation, die deshalb so große Beachtung findet, weil deren Erfolgsversprechen so gut in eine leistungs- und erfolgsorientierte Gesellschaft wie die unsere passen und die nach allen bisherigen gutachterlichen Berichten nicht bzw. nur marginal in strafrechtlicher und schon gar nicht in gewalttätiger Weise (etwa wie islamische Fundamentalisten) in Erscheinung getreten ist. Zum heutigen Zeitpunkt ist die Frage, ob Straftaten auch von Scientologen begangen worden oder aber Straftaten der Organisation als deren Handlungsprofil zuzuweisen sind, nur im ersteren Sinne zu beantworten. Dieser Befund sollte nicht beschönigen, daß die Scientology-Organisation ein in jedem Fall zu bekämpfendes Modell individueller und gesellschaftlicher Freiheit propagiert und für solcherart Leistungsversprechen anfällige Personen in persönliche und wirtschaftliche Abhängigkeit zu geraten vermögen.
Wo aber ist die Grenze? Wird die Scientology-Organisation einziges Beobachtungsobjekt aus dem religiösen, esoterischen Bereich bleiben? Was ist mit dem „Universellen Leben“ der Gabriele Wittek, der hier in der Bundesrepublik mehr Mitglieder zugesprochen werden als der Scientology-Organisation mit den immer wieder kolportierten 5000 Mitgliedern? Was ist mit der doch kleinen Ordensgemeinschaft Fiat-Lux, die sich wegen angeblicher strafrechtlicher Verfehlungen (mit anschließenden Freisprüchen) öfter in der Presse fand? Bevor hier mit dem Verrufs- und Verbotshammer geschwungen und geschlagen wird, sollte ein auf die Besonderheiten im religiösen und Psychosektenbereich zugeschnittenes Verbraucherschutzgesetz (in der Fachdiskussion auch Lebenshilfegesetz genannt) Verstrickungen meistern helfen.
Mit dem Beschluß vom 6. Juni 1997 haben die Innenminister der Republik einen Weg beschritten, der nach Inquisition riecht und das offene Mißtrauen konturiert, das die herrschende Politik in die Fähigkeit der Bürger und Bürgerinnen zur Auseinandersetzung mit durchaus zweifelhaften Errungenschaften der Geistesfreiheit hat.