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Meinungs­frei­heit im Internet

Netzbürger in den Schranken des Presserechts

In: Grundrechte-Report 1999, Seiten 78 – 84

Im Herbst des Jahres 1998 waren nach den Erhebungen des Statistischen Bundesamtes etwa drei Millionen deutsche Haushalte an das Internet angeschlossen. Diese Minderheit von acht Prozent der Bevölkerung kommt damit jedoch keineswegs in den Genuß jener weltweiten, freien und lediglich durch technische Bedingungen begrenzten Kommunikation, von der vorwiegend amerikanische Vorkämpfer dieses Mediums seit Jahren sprechen. Eine ganze Reihe neuer, eigens für das Internet eingeführter Gesetzesvorschriften und Gerichtsurteile beschränken den freien Datenverkehr in Deutschland so sehr, daß heute in den USA die „german angst“ vor dem Internet zu einem festen Schlagwort geworden ist.

Eine neue Art von Öffent­lich­keit 

Gemeint ist damit die Angst davor, daß jede Person mit dem Zugang zum Internet ihre Meinung dort nicht nur privat äußern, sondern in einem bisher unbekannten Maße wirksam und öffentlich verbreiten kann. Die Chance, nicht nur unabhängig von staatlichen Vorschriften, sondern auch von den wirtschaftlichen Interessen von Verlagen oder Sendeanstalten die eigene Meinung zu publizieren, bieten bis zu einem gewissen Grade auch private Homepages im sogenannten World Wide Web, noch wichtiger in dieser Hinsicht sind indessen die sogenannten Newsgroups und Mailinglisten. Das eine sind frei zugängliche Diskussionsforen, das andere geschlossene Benutzergruppen, deren registrierte Mitglieder per E-Mail miteinander diskutieren. Der technische Aufwand, an solchen Foren teilzunehmen und sie mit eigenen Beiträgen zu beliefern, ist außerordentlich gering, anders als im Falle der eigenen Website sind besondere Fachkenntnisse nicht erforderlich.

Vor allem die Newsgroups haben das Interesse deutscher Staatsanwälte und des deutschen Gesetzgebers auf sich gezogen. Während etwa in Frankreich der Staat seinen Bürgern schlicht verbietet, ihren privaten Datenverkehr abhörsicher zu verschlüsseln, weckt in Deutschland eher das Gegenteil den Verdacht der Polizei: die Nutzung des Internets als öffentliche Plattform. Zwar hat das Innenministerium der christlich-liberalen Koalition wiederholt eine Regelung für kryptographische Verfahren eingefordert, die einen Lauschangriff auch auf den elektronischen Briefverkehr ermöglicht, aber vor allem am Widerstand der Privatwirtschaft sind solche Pläne bislang gescheitert. Wer das Internet als Medium seiner Meinungsäußerung betrachtet und benutzen will, wird seine Botschaften gerade nicht verschlüsseln. Solche Verfahren sind selbst in geschlossenen Mailinglisten kaum anwendbar, und erst recht leben offene Newsgroups davon, daß dort alles von allen ungehindert nicht nur gesagt, sondern auch gelesen werden kann.

Unbestritten gehören dazu auch Bilder und Dokumente, die in allen oder einigen Staaten als illegal gelten. Sie können in Newsgroups mit niedrigem Risiko anonym verbreitet werden. Ihr Anteil an dem gesamten, weltweit kaum noch quantifizierbaren Aufkommen an Beiträgen zu solchen Diskussionsforen ist jedoch verschwindend gering. Wer sie nicht sucht, wird davon nicht belästigt, und der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten hat 1996 in seinem Urteil gegen den sogenannten Communications Decency Act festgestellt, das Internet sei deutlich weniger „invasiv“ als etwa Fernsehen oder Rundfunk.

Grenzen der neuen Freiheit 

In Deutschland jedoch hat schon die bloße Möglichkeit einer solchen Straftat bereits Ende 1995 die Staatsanwaltschaft München auf den Plan gerufen. Ihre Beamten haben die Geschäftsräume der damaligen deutschen Tochtergesellschaft des amerikanischen Onlinedienstes CompuServe aufgesucht und den Geschäftsführer Felix Somm darauf hingewiesen, daß in solchen, auch bei CompuServe gespeicherten Newsgroups nach deutschem Recht strafbare Dokumente verbreitet werden, nämlich Kinder- und Tierpornographie. Die Ermittler teilten Somm mit, er habe mit strafrechtlichen Konsequenzen zu rechnen, falls dieses Material weiter zugänglich bleibe. Umgehend löschte CompuServe danach über 200 Diskussionsforen, nämlich alle, die schon im Titel das Wort „sex“ enthielten, und erntete damit weltweit scharfe Kritik. Die Staatsanwaltschaft erhob dennoch Anklage, unter anderem wegen Verbreitung verbotener Pornographie und gleichfalls verbotener, gewaltverherrlichender Spiele. Am 28. Mai 1998 schließlich verurteilte das Münchener Amtsgericht Felix Somm, inzwischen als privater Unternehmer tätig, zu zwei Jahren Haft auf Bewährung und zu einer Geldstrafe von 100 000 Mark.

Die Staatsanwaltschaft hatte ihre Tatvorwürfe im Laufe des Verfahrens zurückgezogen und am Ende selbst auf Freispruch plädiert. Gleichwohl sah es das Gericht als erwiesen an, daß der Angeklagte illegales Material allein dadurch verbreitet habe, daß er privaten Kunden einen Zugang zu Dokumenten aus dem Internet vermittelte. Es konnte sich dabei auf ein neues Gesetzespaket stützen, das im Sommer 1998 auch vom Bundesrat verabschiedet wurde: das abkürzend oft „Multimediagesetz“ genannte „Informations- und Kommunikationsdienstegesetz“ (IuKDG).

Multi­me­dia­ge­setz und Medien­staats­ver­trag

Zusammen mit einem in derselben Zeit geschlossenen neuen Medien-Staatsvertrag der Bundesländer versucht dieses Gesetz auf indirektem Wege, die private Nutzung des Internet dem bisher für traditionelle Medien geltenden Rechtsnormen anzupassen. Das IuKDG erreicht dieses Ziel, indem es die Haftung von Firmen definiert, die Internet-Dienstleistungen anbieten. Der einschlägige Paragraph 5 unterscheidet zwischen Inhalten, die von solchen Firmen selbst produziert werden, Inhalten, die von ihnen nur „zur Nutzung bereitgehalten“ werden, und schließlich denjenigen Inhalten, die den Kunden allein dadurch zugänglich werden, daß sie sich über eine solche Firma ins Internet einwählen. Lediglich für diese letzte Art der Übertragung von Daten aus dem Internet sind solche Firmen von der Haftung freigestellt, allerdings müssen sie auch in diesem Fall die entsprechenden Netzadressen immer dann sperren, wenn sie Kenntnis davon haben, daß dort strafbares Material abgerufen werden kann und die Sperrung „technisch möglich“ und „zumutbar“ ist.

Von diesen, zunächst künstlich erscheinenden Unterscheidungen sind nun ganz besonders die Newsgroups betroffen. Aus technischen Gründen werden sie auf sehr vielen Knotenpunkten des Netzes gespeichert, typischerweise von eben den Firmen, die Privatkunden den Zugang zum Internet vermitteln. Newsgroups sind im Sinne des IuKDG „Inhalte“, die „zur Nutzung bereitgehalten“ werden, damit sind die Firmen in vollem Umfang für ihren Inhalt haftbar. Sie, die eigentlich nur eine kommerzielle Dienstleistung anbieten, müssen kontrollieren, was ihre Kunden in solchen Foren lesen und vielleicht auch selbst verbreiten, wenn sie sich nicht selbst der Gefahr aussetzen wollen, straffällig zu werden.

Die Unterscheidung der Art und Weise, Inhalte aus dem Internet zugänglich zu machen, ist für sich allein schon verhängnisvoll für die freie Meinungsäußerung. Sie sanktioniert just den Bereich des Internet, der in einem amerikanischen Gerichtsurteil in dieser Sache als besonders schutzwürdig betrachtet worden ist: Der Bundesrichter in Philadephia, Dalzell, wies in seiner Ablehnung des Communication Decency Act im Juni 1996 darauf hin, daß die „niedrige Zugangsschwelle“ solcher Diskussions- und Publikationsforen ein heilsames Gegengewicht gegen die wirtschaftliche Übermacht der Medienindustrie darstellte. Der Staat dürfe diese neue Möglichkeit der privaten Meinungsäußerung deshalb nicht durch Strafandrohungen etwa gegen Obszönität oder politischen Extremismus beschränken, seine Aufgabe sei es im Gegenteil, sie nicht zuletzt gegen wirtschaftliche Interessen zu verteidigen.

Doch nichts lag dem deutschen Gesetzgeber ferner als solche Gedanken. Im Medienstaatsvertrag haben sich die Bundesländer noch über das IuKDG hinausgehend ein eigenes Kontrollrecht über das Internet zugeschrieben. Sie unterscheiden zwischen einer bloß „individuellen“ Übermittlung von Daten und „an die Allgemeinheit gerichteten Informations- und Kommunikationsdiensten“. Lediglich die individuelle Datenübertragung (etwa von Briefen an einen einzigen Empfänger) ist von den Vorschriften des Vertrages ausgenommen, für alle anderen Nutzungsarten des Internet gelten Normen, die weitgehend aus dem Presserecht übernommen sind.

Überdeutlich ist in diesen Formulierungen das Bemühen zu erkennen, die neue Freiheitsdimension des Internet entweder gänzlich zu ignorieren oder wenigstens so zu interpretieren, daß sie von Privatpersonen nicht mehr wirksam genutzt werden kann. Denn bereits ein Beitrag an eine Mailingliste ist im Sinne des Staatsvertrages keine individuelle Datenübertragung mehr, er richtet sich an die wenn auch beschränkte Öffentlichkeit der Liste. Noch viel weniger gilt das Freistellungskriterium für einen Beitrag an ein offenes Internetforum. Er kann weltweit gelesen werden und ist deshalb in geradezu emphatischen Sinne an die Allgemeinheit gerichtet. Trotzdem ist eine persönliche, möglicherweise extreme, minoritäre Meinung, die der ganzen Welt mitgeteilt wird, kein journalistisches Produkt, für das sinnvollerweise die Sorgfaltspflichten von Redaktionen und Verlagen gelten können, denn selbstverständlich sind zum Beispiel auch unbelegte Vermutungen, die keine Zeitung druckte, von der grundgesetzlichen Meinungsfreiheit geschützt. Sie widersprechen lediglich dem Presserecht, das immer enger sein muß als das Grundrecht der Meinungsfreiheit.

Der Netzbürger ist verdächtig

Nimmt man IuKDG und Medienstaatsvertrag zusammen, bleibt nicht mehr viel übrig von der neuen Bürgerfreiheit, die das Internet zu versprechen schien. Wer im Netz laut und deutlich eine unpopuläre, in bedeutsamem Sinne abweichende Meinung verbreitet, steht in der Gefahr, mit dem jeweils geltenden Presserecht seines Bundeslandes in Konflikt zu geraten. Er kann theoretisch sogar gezwungen zu werden, Gegendarstellungen zu veröffentlichen.

Die Firma nun, die einem solchen, auffällig aktiven Nutzer den Zugang zum Netz verschafft, wird sich diesen Kunden hinfort sehr genau ansehen, nicht weil sie das will, sondern weil sie es muß. Er benutzt zwar nur ihre technischen Anlagen, aber das Gesetz zwingt dazu, in diesem Fall auch den Inhalt der Dateien zu betrachten, die er abruft oder selbst beisteuert. Direkte Zensur ist dem deutschen Staat von Verfassung wegen verwehrt. Mit dem IuKDG und dem Medienstaatsvertrag aber haben Bund und Länder den Generalverdacht gegen jeden Bürger im Netz zum Gesetz erhoben, sie haben nicht sein Recht geregelt, sich dieses weltweiten Informationssystems frei zu bedienen, sie haben ihn mit dem Medienstaatsvertrag unter sachfremde, berufsspezifische Vorschriften gestellt und mit dem IuKDG obendrein privaten, profitorientierten Firmen eine Aufsichtsrolle zugewiesen, die sie nie haben wollten und in einem Rechtsstaat auch nicht haben sollten. Im Zweifel nämlich müssen sie zugunsten ihrer wirtschaftlichen Existenz gegen die Meinungsfreiheit ihrer Kunden entscheiden. Nicht zuletzt sie haben deshalb das Urteil gegen Felix Somm als Rückfall in die Rechtsunsicherheit empfunden, die mit den neuen Gesetzen überwunden werden sollte. 

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