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Religi­ons­frei­heit für Muslime?

Die Kopftuchdebatte im „Fall Ludin“

In: Grundrechte-Report 1999, Seiten 72 – 77

In der Bundesrepublik leben derzeit rund drei Millionen Muslime. Die meisten von ihnen sind in einer zweifachen Minderheitenposition: zum einen als Angehörige des Islam, der keinen den christlichen Kirchen gleichgestellten rechtlichen und gesellschaftlichen Status hat, und zum anderen als Nicht-EU-Angehörige, die auch unter den Ausländern in Deutschland einen minderprivilegierten Status haben. Diese beiden Faktoren sowie ein fast ausschließlich an extremistischen Erscheinungsformen in einzelnen islamischen Staaten orientiertes negatives Bild von einem fundamentalistischen Islam führen dazu, daß in der bundesdeutschen Öffentlichkeit von Muslimen vorgebrachte Anliegen immer unter dem Aspekt der Integrationsfähigkeit und der Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz diskutiert werden. Ein Beispiel hierfür wäre etwa die Kritik an der Anerkennung der Islamischen Föderation Berlin als Religionsgemeinschaft mit der Berechtigung, islamische Religion als reguläres Unterrichtsfach an öffentlichen Schulen zu unterrichten (vgl. „Allahs Einzug ins Klassenzimmer“, Süddeutsche Zeitung, 6.11.1998). 

Das Kopftuch als politisches Symbol?

Bekennende Muslime sehen sich immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert, daß ihre religiösen Ausdrucksformen auch politischen Charakter hätten und sich nicht mit dem säkularen Prinzip der Bundesrepublik vereinbaren ließen. Das von einigen muslimischen Frauen und Mädchen getragene Kopftuch hat sich dabei zum unerschöpflichen Objekt kontroverser Diskussionen entwickelt. Was das Kopftuch von Schülerinnen anbelangt, so unterliegt dies eindeutig der Religionsfreiheit und kann von Lehrern und Schulleitern als Ausdruck eines persönlichen Bekenntnisses der Schülerin nicht verboten werden (Füssel 1994). Das Recht, ihr Bekenntnis in ihrer Kleidung zum Ausdruck zu bringen, ist für die Schülerinnen also in der Theorie juristisch abgesichert, auch wenn einzelne Schulleiter und Lehrer diesbezüglich Verbote aussprechen.

Was aber, wenn eine Lehrerin dieses in Deutschland so umstrittene Symbol Kopftuch tragen will? Mit dieser Frage beschäftigte sich das baden-württembergische Kultusministerium im vergangenen Sommer anläßlich des Begehrens einer kopftuchtragenden Referendarin, nach erfolgreichem Abschluß ihres Referendariats in den Schuldienst übernommen zu werden. Der fall, nach der jungen Lehramtsanwärterin als „Fall Ludin“ benannt, löste eine bundesweit und sehr emotional geführte öffentliche Kontroverse aus. Er verdeutlicht das Spannungsfeld zwischen Religionsfreiheit und dem Verständnis von Integration, das an die muslimischen Neubürger von Teilen der Mehrheitsgesellschaft herangetragen wird. Seine Behandlung offenbart auch den problematischen Umgang mit sichtbaren religiösen Symbolen anderer als der christlichen Religionen im öffentlichen Raum.

Kopftuch und „Vorbild­funk­tion“ 

Worum ging es konkret? Fereshta Ludin, eine 24jährige deutsche Staatsbürgerin afghanischer Herkunft, hatte bereits bei der Suche nach einer Referendariatsstelle nach erfolgreichem Abschluß ihres Lehramtsstudiums an der Pädagogischen Hochschule in Schwäbisch Gmünd Anfang 1997 mit Vorbehalten aufgrund ihres Kopftuches zu kämpfen. Die zuständigen Schulleiter befürchteten unter anderem, daß die muslimischen Schülerinnen sich an der Lehrerin ein Vorbild nehmen und etwa die Teilnahme am Schwimm- oder Sportunterricht verweigern würden. Das Kultusministerium gab den Schulleitern zunächst mit der Begründung recht, das Kopftuch sei eine äußerliche Demonstration des Glaubens und somit etwa zu vergleichen mit Partei-Werbebuttons, deren Tragen ebenfalls verboten sei. Nur das christliche Symbol des Kreuzes sei von diesem Verbot, für weltanschauliche Dinge zu werben, ausgenommen, da die Erziehung gemäß Gesetz auf christlicher Nächstenliebe und abendländischen Grundwerten basiere (Schwäbische Donauzeitung, 7.2.1997). Dieser Begründung hielt Frau Ludin entgegen, daß sie die Forderung, ihr Kopftuch abzulegen, als „Entwürdigung“ empfinde und es keineswegs als Mittel für eine weltanschauliche Werbung trage, sondern als „Teil ihrer Persönlichkeit“; es gehe ihr nicht um die Außenwirkung. Sie berief sich dabei auf den Islam, der das Tragen des Kopftuches festlege. Bevor F. Ludin ihre Klage, die auch vom Verband Bildung und Erziehung (VBE) Baden-Württemberg unterstützt wurde, beim Verwaltungsgericht einreichen konnte, lenkte das Kultusministerium ein: Mit Verweis auf das Monopol des Staates in der Lehramtsausbildung wurde F. Ludin die Zulassung zum Schuldienst für die Dauer des Referendariats ermöglicht.

Ein Symbol der Abgrenzung?

Im Juli 1998 aber, nach Abschluß der Ausbildung, wurde ihr die Übernahme in den Schuldienst aufgrund ihres Kopftuches verweigert. Die Presseerklärung des Kultusministeriums vom 13. Juli 1998 führte zur Begründung an, die Entscheidung sei in einer Abwägung der Rechte und Pflichten von Frau Ludin als Lehrerin an einer öffentlichen Schule und der Belange der Schülerinnen und Schüler sowie ihrer Erziehungsberechtigen getroffen worden. Berücksichtigt wurde vor allem die „Vorbildfunktion, die sie als Repräsentantin des Staates innehat“, und „die innerislamische Diskussion um die Bedeutung des Kopftuches“. Ministerin Schavan stellte unter Bezugnahme auf solche Diskussionen fest, daß „eine Mehrheit muslimischer Frauen weltweit kein Kopftuch trägt“ und daß auch innerislamisch das Kopftuch „als Symbol der kulturellen Abgrenzung und damit als politisches Symbol gewertet“ werde. Im Tragen eines religiösen Symbols, das auch als politisches vereinnahmt werden könnte, sah sie die gegenseitige Toleranz und den sozialen Frieden gefährdet. Die Wirkung, die von dem Symbol auf andere Mitglieder der eigenen wie anderer Religionsgemeinschaften ausgeht, müsse bedacht werden. Schavan spielte hier auf die negative Religionsfreiheit der Schülerinnen an, die garantiert sein müsse (die tageszeitung, 14.7.1998), d.h. den Schutz der muslimischen Mädchen aus Familien, in denen bislang kein Kopftuch getragen wurde.

Ihre Entscheidung möchte Schavan selbst daher verstanden wissen „als Signal an Männer und Väter, daß keine Frau und keine Tochter mehr gezwungen wird, ein Kopftuch als Symbol der kulturellen Ausgrenzung zu tragen“ (Badische Nachrichten, 14.7.1998). Gleichzeitig wurde betont, daß es sich um eine Einzelfallentscheidung handle – ein generelles Kopftuchverbot an Schulen und Hochschulen sei „aller Voraussetzung nach verfassungswidrig“ (Rheinische Post, 14.7. 1998). Diese Argumentation wurde von einer breiten Landtagsmehrheit, die die Partei der Republikaner ebenso umfaßte wie die der Grünen, im Wesentlichen mitgetragen.

Am Beispiel F. Ludin wird deutlich, daß es den politischen Entscheidungsträgern nicht allgemein um die Bekenntnisneutralität des Raumes Schule geht, sondern daß das spezifische Symbol Kopftuch einer kritischen Begutachtung unterzogen wird. Dieser Bewertung zufolge werden Frauen entweder von Männern zum Tragen des Kopftuches „gezwungen“ oder haben sich davon „befreit“; eine Entscheidung „dafür“ kann in dieser Logik nur als Bekenntnis zur Unterdrückung der Frau durch den Mann gewertet werden. Im Umkehrschluß wird das Nicht-Tragen als Akt der „Befreiung“ und somit als aktiver „Bekenntnisschritt“ gegen die (islamische) Frauenunterdrückung und für die (christlich-abendländische) Gleichberechtigung der Frau. Eine solche Bewertung religiöser Symbole jedoch steht dem religionsneutralen Staat gesetzlich nicht zu; er beschneidet damit die Religionsfreiheit für Muslime (und trägt durch eine staatliche Bewertung des Tragens bzw. Nicht-Tragens des Kopftuches zu dessen ideologischer Aufladung bei).

Integration oder Assimi­la­tion?  

Der „Fall Ludin“ zeigt, daß sich die Integrationsbereitschaft offenbar in erster Linie an äußerer Assimilation erweist und nicht an sprachlichen, beruflichen und anderen Qualifikationen, mit denen die Zuwanderer sich in die Gesellschaft einbringen. Die baden-württembergische Entscheidung in Sachen Kopftuch wird in ihrer Schärfe nicht von allen Bundesländern unterstützt; so sprach sich die nordrhein-westfälische Bildungsministerin Behler im Juli 1998 für einen „behutsameren Umgang mit religiösen Überzeugungen im Zusammenhang mit Fragen des Dienstrechts“ aus. In der Praxis heißt dies, daß es in NRW im Ermessensspielraum des jeweiligen Schulleiters bzw. der jeweiligen Schulleiterin liegt, das Kopftuch einer muslimischen Lehrerin zu tolerieren – eine einheitliche Praxis mit widersprüchlichen Signalen. So ist es etwa der Konrektorin einer Schule in Wuppertal ausdrücklich erlaubt und aus Integrationsgründen sogar erwünscht, daß sie ihr Kopftuch in der Schule trägt, während ihre Kollegin an einer benachbarten Schule ihr Kopftuch am Schultor abnehmen muss.

Die Bundesrepublik präsentiert sich heute auf dem Weg von der christlich-abendländischen Tradition zu einer multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft. Wie sichtbar andere Religionen in der christlich geprägten säkularen Bundesrepublik sein dürfen, gibt Auskunft darüber, welches Verständnis von „Religionsfreiheit“ vorherrscht. Wichtig wäre auf diesem Weg, nicht nur über die betroffenen Muslime zu reden, sondern sie an der Diskussion gleichberechtigt teilhaben zu lassen.

Literatur:

Füssel, Hans-Peter: „Multikulturelle Schule?“, in: Kritische Justiz, 27. Jg. 1994, S. 500-506.

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