Ordenstracht ja, Kopftuch nein? - Die Missachtung des Gebots der religiös-weltanschaulichen Neutralität wird fortgesetzt
Grundrechte-Report 2008, Seite 76
Das Bundesverfassungsgericht leitet das Gebot der religiös-weltanschaulichen Neutralität seit Jahrzehnten aus den Art. 4 Absatz 1, Art. 3 Absatz 3, Art. 33 Absatz 3 GG sowie Art. 140 GG mit der Übernahme von Art. 136 Absatz 1 und 4 und Art. 137 Absatz 1 Weimarer Reichsverfassung (WRV) ab. Hinzu kommt noch die uneingeschränkte Gleichstellung der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften (Art. 137 Absatz 7 WRV „Parität“). Ein starkes Fundament, sollte man meinen. So richtig im Detail definiert wurde das aber bezeichnenderweise noch nie. Es besteht jedoch unter Juristen so gut wie allgemeine theoretische Einigkeit darüber, dass unabhängig von Fragen wie offener, hereinnehmender (Schule) oder distanziert-ausschließender (unmittelbare Ausübung von Staatsmacht: Polizei, Justiz) Neutralität und von Spezialfragen stets eines unabdingbarer Kern der religiös-weltanschaulichen Neutralität ist: Immer geht es um Unparteilichkeit, um gleiche Distanz der Organe der öffentlichen Hand zu den verschiedenen religiös-weltanschaulichen Sinnsystemen. In der Praxis hält sich der Staat eher selten daran. Lang ist die Liste der Privilegierungen vor allem der großen Kirchen (massive finanzielle Subventionierung, theologische Lehrstühle, religiöse Symbole, Militärgeistliche, christliche Schule, Staat-Kirche-Verträge usw.), ohne dass man da über Neutralität nachdächte.
Neutralität nur beim Kopftuch eingefordert
Beim islamischen Lehrerinnen-Kopftuch hingegen hat man die Neutralität (wie früher schon in Bhagwan-Fällen) rigoros eingefordert. Zur Erinnerung: In seinem Urteil von 2002 hat das Bundesverwaltungsgericht (2. Senat) erklärt, religiöse und weltanschauliche Einflüsse dürfe der Staat im öffentlichen Schulwesen nicht fördern oder unterstützen, sondern müsse sie „soweit wie irgend möglich ausschalten“. Kinder, so damals das Bundesverwaltungsgericht, sind ohne staatliche Parteinahme für christliche Bekenntnisse oder andere religiös-weltanschauliche Überzeugungen zu unterrichten. Jede religiöse Einflussnahme durch Lehrer ist zu unterbinden, das islamische Lehrerinnen-Kopftuch als religiöses Symbol daher zumindest in Grund- und Hauptschulen nicht erlaubt. Mehrfach hob das Bundesverwaltungsgericht die staatliche Neutralität hervor. Das tat das Bundesverfassungsgericht in seinem heftig diskutierten Urteil von 2003 auch, hob aber dasjenige des Bundesverwaltungsgerichts deswegen auf, weil das zuständige Bundesland Baden-Württemberg keine gesetzliche Kleiderregelung hatte, sich Lehrer trotz des Neutralitätsgebots zumindest im Grundsatz auf ihre Religionsfreiheit berufen können und sämtliche Behörden- und Gerichtsinstanzen nichts Nachteiliges über den jahrelang von der Lehrerin erteilten Unterricht hatten sagen können, so dass gegen deren Rechts- und Verfassungstreue trotz Kopftuchs keine Bedenken bestünden.
Jetzt musste man sich in Baden-Württemberg etwas einfallen lassen, hatte doch das Bundesverfassungsgericht es den Ländern ausdrücklich zugestanden, nach möglichst genauer Abwägung vieler Gesichtspunkte Gesetze zu erlassen, die in religiöser Hinsicht Kleidung und Verhalten näher regeln. Es gehe dabei aber, so das Bundesverfassungsgericht, um Lehrkräfte „aller Bekenntnisse“. Ausdrücklich hieß es, eine religiös restriktive Regelung sei nur zulässig, „wenn Angehörige unterschiedlicher Religionsgemeinschaften dabei gleich behandelt werden.“ Ungewöhnlich rasch verabschiedete Baden-Württemberg am 1. April 2004 eine Änderung des Schulgesetzes, wonach Lehrer durch keinerlei „äußere Bekundungen“ die politische, religiöse oder weltanschauliche Neutralität auch nur gefährden dürfen. Dem widerspreche jedoch nicht die Erziehung in der „Ehrfurcht vor Gott“ und „im Geiste der christlichen Nächstenliebe“, wie es in der Landesverfassung (Art. 12 Absatz 1) heißt. „Christliche und abendländische Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen“ stünden mit dem gesetzlichen Verhaltensgebot in Einklang. Wenn das kein Christentumsprivileg und neutral sein soll, welchen Sinn hat dann noch die Verwendung der deutschen Sprache?
Christliche Privilegien in Baden-Württemberg vor Gericht
Unüberbietbar rasch, nämlich bereits am 24. Juni 2004, hat das Bundesverwaltungsgericht (derselbe 2. Senat, der zwei Jahre zuvor noch so starke Worte für die Neutralität gefunden hatte) entschieden, das Gesetz gehe in Ordnung, wenn man es nur richtig verstehe, und sei angeblich mit dem Kopftuchurteil des Bundesverfassungsgerichts zu vereinbaren. Unter „christlich“ sei stets nur „kulturchristlich“ zu verstehen, dann bestehe „strikte Gleichbehandlung“. Mit solcher Rabulistik beseitigt man jedes Restvertrauen in die religiös-weltanschauliche Neutralität. Direkt sagte das Bundesverwaltungsgericht allerdings nicht, Kopftücher seien in Baden-Württemberg nicht zulässig, christliche Ordenstrachten aber schon. Dabei musste es wissen, dass genau das die erklärte Absicht des Gesetzes war, wie sich aus den Gesetzesmaterialien ergibt, und entsprechend ging die Schulverwaltung vor. Korrekt entschied allerdings das Verwaltungsgericht Stuttgart am 7. Juli 2006, auch auf der Basis der neuen Gesetzesregelung gehe es nicht an, einer Lehrerin das Kopftuch zu untersagen, solange Lehrerinnen in Ordenstracht noch unterrichten dürfen. Der Baden-Württembergische Verwaltungsgerichtshof (Az. 4 S 516/07) hat (ohne Not) die Berufung dagegen zugelassen, kurz nachdem der Bayerische Verfassungsgerichtshof die der baden-württembergische Regelung ebenbürtig unklare bayerische Neuregelung vom 23. November 2004 am 15. Januar 2007 (Vf. 11-VII-05) gutgeheißen hatte. Der Ausgang des baden-württembergischen Berufungsverfahrens ist (Dezember 2007) noch offen. Eine Initiative der Landtagsfraktion der GRÜNEN von Baden-Württemberg aus dem Jahr 2006 auf Streichung des „Christenprivilegs“ aus dem Schulgesetz scheiterte.
Bayern sichert christliche Grundwerte
Auch der Bayrische Verfassungsgerichtshof behandelte 2007 die Frage, ob das zu prüfende Gesetz die Kopftücher islamischer Lehrerinnen stets verbietet und in welchem Verhältnis das zur christlichen Ordenstracht oder zu einem demonstrativ getragenen religiösen Symbol steht, wie das Gesetz nur ganz abstrakt. Das aber doch so, dass die Öffentlichkeit die Entscheidung so verstand: Kopftuch nein, Nonnentracht ja. Eindeutig ist allerdings folgende Aussage des Gerichtshofs: Auch eine religiös aussagekräftige Lehrerkleidung ist dann nicht zu beanstanden, wenn sie „mit den Grundwerten und Erziehungszielen der Verfassung“ in Einklang steht. Gerade das aber wirft die Frage nach der weltanschaulich-ideologischen Neutralität auf. Die sozusagen zwischen den Zeilen des Bayrischen Verfassungsgerichtshofes hervorlugende Nonnentracht ist ja nicht unproblematisch. Als solche ist sie nämlich durchaus geeignet, einen religiösen Einfluss auszuüben, zumal wenn (in aller Neutralität?) ein Kreuz im Klassenzimmer hängt. (Genau das hatte zwar das Bundesverfassungsgericht schon 1995 eindeutig untersagt, aber der bayerische Landtag verfügte dennoch per Gesetz, Kreuze müssten zwingend angebracht werden. Nur notfalls seien sie auf Antrag wieder zu beseitigen. Das ist etwas wesentlich anderes. Aber auch dieses Gesetz hat das Bundesverwaltungsgericht, bei inhaltlich erheblich reduzierter Widerspruchsregelung, 1998 formal gehalten, statt es für grundgesetzwidrig zu erklären.) Bei gesetzlicher Regelung der Kleiderfrage muss die christliche Ordenstracht entgegen dem Bayrischen Verfassungsgerichtshof ebenso wie das islamische Kopftuch untersagt werden, denn sie ist mit den Grundwerten der Verfassung keineswegs vereinbar: zu diesen Grundwerten gehört ja gerade auch die religiös-weltanschauliche Neutralität.
Politik und Gerichte missachten Grundgesetz
Im Ergebnis ist festzustellen: Bisher hat die Rechtsprechung bei der verfassungsrechtlichen Prüfung der religiös-weltanschaulichen Neutralität, fast schon einer langen Tradition entsprechend, in der praktischen Konsequenz weitgehend versagt. Neutralität bedeutet bei sämtlichen Fallgestaltungen schlicht Unparteilichkeit gegenüber allen religiös-weltanschaulichen Richtungen. Angesichts der Neigung der Politiker, gerade in ideologischen Fragen nach ihrem Bauch zu entscheiden, geht es nicht an, dass Gerichte durch unklare oder widersprüchliche, wenn nicht gar das Grundgesetz missachtende Argumentation alles andere als zum Rechtsfrieden und zur Rechtssicherheit beitragen. Man braucht sich daher nicht zu wundern, dass mittlerweile anlässlich der Kopftuchproblematik acht Bundesländer gesetzliche Regelungen zum Verhalten und zur Kleidung von Lehrern erlassen haben, in denen aber durchweg die Begriffe Kopftuch wie auch andere damit zusammenhängende konkret-klare Begriffe sorgfältig vermieden werden. Entgegen der Auffassung der Landesanwaltschaft hat inzwischen auch der hessische Staatsgerichtshof das entsprechende hessische Gesetz mehrheitlich gebilligt. Die Rechtsunsicherheit ist größer als zuvor. Löbliche Ausnahme ist nur die klare und neutralitätsgerechte Berliner Regelung.
Sinn der landesrechtlichen Bemühungen ist es erkennbar nicht lediglich, die Kopftücher zu verbieten, sondern vielmehr, dabei die grundgesetzwidrige christliche Dominanz im Schulwesen zu sichern (Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Nordrhein-Westfalen) oder sie doch in der Schwebe zu lassen – in aller Neutralität? Es mag in manchen Teilen des Bundesgebiets wichtig sein, die (an sich mehrdeutigen) Kopftücher wegen ihrer zunehmend islamistischen Bedeutung zu untersagen. Es untergräbt aber alle Integrationsbemühungen, wenn unser Staat dabei nicht seine eigenen Spielregeln einhält.
Literatur
BVerfGE 108, 282 = NJW 2003, 3111, U. v. 24. 9. 2003 – 2 BvR 1436/02 (Islamisches Kopftuch; differenzierende Beurteilung)
BVerwGE 109, 40 = NJW 1999, 3063, 21. 4. 1999 – 6 C 18/98: Kruzifix in der Schule (Erhebliche inhaltliche Korrektur zu BayVerfGH NJW 1997, 3157 und zum Bayerischen Kruzifix-Gesetz)
BVerwGE 116, 359 = NJW 2002, 3344, U. v. 4. 7. 2002 – 2 C 21/01 (Islamisches Kopftuch I: Generelles Kopftuchverbot bei Lehrerinnen
BVerwGE 121, 140 = NJW 2004, 3581, U. v. 24. 6. 2004 – 2 C 45/03 (Islamisches Kopftuch II: gesetzliche Regelung in Ba-Wü rechtmäßig; Kopftuchverbot)
BayVerfGH, U. v. 15. 1. 2007 (Vf. 11-VII-05), www.bayern.verfassungsgerichtshof.de
Staatsgerichtshof des Landes Hessen, Urteil vom 10.12.2007 – P.St 2016
Czermak, Gerhard, Das islamische Kopftuch im rechtlichen und politisch-gesellschaftlichen Zusammenhang. Hinweise zu deutschen Paradoxien, in: http://fowid.de/fileadmin/textarchiv/Islamisches_Kopftuch_Gerhard_Czermak_TA-2007-3.pdf
Czermak, Gerhard, Religions- und Weltanschauungsrecht (Lehrbuch), Berlin/Heidelberg 2008 (§ 10 zum Neutralitätsgebot)