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Zensus 2011: Ist die Verwaltung im 21. Jahrhundert noch auf eine Totale­r­fas­sung angewiesen?

Grundrechte-Report 2011, Seiten 50 – 53

Das Statistische Bundesamt bewirbt den Zensus 2011 mit den Worten »Volkszählung war gestern – Zensus ist morgen«. Zensus und Volkszählung sind jedoch Begriffe, die synonym gebraucht werden. Die Verordnung (EG) Nr. 763/2008, welche die Grundlage für den deutschen Zensus 2011 bildet, trägt den Titel »Über Volks- und Wohnungszählungen«. In dieser Verordnung ist die Kombination aus registergestützten Zählungen und Stichprobenerhebungen, wie sie 2011 in Deutschland Anwendung finden soll, lediglich als eine Art möglicher Datenerhebungen benannt. Statt aller Haushalte werden nur etwa 10 Prozent befragt. Die übrigen Daten werden durch einen Abgleich verschiedener vorhandener Register zusammengeführt. Zu diesem Zweck wird für jede Person, jede Anschrift, jedes Gebäude, jede Wohnung, jeden Haushalt von den statistischen Ämtern eine Ordnungsnummer vergeben. Die so erhobenen Informationen (Erhebungsmerkmale) können zusammen mit der Ordnungsnummer bis zu vier Jahre gespeichert werden.

Ob eine solche Totalerhebung heute noch mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung vereinbar ist, erscheint fraglich. Das Bundesverfassungsgericht sollte im Oktober 2010 über die Verfassungsmäßigkeit des Zensus 2011 entscheiden. Das Gericht wies die Klage jedoch aus Zulässigkeitsgründen ab, so dass es keiner weiteren Beurteilung der gesetzlichen Grundlage des Zensusgesetzes bedurfte.

Infor­ma­ti­o­nelle Selbst­be­stim­mung im Kontext des Zensus 2011

1983 schuf das Bundesverfassungsgericht das Grundrecht auf
informationelle Selbstbestimmung, das dem Einzelnen die Befugnis
sichern soll, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten bestimmen zu können. Anlass dieses richterlichen Schöpfungsaktes war eine ursprünglich für das Jahr 1981 vorgesehene Volkszählung, die Protest in breiten Teilen der Bevölkerung hervorrief und letztlich erst 1987 durchgeführt werden konnte. 1983 und in früheren Entscheidungen machte das Gericht stets deutlich, dass Volkszählungen tendenziell zu einer Katalogisierung des Einzelnen führen können. Der Staat habe aber keinen Anspruch darauf,
Menschen in ihrer Persönlichkeit zu kategorisieren, dies sei ein
Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht in Verbindung
mit der Menschenwürde. Eine andere Gefahr sah das Gericht
stets darin, dass auch bei der Erhebung statistischer Daten eine
soziale Etikettierung erfolgen könne, wenn zum Beispiel Befragungen
in Gefängnissen durchgeführt würden.

Diese beiden »Gefahr-Szenarien« (Kategorisierung/soziale Abstempelung) zeigen sehr deutlich das Kernproblem einer
Volkszählung. Es geht um die schwierige Frage, wie viele Informationen
ein Staat von Menschen verlangen kann. Die Grenze ist ohne Frage dann erreicht, wenn Menschen der Verwaltung nur noch als bloßes Mittel dienen, um Staatsaufgaben wahrzunehmen, und menschliche Belange keine Rolle mehr spielen. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung soll genau diese Grenze wahren und verhindern, dass sich Menschen einem Verwaltungsapparat ausgeliefert sehen, der so viele Informationen über sie erhoben hat, dass es ihnen nicht mehr
möglich erscheint, sich als freie Individuen zu verhalten.

Ist Daten­si­cher­heit gewähr­leis­tet?

Um diesen Gefahren vorzubeugen, muss bei einer Volkszählung stets besonders viel Wert auf die Datensicherheit gelegt werden. Um zu verhindern, dass eine Re-Identifizierung erfolgt, muss gewährleistet werden, dass die Daten nicht an die Verwaltung zurück übermittelt werden. Im Zensusgesetz heißt es dazu lediglich, dass bei der Datenübermittlung im Wege der Datenfernübertragung dem jeweiligen Stand der Technik entsprechende Maßnahmen zur Gewährleistung von Datenschutz und Datensicherheit zu treffen sind. Ob das funktioniert, erscheint fraglich. Bei der persönlichen Befragung müssen insgesamt
80 000 Erhebungsbeauftragte das Datengeheimnis wahren. Die
Zusammenführung der Daten muss ohne jeden Systemfehler erfolgen und gegen jede Form des Datenmissbrauchs geschützt sein. Angesichts der Menge der Daten erscheint es aber nahezu unmöglich, die technische und organisatorische Abschottung der Daten durchgehend zu gewährleisten.

Angesichts dieser Gefahren stellt sich die Frage, ob eine Totalerfassung
der Bevölkerung tatsächlich noch angemessen ist. Der Zensus 2011 in Deutschland geht sogar über die EU-Verordnung hinaus und fragt nach dem Migrationshintergrund und danach, welcher Glaubens- oder Weltanschauungsgemeinschaft die Befragten angehören. Die Nennung des Glaubensbekenntnisses erfolgt zwar auf freiwilliger Basis, doch es besteht die Gefahr, dass die Befragten dies nicht erkennen. Wenn die
Angabe freiwillig ist, ist der statistische Nutzen fraglich. Eine freiwillige Angabe kann keine zuverlässige Grundlage bilden.

Die Verwaltung muss mit Ungenau­ig­keiten leben

In der Begründung zum Zensusgesetz heißt es, dass manche Menschen sich nicht ordnungsgemäß ab- oder anmelden, so dass die Einwohnerzahlen nicht aktuell sind. Darüber hinaus sollen Zählungen in sämtlichen »Sonderbereichen«, das sind zum Beispiel Gefängnisse oder Wohnheime, stattfinden, weil es in diesen Bereichen eine hohe Fluktuation gibt. Auch angesichts dieser Begründung kommen Zweifel an dem Nutzen einer Volkszählung auf. Tatsächlich wird es immer eine Anzahl von Personen geben, die sich nicht ordnungsgemäß meldet, und eine hohe Fluktuation in den sogenannten Sonderbereichen ist zwangsläufig. Folglich muss die Verwaltung diese Abweichungen stets mit einkalkulieren, auch wenn sie genaue Angaben darüber hat, wie viele Personen genau am Stichtag der Erhebung (9. Mai 2011) in Deutschland wohnhaft waren oder sich in Sonderbereichen befanden. Darüber hinaus hat die Verwaltung aber heute sehr detaillierte Informationen über all diejenigen, die sich entsprechend der Meldegesetze registriert haben. Dass die letzte Volkszählung 23 Jahre zurückliegt, bedeutet schließlich nicht, dass in der Zwischenzeit keinerlei Daten erhoben wurden.

Bestimmte Informationen sind gewiss zur Aufgabenerfüllung der öffentlichen Verwaltung sinnvoll. Aber wäre es nicht angemessen, zur Erhebung statistischer Daten auf Stichproben zurückzugreifen? Ist es wirklich erforderlich, jeder Person eine Ordnungsnummer zu geben, wo doch bereits so viele Daten bei den Behörden vorhanden sind wie nie zuvor? Wäre es nicht besser, mit gewissen Ungenauigkeiten zu leben, um zu vermeiden, dass sich Menschen von einer Totalerfassung bedroht fühlen oder von der Sorge, sich diskriminiert zu fühlen, weil sie in einem sogenannten »Sonderbereich« leben?« Im 21. Jahrhundert hat es eine Verwaltung, die sich moderner Datenverarbeitungssysteme
bedient, nicht mehr nötig, solche Gefahren in Kauf zu nehmen, um ein paar »Karteileichen« aufzuspüren.

Literatur

Verordnung (EG) Nr. 763/2008 des Europäischen Parlaments und
des Rates vom 9. Juli 2008 über Volks- und Wohnungszählungen,
in: Amtsblatt der EU L 218 vom 13. 8. 2008, S. 14

Zensusgesetz 2011 vom 8. Juli 2009, in: Bundesgesetzblatt Teil I,
Nr. 40 v. 15. 7. 2009, S. 1781

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